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Rapperswil, 26.
März 2010: Was wollte ich nicht alles schreiben: Von einem für
Knie-Verhältnisse schwachen artistischen Programm, von einem
Starclown, der seinen Zenit schon lange überschritten hat - kurz
von einem Programm, das dem Namen Knie nicht gerecht wird. Und
dann stehe ich mit rund 2.200 anderen begeisterten Zuschauern
bei der Saisonpremiere in Rapperswil, um minutenlang Standing
Ovations zu spenden. Die Faszination Circus, speziell die
Faszination Knie hat uns alle wieder gefangen genommen. „Fascination“
heißt denn auch folgerichtig die Produktion 2010 des Schweizer
Nationalcircus.
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Selbst wenn man den Premierenrausch abzieht bleibt eine Show,
die - wenn sie denn so dargeboten wird wie in den ersten beiden
Vorstellungen – das Schweizer Publikum im Sturm erobern wird.
Circuspuristen mögen das anders sehen, denn im artitsischen Part
haben wir in der Tat bei Knie schon Stärkeres gesehen. Dafür
gibt es heuer wieder faszinierende Tiedressuren. Die Musik ist
ungeheuer fetzig, mitreißend, das Lichtdesign überaus
ansprechend. Der Schwerpunkt liegt aber ganz klar auf der Sparte
Humor. Diese ist mit einem Comedystar aus der
französischsprachigen Schweiz und einem Fumagalli in glänzender
Form vortrefflich besetzt. Wie schon in den Vorjahren wird dem
in der Werbung herausgestellten Comedian ein Vertreter der
klassischen Clownerie an die Seite gestellt. Bei der Premiere
wurden beide in etwa gleich stark gefeiert. Zum Finale
verabschieden sie sich gemeinsam Arm in Arm. Von Konkurrenz
offensichtlich nichts zu spüren. |
Marie-Therese Porchet und Fumagalli
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Beide Spaßmacher
zeichnen sich durch einen fröhlichen, direkten Stil aus.
Fumagalli (und sein Bruder Daris Huesca) ist insbesondere in
seiner Mimik urkomisch und glänzt mit Slapstickeinlagen.
Marie-Therese Porchet (alias Joseph Gogorni) unterhält in erster
Linie mit Gesang und Wortwitz. In der Tat steht das Mundwerk der
resoluten Blondine im besten Alter kaum still. Beim Einlass
unaufhörlich französisch parlierend, wird sie durch einen von
Fredy Knie junior überreichten Zaubertrank auf einen Schlag des
Schweizerdeutschen mächtig und macht sich nun daran, Königin der
ganzen Schweiz zu werden. In Reprisen auf gerade Gesehens
erleben wir sie auf dem Pferderücken und in „Zwiesprache“ mit
einem Papagei. Als neue Kurzzeitpartnerin von Maycol Errani wird
sie sogar zur „Oberfrau“ bei ikarischen Spielen. Selbst während
ihrer artistischen Eskapaden findet sie noch die Zeit, das
Mundwerk in Bewegung zu halten. Ihr letzter Auftritt ist der
umfangreichste. Auf einer Landkarte der Schweiz zieht sie die
Eigenarten der verschiedenen Regionen durch den Kakao. Die
Anrainer, Deutschland inklusive („Keiner mehr da, alle in der
Schweiz.“), bekommen ebenfalls ihr Fett weg. Insgesamt sind es,
wenn man die Szene während des Einlasses nicht mitrechnet,
sechs, häufig mit Gesangseinlagen kombinierte, Auftritte. Derer
vier hat Fumagalli, unterstützt von Bruder Daris und in zwei
Fällen zusätzlich von Sprechstallmeister Enrico Caroli.
