Flórián
Richter, Vivi Paul, Edith Richter
Zum
35-jährigen Bestehen wird eine bewährte Programmeröffnung aus
früheren Jubiläumsshows des Circus Roncalli wieder aufgegriffen:
eine „Pferdeparade“, bei der acht Pferde um die Manege geführt
werden und dabei Prunkdecken der K & K Hofschneiderei Lambert
Hofer tragen, auf denen die Programmtitel der vergangenen
dreieinhalb Jahrzehnte in Gold eingestickt sind. Schon
langjährig zu nennen ist mittlerweile die nun folgende
Eröffnungsszene: Der Dumme August fehlt, und so suchen
Sprechstallmeister Patrick Philadelphia und Weißclown Gensi
einen „Dummen“, den sie in einem Manegenhelfer alias David
Larible finden und zum Clown verwandeln. Das zugehörige
Charivari wurde nun mit der Eröffnung des zweiten Programmteils
aus der Vorsaison zusammengefasst. Sprich: Der Circusnachwuchs
zeigt in dieser Sequenz sein Können. Es präsentieren sich Vivi
Paul am Luftring, Lili Paul mit Antipoden, Géraldine
Philadelphia mit Hula-Hoop/Jonglage, Dede Larible mit Jonglage
sowie Clio Togni mit Handstand. Die Italienerin aus der
weitverzweigten Circusfamilie Togni ist zudem immer wieder als
Figurantin und „Zeremonienmeisterin“ zwischen einzelnen
Darbietungen zu sehen. - Der heutige Circus hat sich
bekanntermaßen aus dem Pferdetheater entwickelt. So ruft das
nostalgische Roncalli-Ambiente geradezu danach, variantenreiche
Pferdedressur auf hohem Niveau in den Mittelpunkt des Programms
zu stellen. Hierfür wurde heuer mit Flórián Richter und seiner
Frau Edith geradezu eine Idealbesetzung gefunden. Als erste
Nummer, nach dem Eröffnungsblock mit Pferdeparade und Charivari,
präsentieren die Richters ein Potpourri ihrer Kunst. Elegant,
schwungvoll, jugendlich und strahlend agiert Flórián Richter in
der Manege, stilvoll gekleidet im schwarzen Frack mit
Paillettenbesatz. Die Hohe Schule im Tandem, also mit einem
Vorauspferd am langen Zügel, und danach als Stehendreiterei auf
zwei Friesen präsentiert der 33-jährige Deutsch-Ungar dem
Publikum. Es folgen ein schwarz-weißer Achterzug Friesen und
Araber und verschiedene Steiger, jeweils im Wechsel mit
Auftritten von Richters Ehefrau Edith, die als Schulreiterin im
langen schwarzen Kleid und bei der augenzwinkernden Präsentation
eines Ponys als wahre Circusprinzessin erscheint. Die
equestrische Raritätensammlung wird vom Roncalli-Orchester mit
klassischen Melodien weiter veredelt und verströmt so viel
nostalgischen, königlich-kaiserlichen Charme, dass sich der
Besucher wie direkt nach Wien versetzt fühlen kann, auch wenn
wir die Vorstellung noch auf dem nüchternen Karlsruher Messplatz
sahen. Den Richters gehört auch der Abschluss des ersten
Programmteils mit der ungarischen Post. Beim
Weltweihnachtscircus Stuttgart 2009/2010 war die Nummer in der
Originalversion zu sehen gewesen, in einer großartigen
Inszenierung mit goldener Kutsche und neun Postillionen in
stilechten ungarischen Kostümen. Ausgerechnet bei Roncalli fällt
der Auftritt weitaus schlichter aus, reitet Edith Richter also
gemeinsam mit ihrem Mann auf einem Pferd in die Manege, das kurz
einige Schulschritte zeigt, und sogleich präsentiert Edith
Richter nun kurz und schnörkellos die Post mit – aufgrund der
kleinen Manege – sechs statt normalerweise zehn Vorauspferden.
Die goldene Kutsche ist dennoch im Programm vertreten und wird
gleich nach dem Pferdepotpourri zu einer neuen, witzigen Reprise
genutzt, in der David Larible und zwei Requisiteure mit den
Tücken der angeblich klemmenden Tür zu kämpfen haben.
