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Flic Flac - ARTgerecht 2010
www.flicflac.de


Frankfurt, 6. Mai: Nach der XXL-Produktion „No Limits“ im 100-Meter-Zelt schien es im Jahr 2009 so, als sei das Flic Flac-Konzept ausgereizt, als ob die durchschlagende Idee ausbliebe, wie es nun weitergehen könnte. Für die aktuelle Produktion „ARTgerecht“ wurde nun aber so eine Idee gefunden: Das Düstere und Dunkle, Laute und Rockige, das Flic Flac in den vergangenen Jahren kennzeichnete, wird ergänzt durch eine Komponente des Schönen: Sängerin Alexandra Gerbey schafft mit Operngesang einen wunderbaren Kontrapunkt zur Rammstein-Stimme Frank Fabrys. Die Gegensätze ergänzen sich erstaunlich gut, die arienhaften Gesangsparts geben der Show zum einen den erhofften, ganz neuen Dreh, zum anderen ist mit dem düsteren Element die Kontinuität gewahrt, gibt es keinen Bruch mit dem Vergangenen. Der Gegensatz Oper – Rammstein wird in eine durchgängig, ohne Brüche erzählte Geschichte von „Gut“ gegen „Böse“, von „Schwarz“ gegen „Weiß“ gekleidet.


Frank Fabry, Truppe Tsisov, Alexandra Gerbey

Die „Weißen“, das ist eine Gruppe von Menschen, wie es im Prolog der Show heißt, die alles Böse und Hässliche verbannt und sich zu einer harmonischen Gemeinschaft geformt hat, angeführt von Sängerin Gerbey. Die Harmonie wird schnell gestört von „Rammstein-Typ“ Fabry, der die Weißen aus ihrer „Mittelmäßigkeit befreien“ will und zeigen, dass der Schmerz nun einmal zum Leben gehört. Sämtliche Artisten werden einem der beiden Lager zugerechnet, tragen entweder ganz weiße oder schwarze Kostüme. Den "Weißen" gehören die sanften, zum Teil verträumten Auftritte, den "Schwarzen" die rockigeren, temporeicheren, schrägeren Nummern. Im Laufe der Show erkennen dann beide Seiten, dass sie doch zueinander gehören und schließen ihren Frieden. Von diesem Handlungsrahmen abgesehen, bietet „ARTgerecht“ eine zweistündige Abfolge starker Nummern und echter Highlights, die mit beeindruckendem technischem Aufwand und modernstem Licht optimal präsentiert wird. Die „Tsisovs“, silber-gekrönt in Monte Carlo, setzen das erste Ausrufezeichen mit ihrer innovativen Arbeit am beweglichen Hoch- und Schrägseil. Gearbeitet wird bei allen Tricks (unter anderem Drei-Mann-Hoch, Spagat zwischen Köpfen) ohne Longe, dafür mit Netz. Bei ihrem spektakulärsten Trick wird ein zweites Seil zwischen den zwei Plattformen gespannt, dieses wird dann von einem Artisten, der sich zwischen beide Seile klemmt, soweit hinunter gedrückt, dass die Seile auf gleicher Höhe parallel zu einander sind. Nun startet von beiden Seiten ein Zwei-Mann-Hoch, trifft sich in der Mitte und kommt trotz der langen Balancierstangen aneinander vorbei. Eine Sensation.


