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Circus Knie - Tour 2010
www.knie.ch ; 168 Showfotos

Rapperswil, 26. März 2010: Was wollte ich nicht alles schreiben: Von einem für Knie-Verhältnisse schwachen artistischen Programm, von einem Starclown, der seinen Zenit schon lange überschritten hat - kurz von einem Programm, das dem Namen Knie nicht gerecht wird. Und dann stehe ich mit rund 2.200 anderen begeisterten Zuschauern bei der Saisonpremiere in Rapperswil, um minutenlang Standing Ovations zu spenden. Die Faszination Circus, speziell die Faszination Knie hat uns alle wieder gefangen genommen. „Fascination“ heißt denn auch folgerichtig die Produktion 2010 des Schweizer Nationalcircus.

Selbst wenn man den Premierenrausch abzieht bleibt eine Show, die - wenn sie denn so dargeboten wird wie in den ersten beiden Vorstellungen – das Schweizer Publikum im Sturm erobern wird. Circuspuristen mögen das anders sehen, denn im artitsischen Part haben wir in der Tat bei Knie schon Stärkeres gesehen. Dafür gibt es heuer wieder faszinierende Tiedressuren. Die Musik ist ungeheuer fetzig, mitreißend, das Lichtdesign überaus ansprechend. Der Schwerpunkt liegt aber ganz klar auf der Sparte Humor. Diese ist mit einem Comedystar aus der französischsprachigen Schweiz und einem Fumagalli in glänzender Form vortrefflich besetzt. Wie schon in den Vorjahren wird dem in der Werbung herausgestellten Comedian ein Vertreter der klassischen Clownerie an die Seite gestellt. Bei der Premiere wurden beide in etwa gleich stark gefeiert. Zum Finale verabschieden sie sich gemeinsam Arm in Arm. Von Konkurrenz offensichtlich nichts zu spüren.


Marie-Therese Porchet und Fumagalli

Beide Spaßmacher zeichnen sich durch einen fröhlichen, direkten Stil aus. Fumagalli (und sein Bruder Daris Huesca) ist insbesondere in seiner Mimik urkomisch und glänzt mit Slapstickeinlagen. Marie-Therese Porchet (alias Joseph Gogorni) unterhält in erster Linie mit Gesang und Wortwitz. In der Tat steht das Mundwerk der resoluten Blondine im besten Alter kaum still. Beim Einlass unaufhörlich französisch parlierend, wird sie durch einen von Fredy Knie junior überreichten Zaubertrank auf einen Schlag des Schweizerdeutschen mächtig und macht sich nun daran, Königin der ganzen Schweiz zu werden. In Reprisen auf gerade Gesehens erleben wir sie auf dem Pferderücken und in „Zwiesprache“ mit einem Papagei. Als neue Kurzzeitpartnerin von Maycol Errani wird sie sogar zur „Oberfrau“ bei ikarischen Spielen. Selbst während ihrer artistischen Eskapaden findet sie noch die Zeit, das Mundwerk in Bewegung zu halten. Ihr letzter Auftritt ist der umfangreichste. Auf einer Landkarte der Schweiz zieht sie die Eigenarten der verschiedenen Regionen durch den Kakao. Die Anrainer, Deutschland inklusive („Keiner mehr da, alle in der Schweiz.“), bekommen ebenfalls ihr Fett weg. Insgesamt sind es, wenn man die Szene während des Einlasses nicht mitrechnet, sechs, häufig mit Gesangseinlagen kombinierte, Auftritte. Derer vier hat Fumagalli, unterstützt von Bruder Daris und in zwei Fällen zusätzlich von Sprechstallmeister Enrico Caroli. Bekannt sind die magische Reise eines Tuches quer durch die Manege und ihre komische Kaskadeursnummer. Die kurze Einlage mit den auf dem Kopf eines Zuschauers deponierten Handschuhen hatte ich von den beiden Huesca-Brüdern noch nicht gesehen. Definitiv neu im Fumagalli-Repertoire ist das Boxentree, welches erst einige Tage vor der Premiere in dieser Form entstanden ist und sich sicher mit der Zeit noch weiterentwickeln wird. Nach dem Aufwärmen am Punchingball geht es zu einer herrlich komischen „Ringschlacht“ ins Seilgeviert. Es fliegen die Fäuste und Fumagalli legt diverse Boxregeln zu seinen Gunsten aus. Bei einem weiteren Auftritt gesellt sich Fumagalli sogar zu Marie-Therese Porchet, aus der durch einen beherzten Griff in die Steckdose frisurentechnisch „Fumagalla“ wird. Wie gesagt, beide kommen glänzend an. Ich gehe aber davon aus, dass der aktuell noch sehr hohe Anteil komischer Nummern in Kürze reduziert wird.


