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Zirkus Charles Knie - Tour 2010
www.zirkus-charles-knie.de ; 65 Showfotos

Hannover, 13. März 2010: Angeblich soll es ja nach wie vor in Deutschland so etwas wie ein Circussterben geben. Wer dann den Zirkus Charles Knie sieht, kann sich diesbezüglich nur verwundert die Augen reiben. Hier geht es weiter steil bergauf. Während man 2009 in erster Linie ins Material investiert hat, wurde heuer das Programm ordentlich aufpoliert. Wenngleich es auch außerhalb der Manege Neuanschaffungen gibt (neues Vorzelt sowie neue Wagen für Garderobe und Seelöwen), so ist die größte Veränderung in der Show selbst zu erleben.

Die trägt den Titel „Eine Reise um den Globus in 150 Minuten“ und ist mit so gut wie komplett neuen Kostümen, einem aufgestockten Ballett (sechs Damen, zwei Herren), einer erweiterten Lichtanlage (leider u.a. mit wenig Atmosphäre-förderlichen LEDs) sowie einem teilweise neu besetzten Orchester unter der Leitung des Heilbronn-erfahrenen Volodymyr Kozachuk hinsichtlich der Ausstattung wohl einzigartig. Auch bei den Nummern selbst sind Neuerungen zu verzeichnen. Diese wurden dank der geschickten Regie des erfahrenen Louis Knie sen. so zusammengestellt, dass ein begeistertes Publikum quasi garantiert ist. In Hannover erlebte ich zum Finale von den Rängen Ovationen, Getrampel und Gejohle. Es war in etwa das, was ich in meinem Hinterkopf noch als „Barum-Seeligkeit“ abgespeichert hatte.


Ensemble, Monika Sperlich

Gleich zu Beginn gibt es ein großes, mitreißendes Zigeunerschaubild. Quasi alle Mitwirkenden sind in prächtige Kostüme gewandet, die im letzten Jahr beim niederländischen Circus Herman Renz zu bewundern waren. Feurige Musik, stimmige Choreographien und kleine artistische Einlagen sorgen für einen fulminanten Einstieg voller Lebensfreude. Die Nistorovs jonglieren mit Fackeln, Andre Riedesel – gerade noch hat er das Publikum begrüßt – spielt mit dem Feuer, eine Seiltänzerin (Virgilia Riedesel) sowie Georgia Riedesel an Tüchern zeigen ihre Künste. Die Geschwister Dany und Denisa Stipka schließen mit ihrem bekannten Pas de deux auf zwei stattlichen Friesenhengsten an dieses Bild an. Versace hat in diesem Jahr weniger Auftritte. Der erste davon ist das Spiel mit drei vermeintlichen Stoffelefanten. Eigentlich hätten jetzt die beiden Elefantendamen von Corty Althoff ihren Auftritt haben sollen. Da deren Verpflichtung aber kurzfristig nicht zustande gekommen ist, geht es mit einem großen indisch/orientalischen Schaubild weiter. Die Damen des Balletts tanzen als prächtige Tempeltänzerinnen in aufwendigen Kostümen (allesamt von einer Düsseldorfer Schneiderin nach Ideen des Charles Knie-Teams gefertigt) mit extralangen Fingernägeln – Bollywood lässt grüßen. Monika Sperlich wird in einer Sänfte hereingetragen. Die beiden Tänzer helfen ihr beim Ablegen des imposanten Mantels mit Pfauenmotiv. Als Wüstenschönheit bewegt sie die Hula Hoop-Reifen um ihren Körper. Wenngleich die Nummer von der Aufmachung her an jene von Yelena Larkina erinnert, arbeitet Monika Sperlich nach wie vor einen flotten Stil. Marek Jama präsentiert die bekannten Exoten des Hauses. Will heißen, nacheinander zeigen vier Zebras, vier Kamele, ein Känguru, vier Rinder und sechs Lamas unter der Leitung des polnischen Tierlehrers ihr Können. Entgegen anders lautender Meldungen, werden in diesem Jahr keine Tiere aus dieser Gruppe zum Circus Herman Renz gehen.


Marek Jama, Dany Stipka

Einzige „Verlierer“, wenn man sie überhaupt so bezeichnen mag, der neuen Programmlinie sind die Mairen Brothers. Sie müssen auf die gewohnte Einleitung durch das Ballett verzichten. Das stecken Maik und Rene Sperlich aber ganz cool weg, wenn sie mit ihrem Trike in die Manege düsen, um darauf ihre bekannte Equilibristik zu zeigen. Von den Damen des Balletts als Spanierinnen in stimmigen rot-schwarzen Kleidern werden die sechs neuen Friesen zu Ravels Bolero in die Manege geführt. In den vergangenen Monaten von Elmar Kretz dressiert, zeigen sie nun ihr Debüt in der Circusmanege. Zunächst umtanzen Frauen und Pferde Marek Jama im Zentrum der Szenerie, dann beginnt die eigentliche Dressurvorführung. Teilweise merkt man den Tieren die Nervosität noch an, etwa wenn einer der Friesen sich partout nicht drehend aus der Manege verabschieden will. Dennoch laufen die Tricks insgesamt schon gut ab, das Bild mit den stattliche Vierbeinern ist ohnehin eine wahre Augenweide. Fortgeführt wird dieses spanische Bild durch die ebenfalls auf Friesen gerittene Hohe Schule der Geschwister Stipka. Das Ballett wirkt auch hier mit. Damit nicht genug des equestrischen Genusses, abschließend ist der bekannte Sechserzug Araber zu erleben. Imposant hier vor allen Dingen die Steiger zum Schluss. Damit endet ein ungemein stimmungsvolles Schaubild. Das Ballett wirkt hier nicht, wie anderswo, als eher störendes Beiwerk, sondern wertet das Gesamterlebnis der Darbietungen enorm auf. Dies gilt übrigens für alle Auftritte des achtköpfigen Ensembles.


