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Cirque du Soleils "Varekai"
www.cirquedusoleil.com ; 80 Showfotos

Frankfurt, 16. Juni 2010: An „Alegria“ hatte ich noch recht positive Erinnerungen, „Saltimbanco“ fand ich damals eher langweilig und nun also stand „Varekai“ auf dem Programm. Zur Pause hielt sich die Begeisterung noch in Grenzen. Außer den ikarischen Spielen der Steven Brothers keine Darbietung, die wirklich mitriss, auch die Inszenierung konnte mich - obwohl (oder gerade weil?) absolut perfekt – nicht wirklich für sich einnehmen. Eine kleine Enttäuschung zeichnete sich ab. Doch dann kam der zweite Teil dieser Show des Cirque du Soleil. Und der konnte wirklich überzeugen, begeistern, anrühren.

Wie am Schnürchen gezogen sprangen die Besucher der Frankfurter Vorpremiere direkt nach der Russischen Schaukel als Schlussnummer von den Sitzen. Meine Person inklusive. Eine starke Leistung der Truppe mit Sprüngen von Schaukel zu Schaukel, auf die Hände der mittig postierten Fänger oder einfach in die beiden von der Decke gespannten Tücherbahnen. Dazu Live-Musik, die auf den Punkt akzentuiert, tolles Licht und eine traumhaft gestaltete Gesamtszenerie. So schafft man spontane Begeisterung ohne die hinlänglich bekannten Effekte zur Erzeugung von Standing Ovations zu bemühen. Es ist aber nicht die Schlussnummer alleine, die diese Stimmung schafft. Die Nummern davor haben den Weg dafür geebnet. Zum Beispiel der Jongleur Octavio Alegria, der es als einer der wenigen schafft, das von Soleil angelegte „Korsett“ eines vorgegebenen Charakters abzulegen und mit seiner Persönlichkeit durchzukommen. Oder die phantastische Equilibristin Irina Naumenko, die nicht nur traumhafte artistische Übungen, sondern ebenfalls „Gesicht zeigen“ darf.


Ikarus, Roni und Stiv Bello, Waldschrat

Dabei ist der erste Programmteil beileibe nicht schwach. Die Kulisse, eine Wiese mit meterhohen Grashalmen aus Metall gibt eine interessante und in der Gestaltung hochwertige Szenerie ab. Das Licht ist durchgehend phantastisch, dazu sinnvoll eingesetzt. Mit einem Schattendasein in den Kulissen müssen sich die Musiker begnügen. Nur zu Beginn und am Ende zeigen sie sich dem Publikum. Wie bei Soleil üblich, hat auch Varekai eine Handlung. Grob geht es darum, dass Ikarus abstürzt, seine Flügel verliert und nun sich daraufhin im sagenhaften Land Varekai wiederfindet. Der weitere Verlauf der Handlung blieb mir verschlossen, was allerdings nicht weiter tragisch ist. Es gibt so viel zu sehen, zu entdecken und damit letztendlich zu genießen, dass ein übergeordneter Handlungsstrang nicht weiter notwendig ist. Bevor Ikarus seine Bruchlandung hinlegt, sind in der Wiesenkulisse bereits viele Wesen unterwegs, in erster Linie Insekten in phantasievollen, hochwertig gestalteten Kostümen. Bei dieser Gelegenheit lernen wir gleich einen der sympathischsten Begleiter durch den Abend kennen, einen kauzigen Waldschrat, der immer wieder für verrückte, aber dennoch liebenswerte Späße sorgt. Es folgt ein buntes Charivari, bei dem es herrlich farbenfroh zugeht und in artistischer Hinsicht ein Vorgeschmack auf das Kommende gegeben wird. Ikarus-Darsteller Mark Halasi zeigt, nachdem die Flügel weg sind, eine sehenswerte Kür am Netz, unter anderem mit Handstand in der Luft und Abfallern.