Ivan Frederic Knie, Vlad Olandar, Maycol Errani

Gestärkt gegenüber dem letzten Jahr wurde glücklicherweise der Anteil der Darbietungen mit Tieren, Nachdem 2009 der komplette zweite Teil ohne Tiernummern auskommen musste, erleben wir nun wieder ein umfangreiches, hochstehendes Dressurprogramm. Leider fehlt in diesem Jahr wiederum eine Raubtiernummer. Stattdessen gibt es Stubentiger in der Knie-Manege. Vlad Olandar zeigt die anspruchsvollen Tricks seiner weißen Angorakatzen zu gewohnt flotter Musik. Beim großen Pferdebild der Familie von Fredy Knie junior wird das Können genial ergänzt von Kreativität. Es beginnt Mary-Jose Knie, die reitend ein in der Manege liegendes Pferd „erweckt“. Nachdem sie kurz ein paar Schulschritte gezeigt hat, führt sie vier Palominos vom Pferd aus vor. Ihre Tochter Geraldine übernimmt den Viererzug, ebenso viele Friesen gesellen sich dazu. Was nun abläuft, ist eine wunderschöne Freiheitsdressur. Ihren Höhepunkt erreicht sie, wenn sich aus zwei parallel bewegenden Kreisen, das jeweils letzte Pferd löst und in einen laufend entstehenden Fächer eindreht. Die da capi übernimmt Fredy Knie junior. Zur großen Überraschung ist der Reigen der Darbietungen mit edlen Rössern damit nicht zu Ende. Stehend auf zwei Pferden reitend erscheint Ivan Frederic Knie, um seine Version der Ungarischen Post zu zeigen. Dabei laufen die insgesamt sieben Vorauspferde nicht unter ihm durch, sondern es werden ihm deren lange Zügel angereicht, während sich die Vierbeiner direkt in ihrer Zielposition einreihen. Trotz dieser kleinen „Schummelei“ eine bemerkenswerte Leistung für einen Achtjährigen. Ferner ergibt sich ein schönes Bild, das der Vertreter der jüngsten Knie-Generation mit einer roten Fahne in der Hand beendet. Diese Darbietung ist bewusst nicht im Programmheft und auf der Knie-Homepage ausgewiesen, da sie nicht in allen Vorstellungen zu sehen sein wird.


Chris Rui und Franco Knie junior

Sein Debüt als Vorführer in der Manege des Schweizer Nationalcircus gibt Maycol Errani. Wie zu hören war, hat er auch an der Dressur der von ihm präsentierten Exoten einen großen Anteil. Sein assistierender Lehrmeister und Schwiegervater Fredy Knie junior jedenfalls schickt ihn nach der Präsentation sichtlich glücklich zum erneuten Kompliment. Und er kann in der Tat stolz auf seinen Schützling sein. Während es am Nachmittag noch einige Schwierigkeiten gab, läuft bei der Abendpremiere nahezu alles reibungslos. Die vier Zebras zeigen gemeinsam mit den vier prächtigen Kamelen eine variantenreiche Freiheit. Nachdem sich die Kamele an der Piste abgelegt haben und zwei Rinder hinzugekommen sind, gibt es ein großes Karussell mit insgesamt zwölf Guanacos auf zwei Bahnen. Dabei überspringen die Tiere auf der Außenbahn die abliegenden Trampeltiere. Ein großes Bild mit viel Dynamik entsteht. Abschließend beweisen die Guanacos ihre Sprungkraft. Die Vorführung der indischen Elefanten liegt nun in der Hand von Franco Knie junior. Der Vater unterstützt. Dabei wird Franco junior von seiner Frau Linna und beider Sohn Chris Rui begleitet. Vier Dickhäuter sind in diesem Jahr zu sehen. Vier weitere bleiben im Rapperswiler Kinderzoo, zwei sind zu Zuchtzwecken in Belgien. In der Vorführung sind unter anderem das Tauziehen einer Elefantendame gegen acht Herren aus dem Publikum, die Elefantenschaukel mit Linna und Tragetricks mit dem völlig unbefangen zwischen den Elefanten agierenden Chris Rui zu sehen. Sie endet mit dem Big Mount.