Flying Mendoca

Somit ebenfalls für die Einleitung des Flugtrapezes a la „Karneval in Rio“. Den Aufbau des Sicherheitsnetzes dafür überbrückt Versace mit seilspringenden „Freiwilligen“ aus dem Publikum. Die fünf sympathischen jungen Brasilianer der Flying Mendoca zeigen eine Nummer, die keine Wünsche offen lässt. Sämtliche Tricks, der Dreifache inklusive, werden mit traumwandlerischer Sicherheit dargeboten. Wenngleich noch Totenköpfe ihre Outfits zieren, arbeiten sie nicht mehr zu Musik aus „Fluch der Karibik“, wie noch in den vergangenen Jahren bei Pinder und Arena. Nun erklingt unter anderem Elton Johns „I'm still standing“. Der zweite Teil beginnt so, wie der erste geendet hat, mit einer echten Weltklassedarbietung. Alexander Lacey und seine Raubkatzen sind quasi Gründungsmitglieder des neuen Zirkus Charles Knie. Vier Tiger, zwei Löwinnen und Mähnenlöwe Massai zeigen ihr eindrucksvolles Repertoire. Höhepunkt ist nach wie vor, der in der Zeit bei Charles Knie in die Darbietung aufgenommene, doppelte Steigerlauf zweier Tiger. Bevor Laceys Tiere den Zentralkäfig erobern, ist dort ein Afrikaballett in, ich wiederhole mich gerne, wunderschönen Kostümen zu sehen. Quasi nach Afrika übergesiedelt sind Dany und Denisa Stipka. Ihre Arbeit an Tüchern zeigen sie jetzt im Zebra- bzw. Leoparden-Look und bereichern somit diese Station der circensischen Weltreise. Von Afrika aus geht es aufs Traumschiff, wo uns die Matrosen des Balletts in Empfang nehmen und mit zu Mona Sperlich nehmen. Diese hat die beiden Knie-Seelöwen Stefanie und Manta im Schlepptau. Alle drei machen bei der nachfolgenden Vorführung eine gute Figur. Dabei dürfte es sich aktuell um die einzige derartige Darbietung in einem deutschen Tourneecircus handeln. Mit Versace und seinen schaurigen Piraten-look-alikes verabschieden wir uns von der Seefahrt.


Iurie Basiul, Kenneth Huesca, Versace und Damian Mavriqi

Es übernimmt der kurzfristig ins Programm genommene Iurie Basiul. Eine derartig verpackte Equilibristik-Kür haben die meisten Zuschauer noch nicht gesehen. Entsprechend stark fällt die Publikumsreaktion auf die in fließende Bewegungen verpackte Akrobatik des ganz in weiß gekleideten Moldawiers aus. Die Begeisterung ist hörbar groß. Somit ist die Bühne für Knie-Rückkehrer Kenneth Huesca bereitet. Er beherrscht die selten in hiesigen Circussen gezeigte Kunst eines Bauredners. Zunächst mit drei Puppen, dann mit drei Zuschauern, die er mit netten Accessoires „verschönert“. Huesca ist sicherlich nicht der filigranste Vertreter seiner Zunft, macht aber aus seiner Show ein wahres Happning. Natürlich fordert er zum Schluss einen „Applaus für meine Gäääste“. Und den gibt es denn auch reichlich. Da wird es schwer, die Stimmung hin zum Finale noch zu steigern. Mit den Nistorovs aber gelingt dies. Das Quartett zeigt rasante Tricks auf Rollschuhen. Neu ist die Einbeziehung eines Zuschauers. Wenn dieser nach ein paar Runden mit zwei der Profis wieder mit sehr wackeligen Beinen auf der Plattform steht, trägt dies nicht nur zur Erheiterung des Publikums bei, sondern verdeutlicht die Schwierigkeit dieser Nummer. Mit dem durch Iurie Basiul, Kenneth Huesca und den Nistorovs aufgebauten Spannungsbogen wird jene eingangs beschriebene Stimmung beim Finale erzeugt. Bei diesem werden nochmal alle Register der großen Show gezogen. Mittels eines Heißluftballons steigen Versace und ein Junge im Livree (Damian Mavriqi) über der Manege auf. Während sie von oben Glitter aus ihren Händen rieseln lassen, marschieren unten die Damen des Balletts in Glitzer und Federschmuck auf. Dies ist die einzige Ballettszene, die ins Krone-eske abzudriften droht, aber es letztendlich doch nicht tut. Alle Artisten erscheinen in edlen Kostümen, weiß ist die vorherrschende Farbe. Es gibt kleine Zugaben und Andre Riedesel verabschiedet das Publikum. Vorbei ist die Show aber erst, als Versace samt Juniorpartner den unter dem inzwischen gelandeten Ballon hängenden Korb entsteigt und ebenfalls Lebewohl sagt.

So endet eine Show, die aus dem Vollen schöpft, geschickt zusammengestellt ist und den quicklebendigen Circus verkörpert. Kurzum, ein Circusprogramm, das auf ganzer Linie fasziniert und begeistert. Es lebe der Circus - Chapeau für Sascha Melnjak und sein Team!

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Text und Fotos: Stefan Gierisch