CHPITEAU.DE

Circus Knie - Tour 2012
www.knie.ch ; 182 Showfotos

Rapperswil, 22. März 2012: In der Mitte eine Bahn aus einem federnden Luftkissen, darauf blendend aussehende Artisten mit rasanten Sprüngen, zu beiden Seiten die Mitglieder der Truppe Bingo, welche die Hauptakteure anfeuern. Dazu treibende, fetzige Musik und ein perfektes Lichtdesign. Ich kann mich nicht erinnern, jemals solch ein mitreißendes Bild am Beginn einer Circusshow gesehen zu haben. Welch   eine Intensität! Welch eine Energie! Welch eine Lebensfreude! Und: Welch eine Leidenschaft!

Diese Leidenschaft für den Circus ist es auch, die das Motto für das Programm 2012 des Schweizer Nationalcircus stiftet. „Passion Cirque“ heißt es in diesem Jahr bei Knie, welcher damit die Reihe der französischsprachigen Programmtitel fortsetzt. Dies ist nicht die einzige Konstante, im Gegenteil: Nahezu alle prägenden Elemente der letzten Produktionen finden sich bei „Passion Cirque“ wieder. Ein Bingo-Ensemble gestaltet die großen Bilder, auf ein fulminantes Lichtdesign wird großen Wert gelegt, die Musik ist modern und besteht aus einem Mix von live gespielten sowie vorproduzierten Sounds, die Kostüme aller Mitwirkenden sind äußerst geschmackvoll. Die Tierdressuren kommen ausschließlich von den Familien Knie sowie Errani und die artistischen Darbietungen sind sorgfältig ausgewählt. Für alle engagierten Artisten ist es die erste Saison bei Knie. Mit Valerie Inertie und den Dalian Girls sind Preisträger eines „Silbernen Clowns“ 2011 dabei. Zwei (kleine) Wermutstropfen seien auch gleich zu Beginn genannt. Da der zweite Teil auf einem Holzboden stattfindet, sind sämtliche Tiernummern vor der Pause platziert. Ferner fällt die Sparte Komik ein wenig gegenüber den anderen Programmelementen ab.


Ivan Frederic Knie, Bingo, Semeon Krachinov

Die Begrüßung übernimmt Ivan Frederic Knie als noch sehr junger „Circusdirektor“. Er beschwört seine Liebe zum Circus und bedankt sich beim Schweizer Publikum für die entgegengebrachte Treue. Die Truppe Bingo startet mit einem großen Schaubild in weiß, in denen Equilibristik und Luftakrobatik an verschiedenen Requisiten die wesentlichen artistischen Disziplinen darstellen. Es folgt die eingangs beschriebene Fast Track-Action mit den Fratelli Errani und Mitgliedern des Quartetts White Gold. Semeon Krachinov hat nach der ersten Comedy-Einlage die Aufgabe, die schwungvolle Grundstimmung wieder aufzunehmen. Dies gelingt ihm ganz famos. Zunächst jongliert der junge  Russe ungewöhnlich flott mit neun Bällen, später mit sieben Keulen. Dies tut er in seinem ganz eigenen, tänzerischen Stil zu spanisch angehauchter Musik. Wie in Rapperswil zu hören war, konnte er sich während der Proben über mangelndes Zuschauerinnen-Interesse von Mitgliedern des Ensembles nicht beklagen. Die Damen im Publikum dürften ihm ähnliche Sympathien entgegenbringen.


