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Kessel Lo, 2. November 2008: Der Wiener Circus ist das älteste
Circusunternehmen, das in Belgien reist; Ullrich Malter
gründete den Circus 1965. Sein Vater Gottfried war in den
1930er Jahren mit einer Raubtiershow in Deutschland aktiv, kam
1955 mit Frau und acht Kindern über die Niederlande nach Belgien
und gründete hier nach einiger Zeit seinen „Tiroler Circus“.
1965 verließ Ullrich dann das elterliche Geschäft, um mit seinem
eigenen „Wiener Circus“ zu reisen. Ein großer Teil des heute
eingesetzten Materials erweckt den Anschein, noch aus diesen
Tagen zu stammen. |
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Innenraum mit runder
Bühne statt Manege
Es
ist ein ganz eigener Charme einer längst vergangenen Zeit, der von
diesem Circus ausgeht. In Kessel Lo, einer Randgemeinde Leuvens,
wurde auf einem schmalen Parkplatz am Rande eines parkähnlichen
Freizeitgeländes aufgebaut. Entlang der Straße reihen sich Chapiteau,
Fassade, die wenigen Tiere in ihren Unterkünften und die
Wohnwagengespanne aneinander. Der Durchgangs-Kassenwagen mit der
großen, aufklappbaren, bemalten Fassade ist bereits sehr lange,
genauso wie der Scania-Lkw, auf der Reise und in dieser Form heute
fast nirgends mehr zu sehen. Der weißblaue Zweimaster mit der
interessanten Mastkonstruktion ist hingegen so gut wie neu. An
Stelle der Manege gibt es eine runde Bühne von etwa neun Metern
Durchmesser. An den Stirnseiten des Bühnenwagens sind die beiden
Teleskopmasten angebracht. Sind sie heruntergekurbelt, werden sie
auf die Wagenfläche geschwenkt und mitsamt den acht Quaderpoles, der
Zeltplane usw. auf diesem transportiert. Wie wir erfuhren, lässt
sich der Abbau somit in einer Stunde bewältigen. Die beiden
Rhesusaffen haben ihre Heimat in einem alten Raubtierwagen, an den
ein kleines Freigehege anschließt. Für die vier Ponys wurde ein
kleiner Zeltpavillon errichtet. Innen wirkt das Chapiteau anheimelnd
gemütlich, charmant nostalgisch. Die Farben rot und weiß bestimmen
das Bild. Rotes Chapiteaudach mit weißen Sternen, rote Logen, roter
Teppich auf der Bühne. Der Artisteneingang wird von einem Wagen, er
bietet den beiden Musikern genügend Raum, mit großer weißer Fassade
und vielen Lämpchen gebildet. Das siebenreihige Gradin ist ein
Relikt aus den Anfangstagen des Wiener Circus. Komplett aus Holz
erbaut, nötigt es seinen Nutzern ein wenig artistisches Können ab.
Die lose aufliegenden Sitzbretter sind in großen Holzzapfen nur
leicht gegen seitliches Verrutschen gesichert. Als Bodenbretter
dienen schmale, vollkommen lose liegende, an ihren Enden
überlappende, federnde Dielen. Darauf zu gehen erfordert
Balancegefühl, zumal wenn der Weg an anderen Besuchern entlang
führt. Topp und neu hingegen die Lichtanlage. Sechs Scanner hängen
in der Kuppel, und entlang des Bühnenrandes sind in dichter Folge
zahlreiche kleine Scheinwerfer installiert. Ausschließlich in der
Pause wird der rote Vorhang neben dem Artisteneingang gehoben und
gibt sein Geheimnis preis - einen wohlbestückten Restaurationswagen.
Lionel Chaves als
Clown, mit Hunden
Das
Programm bietet echten, guten Familiencircus für die ganze Familie.
Ein Mann in den besten Jahren, im dunklen Anzug, kommt mit lautem
Hallo ins Zelt, eilt entlang der Logen auf die Bühne und beginnt
sich zu schminken. So wird aus Lionel Chaves ein Clown. Dieses
Opening, vielfach praktiziert, kommt beim Publikum immer wieder an.