Bekannt sind die magische Reise eines Tuches quer durch die
Manege und ihre komische Kaskadeursnummer. Die kurze Einlage mit
den auf dem Kopf eines Zuschauers deponierten Handschuhen hatte
ich von den beiden Huesca-Brüdern noch nicht gesehen. Definitiv
neu im Fumagalli-Repertoire ist das Boxentree, welches erst
einige Tage vor der Premiere in dieser Form entstanden ist und
sich sicher mit der Zeit noch weiterentwickeln wird. Nach dem
Aufwärmen am Punchingball geht es zu einer herrlich komischen
„Ringschlacht“ ins Seilgeviert. Es fliegen die Fäuste und
Fumagalli legt diverse Boxregeln zu seinen Gunsten aus. Bei
einem weiteren Auftritt gesellt sich Fumagalli sogar zu
Marie-Therese Porchet, aus der durch einen beherzten Griff in
die Steckdose frisurentechnisch „Fumagalla“ wird. Wie gesagt,
beide kommen glänzend an. Ich gehe aber davon aus, dass der
aktuell noch sehr hohe Anteil komischer Nummern in Kürze
reduziert wird. |
Ivan Frederic Knie,
Vlad Olandar, Maycol Errani
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Gestärkt gegenüber
dem letzten Jahr wurde glücklicherweise der Anteil der
Darbietungen mit Tieren, Nachdem 2009 der komplette zweite Teil
ohne Tiernummern auskommen musste, erleben wir nun wieder ein
umfangreiches, hochstehendes Dressurprogramm. Leider fehlt in
diesem Jahr wiederum eine Raubtiernummer. Stattdessen gibt es
Stubentiger in der Knie-Manege. Vlad Olandar zeigt die
anspruchsvollen Tricks seiner weißen Angorakatzen zu gewohnt
flotter Musik. Beim großen Pferdebild der Familie von Fredy Knie
junior wird das Können genial ergänzt von Kreativität. Es
beginnt Mary-Jose Knie, die reitend ein in der Manege liegendes
Pferd „erweckt“. Nachdem sie kurz ein paar Schulschritte gezeigt
hat, führt sie vier Palominos vom Pferd aus vor. Ihre Tochter
Geraldine übernimmt den Viererzug, ebenso viele Friesen gesellen
sich dazu. Was nun abläuft, ist eine wunderschöne
Freiheitsdressur. Ihren Höhepunkt erreicht sie, wenn sich aus
zwei parallel bewegenden Kreisen, das jeweils letzte Pferd löst
und in einen laufend entstehenden Fächer eindreht. Die da capi
übernimmt Fredy Knie junior. Zur großen Überraschung ist der
Reigen der Darbietungen mit edlen Rössern damit nicht zu Ende.
Stehend auf zwei Pferden reitend erscheint Ivan Frederic Knie,
um seine Version der Ungarischen Post zu zeigen. Dabei laufen
die insgesamt sieben Vorauspferde nicht unter ihm durch, sondern
es werden ihm deren lange Zügel angereicht, während sich die
Vierbeiner direkt in ihrer Zielposition einreihen. Trotz dieser
kleinen „Schummelei“ eine bemerkenswerte Leistung für einen
Achtjährigen. Ferner ergibt sich ein schönes Bild, das der
Vertreter der jüngsten Knie-Generation mit einer roten Fahne in
der Hand beendet. Diese Darbietung ist bewusst nicht im
Programmheft und auf der Knie-Homepage ausgewiesen, da sie nicht
in allen Vorstellungen zu sehen sein wird.
Chris Rui und Franco Knie junior |
Sein Debüt als
Vorführer in der Manege des Schweizer Nationalcircus gibt
Maycol Errani. Wie zu hören war, hat er auch an der Dressur
der von ihm präsentierten Exoten einen großen Anteil. Sein
assistierender Lehrmeister und Schwiegervater Fredy Knie
junior jedenfalls schickt ihn nach der Präsentation
sichtlich glücklich zum erneuten Kompliment. Und er kann in
der Tat stolz auf seinen Schützling sein. Während es am
Nachmittag noch einige Schwierigkeiten gab, läuft bei der
Abendpremiere nahezu alles reibungslos. Die vier Zebras
zeigen gemeinsam mit den vier prächtigen Kamelen eine
variantenreiche Freiheit. Nachdem sich die Kamele an der
Piste abgelegt haben und zwei Rinder hinzugekommen sind,
gibt es ein großes Karussell mit insgesamt zwölf Guanacos
auf zwei Bahnen. Dabei überspringen die Tiere auf der
Außenbahn die abliegenden Trampeltiere. Ein großes Bild mit
viel Dynamik entsteht. Abschließend beweisen die
Guanacos ihre
Sprungkraft. Die Vorführung der indischen Elefanten liegt
nun in der Hand von Franco Knie junior. Der Vater
unterstützt. Dabei wird Franco junior von seiner Frau Linna
und beider Sohn Chris Rui begleitet. Vier Dickhäuter sind in
diesem Jahr zu sehen. Vier weitere bleiben im Rapperswiler
Kinderzoo, zwei sind zu Zuchtzwecken in Belgien. In der
Vorführung sind unter anderem das Tauziehen einer
Elefantendame gegen acht Herren aus dem Publikum, die
Elefantenschaukel mit Linna und Tragetricks mit dem völlig
unbefangen zwischen den Elefanten agierenden Chris Rui zu
sehen. Sie endet mit dem Big Mount. |
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Damit sind wir bei
der Sparte Artistik angelangt. In früheren Jahren konnte man bei
Knie immer wieder (mehr oder weniger) aktuelle Clown-Gewinner
aus Monte Carlo erleben. Denken wir an die Flying Vazquez, die
Borzovi, Cong Tian. die White Crow oder die Fratelli Errani,
welche inzwischen eng mit dem Hause Knie verbunden sind.
Derartig frische gekürte Preisträger gibt es auch 2010 nicht.