Geraldine, Linna, Franco jr. und Freddy Knie

Mit neuen Varianten ihrer Pferdedressuren steht die Familie von Fredy Knie in der Manege. Zunächst zeigt Marie-Jose Knie ein Groß & Klein, ihr Mann schließt mit einer Schule am Zügel an. Kernstück ist aber die große Freiheitsdressur von Geraldine Katharina Knie. Sie startet mit jeweils sechs wunderschönen Friesen sowie weißen Arabern. Später gesellen sich vier Zebras hinzu. Im Repertoire sind schwierige Figuren bis hin zum Karussell auf drei Bahnen. Leider ließ sich die Klasse und Schönheit in den beiden von mir gesehenen Vorstellungen nur erahnen. Erfahrungsgemäß wird die Vorführung aber in Kürze an Sicherheit gewinnen und ihre volle Wirkung entfalten. Verschiedene Steiger runden dieses Tableau ab. Nach einem komischen Intermezzo folgt gleich die nächste Tierdarbietung. Diesmal ist die Familie von Franco Knie junior an der Reihe. Mithin erleben wir nun die Präsentation der drei indischen Elefanten. Es ist eine neue Zusammenstellung der bekannten Tricks aus dem Repertoire der Dickhäuter in neuer Aufmachung. Durch die Mitwirkung von Francos Frau Linna und deren gemeinsamem Sohn Chris Rui wird die Darbietung zusätzlich aufgewertet. Linna zeigt unter anderem (ohne Vorteil) den Spagat zwischen zwei Elefantenköpfen. Chris Rui gibt sich -  von Kostüm und Dressurwerkzeug her ganz der Vater - als Vorführer der Tiere, der furchtlos unter einem Elefanten durchläuft oder auf ein abliegendes Tier klettert. Der Größenunterschied sorgt natürlich für einen ganz besonderen Effekt, den der Kleine bereits „professionell“ zu verkaufen weiß.


Maycol und Wioris Errani

Muskulöse Männer hat dieses Programm wahrlich viele zu bieten. Zwei davon sind Leosvel und Diosmani. Sie nutzen ihre Kraft dazu, einen vertikalen Masten auf und ab zu klettern. Das sieht bei diesen Kubanern so leicht und elegant aus, dass man den enormen Schwierigkeitsgrad glatt unterschätzen könnte. Der Höhepunkt ist erreicht, wenn einer der Artisten sich im rechten Winkel vom Mast abdrückt und der andere einen Handstand auf seinem Körper drückt. Leosvel und Diosmani würden eine perfekte Pausennummer abgeben, doch Knie legt noch Einen drauf. Was Maycol und Wioris Errani unter dem Titel „Doppelpost“ zeigen ist schlichtweg sensationell und läuft an der Premiere schon so perfekt, als hätten die beiden Brüder nie etwas anderes getan. Die Italiener stehen absolut sicher auf ihren Friesen und reiten mit einer Rasanz, die ihresgleichen sucht. Da geht im wahrsten Sinne des Wortes „die Post ab“. Zunächst lassen sie jeweils ein braunes Pferd unter sich kreisen, dann setzen sie mit ihren Friesen über ein Hindernis. Abschließend lassen sie jeweils sechs Vorauspferde unter sich durchschlüpfen, die sie nach und nach alle am langen Zügel führen. Und selbst dann drehen sie in einer irren Geschwindigkeit noch etliche Runden. Besser geht’s wirklich nicht.


White Power, Fratelli Errani, Trio Tereshchenko

Nach der Pause ist der Fangstuhl aufgebaut, unter dem ein dickes Luftkissen für die Sicherheit der Artisten sorgt. Das Trio Tereshchenko ist nach der Babypause einer der Damen wieder komplett. Interessant ist bei dieser eleganten Luftnummer immer wieder der Kontrast zwischen dem sehr kräftigen Roman Tereshchenko und den beiden Fliegerinnen. Entsprechend groß ist die Leichtigkeit, mit der die Artistinnen scheinbar wirklich durch die Luft fliegen und dabei ihre Salti zeigen. Die Truppe Bingo gestaltet anschließend ein lebendiges Schaubild mit Hula-Hoop-Reifen. Wie die Tereshchenkos kommen auch die Jungs des Quartetts White Gold vom Sport. Wie die Tershchenkos und die Bingo-Mitglieder stammen sie aus der Ukraine. Sie zeigen Handstände auf Menschenpyramiden sowie Handvoltigen. Ihr Trickrepertoire ähnelt dem von Gruppen wie Seaworld oder Crazy Flight. Anders als diese arbeiten sie aber nicht mit Masken, sondern „zeigen Gesicht“. Ein weiteres Mal erleben wir die Fratelli Errani. Nun jagen sie zu dritt über das Trampolin. Mit von der Partie ist ebenfalls Ivan Frederic, der mit seinen Sprüngen natürlich mindestens so viel Applaus erhält wie die Erranis. Die in blau gehaltene Nummer ist voller Lebensfreude, die sich auch in der Musik widerspiegelt. Zu hören sind Klänge, die man mit südamerikanischem Karneval verbindet. Zu guter Letzt integrieren sie sogar eine Trinka in ihr Requisit, welche eine Einlage mit ikarischen Spielen erlaubt.