Chinesische Meteor-Jonglage

Für das artistische Ausrufezeichen, leider das einzig wirkliche, in der ersten Hälfte sorgen die von Roncalli bekannten Steven Brothers. Die ikarischen Spiele der italienischen Brüder Roni und Stiv Bello sind nach wie vor kraftvoll und elegant, vor allem aber ungeheuer mitreißend. Bei Soleil bleibt es natürlich nicht bei einem einzigen Ikarier-Paar. Im Hintergrund gib es noch zwei weitere Paare auf der Trinka, in beiden Fällen werden Frauen von Untermännern jongliert. Zumeist wird abwechselnd gearbeitet, wobei die in Gold gewandeten Brüder Bello im Vordergrund stehen. Eine bühnenfüllende Darbietung, die sicher noch reizvollere Zusammenspiele der drei Duos zulassen würde. Es folgt ein komisches Zwischenspiel, wobei der Begriff Zwischenspiel nicht ganz passt, denn in der Show passieren fast ständig irgendwelche Dinge um die eigentlichen artistischen Darbietungen herum – komisch, verträumt oder einfach nur schön anzusehen. Noch sehr jung sind die drei Chinesen, welche mit Meteoren jonglieren. Während die in die Luft geworfenen Requisiten ihre Bahnen ziehen, zeigen die Jungs akrobatische Sprünge und fangen anschließend die an Schnüren befestigten Schälchen wieder auf. Ich persönlich hatte keinen sonderlichen Spaß an dieser Arbeit von Kindern, womit ich an diesem Abend allerdings ziemlich alleine blieb. Die Begeisterung um mich herum war deutlich zu spüren.


Georgische Tänzer, Komisches Zauberduo

Ganz und gar nicht erschlossen hat sich mir der Zweck der folgenden Darbietung. Denn mit dieser wird die Varekai-Atmosphäre komplett verlassen. Stattdessen entert ein extrovertiertes, komisches Zauberduo die Bühne. Er der seriöse, leicht verstaubte Magier, sie eine voluminöse Blondine, die im Entferntesten an Cindy aus Marzahn erinnert. Er versucht sich als Schwertschlucker, sie entlarvt den Trick mit dem Rollschwert. Er zaubert gelbe Stoffbälle aus dem Mund, sie macht den gleichen Trick mit weitaus größeren Exemplaren. Er zwängt seinen Körper durch den Rahmen eines Tennisschlägers, sie tut es ihm gleich. Dazu werden witzige Einfälle wie ein über die Bühne rasender ferngesteuerter weißer Hase serviert. Alles sehr originell und (leider zu) professionell gemacht, richtig brüllend komisch ist es aber nicht. Steve Eleky sowie „Scott und Muriel“ haben mich mit ihren Versionen der komischen Magie weitaus erfolgreicher zum Lachen gebracht. Zurück in die Varekai-Welt holen uns vier Damen am Triple Trapez. Originelle Tricks und schöne Bilder kreiren die grünen Phantasiewesen unter der Kuppel mit einer Leichtigkeit, die den hohen Schwierigkeitsgrad ihrer Darbietung fast vergessen lässt. Die Sängerin sorgt dafür, dass auch diese Nummer eine rundum gelungene Performance wird.