Artistischer Höhe- und Schlusspunkt im aktuellen Programm ist
Freddy Nock (Silberner Clown
1997 mit den „White Angels“). In der Schweiz dürfte er
durch seine medienwirksamen Rekorde eine gewisse Popularität
erreicht haben. Seine Arbeit ist natürlich ebenfalls
spektakulär. Über das Schrägseil erklimmt er das Hochseil,
welches über der Manegenmitte zwischen zwei kleinen Plattformen
gespannt ist.
Azzario Sisters,
Bingo, Glen Nicolodi
Völlig ungesichert
turnen Nock und Ramon Kathriner über den Draht. Freddy Nock hat
offensichtlich großen Spaß daran, mit den Nerven der Zuschauer
zu spielen. Etwa wenn er sich bei einem vermeintlichen Sturz
gerade noch mit den Händen am Seil abfangen kann oder wenn er
mit am Seil befestigten Schuhen ein paar Umdrehungen macht. Zu
seinen Tricks gehören der Sprung durch einen Reifen und das
Seilspringen. Gemeinsam mit Kathriner zeigt er einen (noch recht
kurzen und wackeligen) Zwei-Mann-Hoch. Ramon Kathriner
balanciert davor mit Unterstützung einer Balancierstange stehend
auf einem Stuhl. Den Wirbel vor der Pause sollen die acht Herren
der Tianjin Acrobatic Troup mit fliegenden Meteoren in einer
modernen Choreographie zu treibender Musik erzeugen. Während sie
ihre Requisiten extrem hoch in die Kuppel werfen, zeigen sie in
der knappen Zeit bis zum Auffangen famose Sprungkombinationen.
Dies auch auf zwei Etagen. Ihre Hände sind das wichtigste
Kapital der Azzario Sisters und von Glen Nicolodi. Während die
Töchter von August Jose Mitchell Hand auf Hand bzw. Kopf
arbeiten, zeigt Nicolodi seine Handstände auf einer Treppe im
Solo. Doch ganz alleine ist auch er nicht. Sein kleiner Hund
beherrscht ebenfalls den Handstand und andere akrobatische
Kabinettstückchen.
Fratelli Errani
und Fratelli Huesca
Das Highlight im
Bereich Artistik sind, zumindest für mich, die Fratelli Errani
und Fratelli Huesca mit ihren ikarischen Spielen. Hier stimmt
alles: Die grandiose Leistung, die treibende, mitreißende Musik
und die Ausstrahlung der vier jugendlichen Sympathieträger,
welche von Marie-Therese Porchet folgerichtig als „Spice Boys“
bezeichnet werden. Die beiden Duos messen sich in einer Art „Battle
auf zwei Trinkas“ in ihrer Disziplin. Die eine Partei legt vor,
die andere zieht nach oder überbietet. Dies geschieht synchron
oder abwechselnd. Eine furiose Show, die ebenfalls eine gute
Schlussnummer abgeben würde. Für den Power-geladenen Start
zeichnet wiederum die Truppe Bingo in nun veränderter Besetzung
verantwortlich. In moderner Choreographie zeigen sie direkt nach
der Ouverture eine veritable kleine Circusshow mit den
verschiedensten artistischen Disziplinen am Boden und in der
Luft. Die Zuschauer gehen von Anfang an enorm mit. Das Opening
mündet in die gewaltigen Batoude-Sprünge der Fratelli Errani und
Huesca über bis zu vier Elefanten, welchen von einer hohen Rampe
vor einem der Artisteneingänge aus gesprungen werden. Der
Überraschungseffekt ist immens. Die Bingos sehen wir später noch
einmal mit der Kontorsionistik eines punkigen Truppenmitglieds,
während das Ensemble die Choreographie drumherum gestaltet.
Natürlich leiten die sieben Akrobaten aus Kiew auch das Finale
ein.
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Die Musik dazu bilden im Wesentlichen wieder die Technoklänge (eher
harmlose Kategorie), die wir aus dem vergangenen Jahr kennen.
Überhaupt ist die Musik sehr fetzig und modern. Wohl auch deswegen
bedeutet das Erklingen von Musik nicht zwangsläufig, dass das
Orchester unter Ruslan Fil auch wirklich spielt. Geschickt wird
Livemusik mit vorproduzierten Sounds gemischt. Zurück zum Finale.
Dieses ist wieder sehr ausgedehnt, u.a. mit einer Pyramide, Zugaben
und einem Glitzerregen. So als wollte die Show nicht zu Ende gehen.
Geht sie leider aber nach über drei Stunden (inklusive Pause) dann
doch. Ich hätte „Fascination“ gerne noch länger zugesehen. Denn Knie
beherrscht es perfekt, Atmosphäre zu schaffen, die „große Show“ zu
inszenieren. |
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Text und Fotos: Stefan Gierisch
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