Wie am Schnürchen
gezogen sprangen die Besucher der Frankfurter Vorpremiere direkt
nach der Russischen Schaukel als Schlussnummer von den Sitzen. Meine
Person inklusive. Eine starke Leistung der Truppe mit Sprüngen von
Schaukel zu Schaukel, auf die Hände der mittig postierten Fänger
oder einfach in die beiden von der Decke gespannten Tücherbahnen.
Dazu Live-Musik, die auf den Punkt akzentuiert, tolles Licht und
eine traumhaft gestaltete Gesamtszenerie. So schafft man spontane
Begeisterung ohne die hinlänglich bekannten Effekte zur Erzeugung
von Standing Ovations zu bemühen. Es ist aber nicht die
Schlussnummer alleine, die diese Stimmung schafft. Die Nummern davor
haben den Weg dafür geebnet. Zum Beispiel der Jongleur Octavio
Alegria, der es als einer der wenigen schafft, das von Soleil
angelegte „Korsett“ eines vorgegebenen Charakters abzulegen und mit
seiner Persönlichkeit durchzukommen. Oder die phantastische
Equilibristin Irina Naumenko, die nicht nur traumhafte artistische
Übungen, sondern ebenfalls „Gesicht zeigen“ darf.
Ikarus, Roni und Stiv
Bello, Waldschrat
Dabei ist der erste
Programmteil beileibe nicht schwach. Die Kulisse, eine Wiese mit
meterhohen Grashalmen aus Metall gibt eine interessante und in der
Gestaltung hochwertige Szenerie ab. Das Licht ist durchgehend
phantastisch, dazu sinnvoll eingesetzt. Mit einem Schattendasein in
den Kulissen müssen sich die Musiker begnügen. Nur zu Beginn und am
Ende zeigen sie sich dem Publikum. Wie bei Soleil üblich, hat auch
Varekai eine Handlung. Grob geht es darum, dass Ikarus abstürzt,
seine Flügel verliert und nun sich daraufhin im sagenhaften Land
Varekai wiederfindet. Der weitere Verlauf der Handlung blieb mir
verschlossen, was allerdings nicht weiter tragisch ist. Es gibt so
viel zu sehen, zu entdecken und damit letztendlich zu genießen, dass
ein übergeordneter Handlungsstrang nicht weiter notwendig ist. Bevor
Ikarus seine Bruchlandung hinlegt, sind in der Wiesenkulisse bereits
viele Wesen unterwegs, in erster Linie Insekten in phantasievollen,
hochwertig gestalteten Kostümen. Bei dieser Gelegenheit lernen wir
gleich einen der sympathischsten Begleiter durch den Abend kennen,
einen kauzigen Waldschrat, der immer wieder für verrückte, aber
dennoch liebenswerte Späße sorgt. Es folgt ein buntes Charivari, bei
dem es herrlich farbenfroh zugeht und in artistischer Hinsicht ein
Vorgeschmack auf das Kommende gegeben wird. Ikarus-Darsteller Mark
Halasi zeigt, nachdem die Flügel weg sind, eine sehenswerte Kür am
Netz, unter anderem mit Handstand in der Luft und Abfallern.
Chinesische
Meteor-Jonglage
Für das artistische
Ausrufezeichen, leider das einzig wirkliche, in der ersten Hälfte
sorgen die von Roncalli bekannten Steven Brothers. Die
ikarischen Spiele der italienischen Brüder Roni und Stiv Bello sind
nach wie vor kraftvoll und elegant, vor allem aber ungeheuer
mitreißend. Bei Soleil bleibt es natürlich nicht bei einem einzigen
Ikarier-Paar. Im Hintergrund gib es noch zwei weitere Paare auf der
Trinka, in beiden Fällen werden Frauen von Untermännern jongliert.
Zumeist wird abwechselnd gearbeitet, wobei die in Gold gewandeten
Brüder Bello im Vordergrund stehen. Eine bühnenfüllende Darbietung,
die sicher noch reizvollere Zusammenspiele der drei Duos zulassen
würde. Es folgt ein komisches
Zwischenspiel, wobei der Begriff Zwischenspiel nicht ganz passt, denn
in der Show passieren fast ständig irgendwelche Dinge um die
eigentlichen artistischen Darbietungen herum – komisch, verträumt oder
einfach nur schön anzusehen. Noch sehr jung sind die drei Chinesen,
welche mit Meteoren jonglieren. Während die in die Luft geworfenen
Requisiten ihre Bahnen ziehen, zeigen die Jungs akrobatische Sprünge
und fangen anschließend die an Schnüren befestigten Schälchen wieder
auf. Ich persönlich hatte keinen sonderlichen Spaß an dieser Arbeit
von Kindern, womit ich an diesem Abend allerdings ziemlich alleine
blieb. Die Begeisterung um mich herum war deutlich zu spüren.
Georgische
Tänzer, Komisches Zauberduo
Ganz und gar nicht
erschlossen hat sich mir der Zweck der folgenden Darbietung. Denn mit
dieser wird die Varekai-Atmosphäre komplett verlassen.
Stattdessen entert ein extrovertiertes, komisches Zauberduo die Bühne.
Er der seriöse, leicht verstaubte Magier, sie eine voluminöse
Blondine, die im Entferntesten an Cindy aus Marzahn erinnert. Er
versucht sich als Schwertschlucker, sie entlarvt den Trick mit dem
Rollschwert. Er zaubert gelbe Stoffbälle aus dem Mund, sie macht den
gleichen Trick mit weitaus größeren Exemplaren. Er zwängt seinen
Körper durch den Rahmen eines Tennisschlägers, sie tut es ihm gleich.