Zusammen mit seiner Frau präsentiert er gleich im Anschluss eine
Hundemeute. Drei große Hunde zeigen „moderne“ Tricks wie
verschiedene Sprünge und den Lauf auf einer Walze. Vier, fünf kleine
Pinscher werden dann im Stil der 1960er Jahre vorgeführt. In immer
wieder wechselnden Glitzerkostümen fahren sie Roller, schieben einen
Kinderwagen mit Kollegen besetzt oder kommen als „Tanzpaare“ auf die
Bühne. Die Resonanz des sehr zahlreichen Publikums auf, oftmals so
mutmaßt, solcherlei Anachronismus ist überwältigend. Einige Male
sehen wir Lionel Chaves in Reprisen und Entrees. Er ist ein
klassischer Clown alter Schule, der es versteht zu unterhalten, auf
seine Kosten lachen lässt und auf die Belästigung von Zuschauern
verzichten kann. Den seriösen Part in diesen Auftritten übernimmt,
wie so viele andere Aufgaben mehr, der junge Direktor - Ricky
Cannone. Er ist ein Sohn des italienischen Raubtier- und
Elefantendompteurs Riccardo Cannone, hier im Wiener Circus geboren
und aufgewachsen und immer schon, so wie ein Sohn, zur Familie von
Ullrich Malter gehörend, dessen Sohn Lucky nach schwerer Krankheit
vor fast zehn Jahren verstarb.
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Deny Chaves |
Die Jonglage von Ricky Cannone mit
Keulen und Ringen zeigt in hohem Tempo eine große Anzahl
verschiedener Muster und wird sehr sicher und routiniert gearbeitet.
Abschließend hält er kurz fünf Teller in der Luft, was in dem
kleinen Zelt und wegen der dadurch bedingten schnellen Rückkehr der
Gegenstände eine große Geschicklichkeit verlangt. Ihm ist es
vorbehalten die Kavallerie, die vier Ponys, auf der Bühne zu
dirigieren. In einer weiteren Nummer tritt er zusammen mit seiner
Schwester Natacha und seiner Frau Deny Chaves als „Magic Fantasys”
in Erscheinung. Die gängigen Großillusionen werden flott und
sympathisch geboten. Deny Chaves agiert in ihrem Soloauftritt am
Ringtrapez. |
Ricky Cannone |
Ullrich Malter,
Clownentree
Nostalgisches Flair vergangenen Tage verbreitet die Affendressur,
und wir fühlen uns an Besuche in Circus und Schaubude in unserer
Kindheit erinnert. Ullrich Malter, ein älterer Herr im roten
Samtjackett mit vielen Glitzersteinchen am Revers, führt die beiden
Rhesusaffen in aller Ruhe und Gelassenheit vor. Sie beherrschen das
früher in solchen Dressuren übliche Repertoire, so zum Beispiel
Roller, Kinderwagen und Schubkarre fahren, auf einem Schaukelpferd
reiten, balancieren, Bälle fangen, zu Bett gehen, auf den Nachttopf
gehen und am Tisch sitzend eine Mahlzeit zu sich nehmen. Sie
arbeiten ihre Tricks – wenn sie Lust haben – perfekt. Bälle zu
fangen war für einen offensichtlich nicht so angesagt in der
besuchten Vorstellung, und der junge Requisiteur, der auf Geheiß von
Herrn Malter insistierte, bekam dies auch gleich gezeigt.
Blitzschnell, laut kreischend und um sich beißend wie ein böser
Hund, trieb der kleine Affe den jungen Mann quer über die Bühne und
schlug ihn in die Flucht. Das Publikum, alle Altersschichten waren
gleichermaßen vertreten, zeigt sich begeistert von diesem inzwischen
fast komplett aus den Manegen verschwundenen Spektakel. Abschluss
des rund zweistündigen Programms ist ein großes Clownsentree. „Ein
Teller und ein Ei“ wird mit viel Hallo, Klamauk und Musik geboten. |
Ricky Cannone bittet zum kurzen Finale und bedankt sich für den
Besuch. Der Clown Lionel Chaves schminkt sich ab, wird wieder zum
Herrn in den besten Jahren, und Ricky Cannone spielt dazu „What a
wonderful World“ auf seiner Trompete. Die Lichter verlöschen, und
allmählich beginnt sich das Zelt zu leeren. Rund dreihundert
Besucher haben dieser Nachmittagsvorstellung beigewohnt und begeben
sich nun zufrieden und mit erfüllten Erwartungen auf den Heimweg,
nachdem ein jeder am Chapiteau-Ausgang vom Direktor und vom Clown
per Handschlag verabschiedet wurde. |
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Text und Fotos: Friedrich Klawiter
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