Tatjana Kastein, Anatoli Zhukov, Yulia Galenchyk

Sensationell ist auch der Auftritt des von Barum bekannten Wasserspeiers und Feuerschluckers Anatoli Zhukov. Wie dieser Mann zunächst zweieinhalb Liter brennbare Flüssigkeit trinkt und dann ausdauernd Flammen spuckt, versetzt die Zuschauer in ungläubiges Staunen. Hier tritt er als Rocker auf, begleitet von Larissa Kastein als kühler "Rockerbraut", was seinem Auftritt nun auch einen zeitgemäßen Look gibt. Tatjana Kasteins wundervoll schwerelose Handstandkür auf einem schräg gestellten Spiegel ist weiterhin ein außerordentliches Glanzstück und der berührendste Moment der Show. Lasziv-erotisch präsentiert sich dagegen ihre ältere Schwester Larissa beim kraftvollen „Pole Dance“, dem akrobatischen Tanz an der Stange, einer Edelversion dieser Stripteasebar-Disziplin. Zu den riskantesten Nummern im Programm gehört die, ungesichert in großer Höhe gezeigte, trickstarke Akrobatik an Netzstrapaten von Yulia Galenchyk. Später kommen noch einmal Strapaten in herkömmlicher Form zum Einsatz: Miroslav Toskov und Nicolay Dobrovolov beginnen ihre äußerst kraftvoll-ästhetische Darbietung Hand-auf-Hand am Boden und setzen ihre Kür dann in der Luft fort, unter anderem mit dem Schulter-auf-Schulter-Stand, bei dem der Obermann völlig ungesichert ist. Fantastisch. Für die weiteren Highlights sorgen Eddy Carello, der unter anderem mit Bällen auf seinem Schlagzeug jongliert und dabei Rhythmus erzeugt, und natürlich das Oktett in der Motorradkugel. Zu dritt, zu fünft und zu acht ziehen die Hasardeure aus Südamerika ihre Bahnen kreuz und quer durch die Kugel.


Steve Eleky, Bikers, Heroes 

Die Bikers sind mit zwei Darbietungen im Programm vertreten: mit ihren Sprüngen auf großen Gummireifen und mit Salti und Schrauben von der russischen Schaukel auf ein Fangkissen. Letzteres ist die Pausennummer; Flic Flac kommt in dieser Produktion nach vielen Jahren erstmals ohne Todesrad aus. Und siehe: es geht auch ohne! Der junge Artist Nicolai Kuntz zeigt, natürlich longengesichert, eine Arbeit am Schwungtrapez mit allen wesentlichen Tricks des ansonsten von Frauen dominierten Genres, darunter Fers- und Zehenhang, Pirouette, Abfaller usw. Seine Nummer gehört zu jenen Auftritten, die in ihrer Wirkung durch Livegesang noch gesteigert werden. Bei ihrem Auftritt am Vertikaltuch übernimmt Alexandra Gerbey diese Aufgabe gleich selbst: Während sie anspruchsvolle Tricks zeigt, singt sie gleichzeitig live. Beim Flugtrapez der vier „Heroes“ ist es einem der beiden männlichen Flieger vorbehalten, die drei anspruchsvollsten Sprünge zu zeigen: Doppelsalto gestreckt, Salto mit Schraube, Dreifacher, in zwei besuchten Vorstellungen jeweils fehlerfrei vorgetragen. Der zweite Herr stürzt sich zum Abschluss der Darbietung vom Zeltdach kopfüber ins Netz, eine Passage gehört jedoch nicht zum Repertoire dieser jungen Truppe. Mit den "Crazy flight juniors" präsentiert sich ein weiteres Quartett, das Handvoltigen und Hand-auf-Hand in einem durchgestylten Auftritt kombiniert. - Leistung, Leistung, Leistung bestimmt jede Nummer diesen fantastischen Programms. Das ganze Programm? Nein, da ist ja noch Steve Eleky, der Mann im Schottenrock. Beim ersten Auftritt jongliert er nur ein wenig, beim zweiten verrät er in einer Zauber-Parodie jeden Trick. Und bringt es damit fertig, zum umjubelten Star der Show zu werden. Dauerredend, permanent in sich hineinkichernd, die Illusion von Spontanität erzeugend, hat er mit seinen präzise getimten Gags das Publikum vom ersten Moment an voll im Griff – die Leute brüllen vor Lachen.

„Flic Flac“ präsentiert sich in beeindruckender Form: mit einem Programm, das in seiner Stärke europaweit zur absoluten Spitze gehört, das ideenreich in Szene gesetzt ist, mit moderner Technik optimal präsentiert wird. Und ausgerechnet jetzt soll in einem Monat in Oberhausen der letzte Vorhang fallen, Flic Flac auf unbestimmte Zeit pausieren. Wieder vergeht keine Saison, ohne dass die deutsche Circuslandschaft um ein renommiertes Unternehmen ärmer wird, um eines der europäischen Spitzenunternehmen in diesem Fall. Nicht aus wirtschaftlichen Gründen, wie immer wieder betont wird, sondern weil der kreative Kopf und Macher Benno Kastein einfach nicht mehr will. Es ist jammerschade.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Erber