Rot ist die vorherrschende Farbe der Pausennummer. Drei georgische Tänzer wirbeln in landestypischen Kostümen über die Bühne und entfachen einen wahren Wirbel. Um der Klasse auch eine entsprechende Masse an die Seite zu stellen, wird das Trio von einem Ballett ergänzt. An dieser Darbietung sieht man sehr schön, wie Soleil Impulse für die Circuswelt gibt. 2002 hatte Varekai Premiere, 2004 sah man eine solche georgische Tanzgruppe bei Nock, im Jahr darauf bei Arlette Gruss. Auch das Requisit für die russische Schaukel bei Varekai dürfte wohl Vorbild für jenes gewesen sein, das wir in der Gruss-Produktion „Reves“ gesehen haben. Somit endet der erste Teil, der artistisch sicher nicht schwach ist und eine sehr üppige Ausstattung beinhaltet. Was aber fehlt sind die wirklich mitreißenden, begeisternden Elemente. Der zweite Teil beginnt artistisch mit Equilibristik und Handvoltigen eines Quintetts. Eingebettet ist diese Nummer in eine üppige Unter-Wasser-Szenerie. Wenngleich ich kein besonderer Freund dieses Genres bin, begeistert mich die Kür am Luftreif von Leysan Gayazova. Sie ist fetzig, mitreißend und macht einfach Spaß. Es folgt die zweite „Unterbrechung“ der Show durch das Comedy-Pärchen. Diesmal gibt es den seinen Spot verfolgenden Schnulzensänger. Wer den Spot führt, dürfte klar sein. Sehr originell, weil ungewöhnlich ist der Artist auf Krücken. An diesem „Requisit“ zeigt Dergin Tokmak Handstände und verschiedene Sprünge. Der geerdete Ikarus und der neue Besitzer seiner Flügel bereichern die Bühne ebenso wie eine Gruppe buckeliger Greise aus dem Ensemble. Stimmig in Szene gesetzt ist ebenfalls die Duoarbeit zweier Herren an den Strapaten, wenngleich diese nicht weiter im Gedächtnis bleibt. Keulen, Bälle, Tischtennisbälle und Sombreros sind die Requisiten von Octavio Alegria. Es gibt sicher Jongleure, die diese Requisiten sauberer beherrschen, es gibt aber wenige, die ihre Arbeit so brillant verkaufen – insbesondere trotz einer strengen Choreographie.


Leysan Gayazova

Ein wirklicher Meister seines Faches, der auch die höheren Schwierigkeitsgrade meistert. Es folgt der für mich komischste Moment der Show. Der Waldschrat wechselt die Glühbirne, die eine der anderen Figuren auf dem Helm trägt. Er tut dies so umständlich, dass es schon wieder geniale Züge trägt. Einfach herrlich komisch. Eine Darbietung die alles mitbringt, was eine wirklich überzeugende Artistiknummer braucht, ist die Equilibristik von Irina Naumenko. Die sympathische Russin findet sofort den direkten Kontakt zu den zahlreichen Zuschauern im Grand Chapiteau und verkauft so ihre sagenhafte, leistungsstarke Kunst optimal. Ein Hochgenuss ist es, ihr zuzuschauen. Gemeinsam mit Ikarus zeigt sie, quasi als da capo, ein kurzes Duo an den Strapaten.


Octavio Alegria, Russische Schaukel, Irina Naumenko

Es folgt eine Szene mit Sängern und Mitgliedern des Ensembles, die teilweise in den Kostümen ihrer bereits absolvierten Auftritte erscheinen. Es ist eine Art vorgezogenes Finale. Als dieses vorbei ist, stehen auf der Bühne alle Requisiten für die Russische Schaukel. Dieser Umbau geschieht, wie alle anderen davor, so geschickt, dass man ihn so gut wie gar nicht mitbekommt. So perfekt läuft die Show ab. Dieser letzte Punkt einer durchgehenden Performance, die alle andere als ein Nummernprogramm ist, ist so furios gelungen, dass sich die Begeisterung quasi von alleine einstellt. Einmalige artistische Leistungen, die von Musik und einem Timing getragen wird, die auf den Punkt stimmt. Grandios. Die Show endet mit dem Finale aller Mitwirkenden, Musiker inklusive. Keine Frage, Varekai, ist hochwertig, stark besetzt, einfach perfekt gemacht.

Und gerade letzteres ist für mich auch das Manko der Soleil-Produktionen. Mein Herz hängt weiterhin am „richtigen“ Circus, bei dem Artisten, Clowns und Tiere ihre eigene Persönlichkeit zeigen dürfen, wo Patzer passieren und auch mal improvisiert werden darf, wenn es nicht so läuft wie geplant. All das eben, was passiert, wenn Menschen Menschen sein dürfen und Tiere, die eben nicht immer gleichförmig „funktionieren“, ihren Charakter in der Manege zeigen.

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Text und Fotos: Stefan Gierisch