Fabricio Nogoueira,
Azzario Sisters, Borys
Die einzigen
beiden artistischen Nummern im ersten Programmteil, vom
Charivari abgesehen, sind in weiblicher Hand. Zum einen sind die
Azzarrio Sisters mit ihrer erstklassigen Kopf-auf-Kopf- und
Leiterbalance-Kür nach zwei Saisons Pause zu Roncalli
zurückgekehrt und arbeiten hier nun zu der wunderbar dynamischen
Musikbegleitung, die für ihr letztjähriges Engagement im Circus
Knie erdacht wurde. Im Anschluss zelebriert Shirley Larible mit
betörend erotischer Ausstrahlung ihre Strapatennummer, bei der
sie am Ende freihändig in den Spagat zwischen zwei
Strapatenschlaufen gleitet und von ihrem Vater David und
Weißclown Gensi mit Livegesang begleitet wird. In der Pause wird
in der Manege ein trichterförmiges Holzgestell aufgestellt, das
den unbekannten Nebensitzer in der besuchten Vorstellung gleich
zu der Vermutung hinreißt, dies sei nun wohl der Raubtierkäfig.
Mit dieser Assoziation wird dann bewusst gespielt, wenn zu „The
Lions Sleeps tonight“ das sechsköpfige, rein weibliche Ballett
um den vermeintlichen „Käfig“ tanzt und Clio Togni im
Streifenoufit darin den Tiger gibt. Das Holzgestell entpuppt
sich als eine Art Steilwand, die der Brasilianer Fabricio
Nogueira, in Knickerbocker und mit Schiebermütze, mit dem
Fahrrad befährt, während das unten offene Holzgestell unter die
Kuppel gezogen wird. Letztlich bietet diese Fahrradfahrt aber
eben auch nicht mehr als diesen einzigen Trick. Kreiert wurde
die Nummer des nun ehemaligen Motorradkugelartisten Nogueira auf
persönlichen Wunsch Bernhard Pauls. Als Reminiszenz an frühere
Roncalli-Jahre darf die Verpflichtung des Pantomimen Borys mit
einer Art Mensch-oder-Puppe-Darbietung gesehen werden, die aus
unserer Sicht verzichtbar wäre – so sind die ersten beiden
Nummern nach der Pause wohl der Schwachpunkt des Programms.
David Larible,
Jemile Martinez, Encho Keryazov
Nach den
jeweils einjährigen Gastspielen von Alan Sulc (2008) und Dustin
Huesca (2010) wurde das Genre Jonglage erneut neu besetzt,
nunmehr mit dem britischen Fußballjongleur Jemile Martinez.
Variantenreich und überaus sicher, mit Händen, Kopf, Schultern
und Füßen, jongliert er bis zu fünf Bälle, lässt die Fußbälle
auf Fingerspitzen und aufeinander kreisen und fängt schließlich
einen in die Luft gekickten Ball nach doppelter Pirouette mit
dem gleichen Fuß wieder auf. Nach viel weiblichem Charme in
diesem Programm ein, passend zum Fußballthema, sehr maskuliner
Kontrapunkt, zu dem das Orchester richtig rockt – und gewiss
keine typische „Roncalli-Nummer“. Dieses Prädikat trifft viel
mehr auf die augenzwinkernde Klischnigg-Kür von Andrey
Romanovski zu, der zusammengeklappt durch ein Ofenrohr gleitet,
und natürlich auf die Vertikalseilarbeit des Duo Bobrov.
Verpackt in eine (auch beim x-ten Betrachten: kryptische)
Liebesgeschichte bietet das Duo Höchstleistung und, vor allem
für die Partnerin, Höchstrisiko bei der ungesicherten Arbeit.
Schlicht unübertrefflich ist nach wie vor Encho Keryazovs
kraftstrotzende Handstandarbeit. David Larible ist seit 2006
fester Bestandteil der Roncalli-Shows. Über seine Reprisen und
Entrees (aktuell „Teller“ und schon traditionell „Opéra“) lässt
sich immer wieder von Herzen lachen. |