Valerie Inertie

Sinnlichkeit pur ist der Auftritt von Valerie Inertie. Ihre Kür am Roue Cyr ist ein einziger, minutenlanger Rausch. Ein Rausch, dem sich die Künstlerin hingibt und der den Zuschauer unmittelbar erfasst. Es ist einfach traumhaft, was die Kanadierin an diesem für den Circus noch recht jungen Requisit zeigt. Zu dieser fantastischen Präsentation kommen schwierige Tricks, die mit größter Leichtigkeit dargeboten werden. Es ist nicht schwer, über diese Darbietung ins Schwärmen zu geraten. Asiatische Artistentruppen sind ein Standard der Knie-Programme der vergangenen Jahre. 2012 erleben wir die acht Dalian Girls mit ihrer farbenfrohen Kür auf Fahrrädern. Großartige artistische Leistungen werden hier mit asiatischer Leichtigkeit dargeboten. Als störend empfand ich lediglich die schrillen Kommandos, mit der eine der Artistinnen die Gruppe dirigiert.

Soweit Artisten und Tiere. Was noch fehlt ist der komische Part. Dieser obliegt in der aktuellen Produktion Michel Gammenthaler. Der äußerst sympathische Züricher verbindet in vier seiner fünf Auftritte Comedy und Zauberei. Dabei verkörpert er verschiedene, durchaus witzige, Typen. Die Tricks selbst, wie etwa das Spiel mit Metallreifen und das Durchschießen eines Luftballons mit einem Tuch, sind allesamt gut, aber nicht sonderlich spektakulär. Die besondere Wirkung soll eben durch die Verbindung mit Comedy entfaltet werden. Was auf einer Kleinkunstbühne sicher vortrefflich gelingt, gestaltet sich im großen Chapiteau eher schwierig. Irgendwie haben Gammenthaler und Knie (noch) nicht 100% zueinander gefunden. Sein feines Spiel kommt nicht so zur Geltung, wie dies in kleinerem Ambiente ganz sicher der Fall sein wird. Das ist umso gravierender weil es – anders als in den Vorjahren – keinen weiteren (Circus-)Clown gibt. Ich jedenfalls bin gespannt, ob sich Komiker und Circus im Verlauf der Tournee noch näher kommen. Die große Show erleben wir dann aber wieder beim Finale, welches wie gewohnt durch das Circus-Theater Bingo eingeleitet wird. In diesem Jahr spielen sie mit farbigen Tüchern, bevor alle Mitwirkenden unter einem Regen aus bunten Papierschnipseln die Manege betreten und sich ausführlich vom Publikum verabschieden.


Michel Gammenthaler

Es ist ein gewohnt lebhaftes, farbenfrohes Bild, welches noch ein letztes Mal die Faszination der Circusmanege in Vollkommenheit lebendig macht. Die Verabschiedung übernimmt Geraldine Katharina Knie und natürlich finden sich danach Artisten aus verschiedenen Nummern zu gemeinsamen Zugaben zusammen. Das Publikum bei der Saisonpremiere in Rapperswil spendete minutenlang frenetische Standing Ovations. Die kompakte, von einem begeisterten Publikum getragene, Atmosphäre im dicht besetzten Rundzelt trägt natürlich ungemein zur Gesamtwirkung der Show bei. „Passion Cirque“ ist für mich die stärkste, mitreißendste und begeisterndste Show der jüngeren Knie-Vergangenheit.

__________________________________________________________________________
Text und Fotos: Stefan Gierisch