Dazu werden witzige Einfälle wie ein über die Bühne rasender
ferngesteuerter weißer Hase serviert. Alles sehr originell und (leider
zu) professionell gemacht, richtig brüllend komisch ist es aber nicht.
Steve Eleky sowie „Scott und Muriel“ haben mich mit ihren Versionen
der komischen Magie weitaus erfolgreicher zum Lachen gebracht. Zurück in die
Varekai-Welt holen uns vier Damen am Triple Trapez. Originelle Tricks
und schöne Bilder kreiren die grünen Phantasiewesen unter der Kuppel
mit einer Leichtigkeit, die den hohen Schwierigkeitsgrad ihrer
Darbietung fast vergessen lässt. Die Sängerin sorgt dafür, dass auch
diese Nummer eine rundum gelungene Performance wird.
Rot ist die
vorherrschende Farbe der Pausennummer. Drei georgische Tänzer
wirbeln in landestypischen Kostümen über die Bühne und entfachen
einen wahren Wirbel. Um der Klasse auch eine entsprechende Masse
an die Seite zu stellen, wird das Trio von einem Ballett
ergänzt. An dieser Darbietung sieht man sehr schön, wie Soleil Impulse für die Circuswelt gibt. 2002
hatte Varekai Premiere, 2004 sah man eine solche georgische Tanzgruppe
bei Nock, im Jahr darauf bei Arlette Gruss. Auch das Requisit für die
russische Schaukel bei Varekai dürfte wohl Vorbild für jenes gewesen
sein, das wir in der Gruss-Produktion „Reves“ gesehen haben. Somit
endet der erste Teil, der artistisch sicher nicht schwach ist und eine
sehr üppige Ausstattung beinhaltet. Was aber fehlt sind die wirklich
mitreißenden, begeisternden Elemente. Der zweite Teil
beginnt artistisch mit Equilibristik und Handvoltigen eines
Quintetts. Eingebettet ist diese Nummer in eine üppige
Unter-Wasser-Szenerie. Wenngleich ich kein besonderer Freund
dieses Genres bin, begeistert mich die Kür am Luftreif von
Leysan Gayazova. Sie ist fetzig, mitreißend und macht einfach
Spaß. Es folgt die zweite „Unterbrechung“ der Show durch das
Comedy-Pärchen. Diesmal gibt es den seinen Spot verfolgenden
Schnulzensänger. Wer den Spot führt, dürfte klar sein. Sehr
originell, weil ungewöhnlich ist der Artist auf Krücken. An
diesem „Requisit“ zeigt Dergin Tokmak Handstände und
verschiedene Sprünge. Der geerdete Ikarus und der neue Besitzer
seiner Flügel bereichern die Bühne ebenso wie eine Gruppe
buckeliger Greise aus dem Ensemble. Stimmig in Szene gesetzt ist
ebenfalls die Duoarbeit zweier Herren an den Strapaten,
wenngleich diese nicht weiter im Gedächtnis bleibt. Keulen,
Bälle, Tischtennisbälle und Sombreros sind die Requisiten von
Octavio Alegria. Es gibt sicher Jongleure, die diese Requisiten
sauberer beherrschen, es gibt aber wenige, die ihre Arbeit so
brillant verkaufen – insbesondere trotz einer strengen
Choreographie. |
Leysan Gayazova |
Ein wirklicher Meister
seines Faches, der auch die höheren Schwierigkeitsgrade meistert. Es
folgt der für mich komischste Moment der Show. Der Waldschrat wechselt
die Glühbirne, die eine der anderen Figuren auf dem Helm trägt. Er tut
dies so umständlich, dass es schon wieder geniale Züge trägt. Einfach
herrlich komisch. Eine Darbietung die alles mitbringt, was eine
wirklich überzeugende Artistiknummer braucht, ist die Equilibristik von Irina Naumenko. Die
sympathische Russin findet sofort den direkten Kontakt zu den
zahlreichen Zuschauern im Grand Chapiteau und verkauft so ihre
sagenhafte, leistungsstarke Kunst optimal. Ein Hochgenuss ist
es, ihr zuzuschauen. Gemeinsam mit Ikarus zeigt sie, quasi als
da capo, ein kurzes Duo an den Strapaten.
Octavio Alegria,
Russische Schaukel, Irina Naumenko
Es folgt eine Szene mit
Sängern und Mitgliedern des Ensembles, die teilweise in den Kostümen
ihrer bereits absolvierten Auftritte erscheinen. Es ist eine Art
vorgezogenes Finale. Als dieses vorbei ist, stehen auf der Bühne alle
Requisiten für die Russische Schaukel. Dieser Umbau geschieht, wie
alle anderen davor, so geschickt, dass man ihn so gut wie gar nicht
mitbekommt. So perfekt läuft die Show ab. Dieser letzte Punkt einer
durchgehenden Performance, die alle andere als ein Nummernprogramm
ist, ist so furios gelungen, dass sich die Begeisterung quasi von
alleine einstellt. Einmalige artistische Leistungen, die von Musik und
einem Timing getragen wird, die auf den Punkt stimmt. Grandios. Die
Show endet mit dem Finale aller Mitwirkenden, Musiker inklusive. Keine
Frage, Varekai, ist hochwertig, stark besetzt, einfach perfekt
gemacht.
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