Damit sind wir bei der Sparte Artistik angelangt. In früheren Jahren konnte man bei Knie immer wieder (mehr oder weniger) aktuelle Clown-Gewinner aus Monte Carlo erleben. Denken wir an die Flying Vazquez, die Borzovi, Cong Tian. die White Crow oder die Fratelli Errani, welche inzwischen eng mit dem Hause Knie verbunden sind. Derartig frische gekürte Preisträger gibt es auch 2010 nicht. Artistischer Höhe- und Schlusspunkt im aktuellen Programm ist Freddy Nock (Silberner Clown 1997 mit den „White Angels“). In der Schweiz dürfte er durch seine medienwirksamen Rekorde eine gewisse Popularität erreicht haben. Seine Arbeit ist natürlich ebenfalls spektakulär. Über das Schrägseil erklimmt er das Hochseil, welches über der Manegenmitte zwischen zwei kleinen Plattformen gespannt ist.


Azzario Sisters, Bingo, Glen Nicolodi

Völlig ungesichert turnen Nock und Ramon Kathriner über den Draht. Freddy Nock hat offensichtlich großen Spaß daran, mit den Nerven der Zuschauer zu spielen. Etwa wenn er sich bei einem vermeintlichen Sturz gerade noch mit den Händen am Seil abfangen kann oder wenn er mit am Seil befestigten Schuhen ein paar Umdrehungen macht. Zu seinen Tricks gehören der Sprung durch einen Reifen und das Seilspringen. Gemeinsam mit Kathriner zeigt er einen (noch recht kurzen und wackeligen) Zwei-Mann-Hoch. Ramon Kathriner balanciert davor mit Unterstützung einer Balancierstange stehend auf einem Stuhl. Den Wirbel vor der Pause sollen die acht Herren der Tianjin Acrobatic Troup mit fliegenden Meteoren in einer modernen Choreographie zu treibender Musik erzeugen. Während sie ihre Requisiten extrem hoch in die Kuppel werfen, zeigen sie in der knappen Zeit bis zum Auffangen famose Sprungkombinationen. Dies auch auf zwei Etagen. Ihre Hände sind das wichtigste Kapital der Azzario Sisters und von Glen Nicolodi. Während die Töchter von August Jose Mitchell Hand auf Hand bzw. Kopf arbeiten, zeigt Nicolodi seine Handstände auf einer Treppe im Solo. Doch ganz alleine ist auch er nicht. Sein kleiner Hund beherrscht ebenfalls den Handstand und andere akrobatische Kabinettstückchen.


Fratelli Errani und Fratelli Huesca

Das Highlight im Bereich Artistik sind, zumindest für mich, die Fratelli Errani und Fratelli Huesca mit ihren ikarischen Spielen. Hier stimmt alles: Die grandiose Leistung, die treibende, mitreißende Musik und die Ausstrahlung der vier jugendlichen Sympathieträger, welche von Marie-Therese Porchet folgerichtig als „Spice Boys“ bezeichnet werden. Die beiden Duos messen sich in einer Art „Battle auf zwei Trinkas“ in ihrer Disziplin. Die eine Partei legt vor, die andere zieht nach oder überbietet. Dies geschieht synchron oder abwechselnd. Eine furiose Show, die ebenfalls eine gute Schlussnummer abgeben würde. Für den Power-geladenen Start zeichnet wiederum die Truppe Bingo in nun veränderter Besetzung verantwortlich. In moderner Choreographie zeigen sie direkt nach der Ouverture eine veritable kleine Circusshow mit den verschiedensten artistischen Disziplinen am Boden und in der Luft. Die Zuschauer gehen von Anfang an enorm mit. Das Opening mündet in die gewaltigen Batoude-Sprünge der Fratelli Errani und Huesca über bis zu vier Elefanten, welchen von einer hohen Rampe vor einem der Artisteneingänge aus gesprungen werden. Der Überraschungseffekt ist immens. Die Bingos sehen wir später noch einmal mit der Kontorsionistik eines punkigen Truppenmitglieds, während das Ensemble die Choreographie drumherum gestaltet. Natürlich leiten die sieben Akrobaten aus Kiew auch das Finale ein.

Die Musik dazu bilden im Wesentlichen wieder die Technoklänge (eher harmlose Kategorie), die wir aus dem vergangenen Jahr kennen. Überhaupt ist die Musik sehr fetzig und modern. Wohl auch deswegen bedeutet das Erklingen von Musik nicht zwangsläufig, dass das Orchester unter Ruslan Fil auch wirklich spielt. Geschickt wird Livemusik mit vorproduzierten Sounds gemischt. Zurück zum Finale. Dieses ist wieder sehr ausgedehnt, u.a. mit einer Pyramide, Zugaben und einem Glitzerregen. So als wollte die Show nicht zu Ende gehen. Geht sie leider aber nach über drei Stunden (inklusive Pause) dann doch. Ich hätte „Fascination“ gerne noch länger zugesehen. Denn Knie beherrscht es perfekt, Atmosphäre zu schaffen, die „große Show“ zu inszenieren.

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Text und Fotos: Stefan Gierisch