Schwer vorstellbar also, dass
sich diese beiden Circus-Welten in einem Soleil-Programm
annähern. Doch in der Show Corteo passiert genau das.
Corteo ist ein Wort aus dem
Italienischen und bezeichnet eine fröhliche Prozession. Im
Mittelpunkt der Show steht der alte Clown Mauro, der von seiner
eigenen Beerdigung träumt. Sein großes Bett beginnt zu schweben,
Engel entführen ihn ins Himmelreich und begleiten ihn bei seinen
ersten Flugversuchen. Unbeholfen rudert er mit seinen Armen und
Beinen, dann wird er immer sicherer. Er lächelt, staunt über
seine eigene Leichtigkeit.
Mauro und die
Engel, Circusdirektor
Mauro und die Engel werden an
dünnen Stahlseilen gehalten und schweben dank einer aufwendigen
Deckenkonstruktion durch das ovale Zelt, durch das sich eine große, längliche Bühne zieht. Zu Beginn ist sie mit einem
riesigen Vorhang verdeckt, der auf den ersten Blick wie ein
opulentes Deckenfresko aus einer großen Kathedrale aussieht.
Doch unter die Engel haben sich Circusartisten gemischt. Das
passt zu dieser Show, in der die Zuschauer Mauros Traum
miterleben können, der zugleich eine Reise in seine eigene
Jugend ist. Corteo – das ist denn auch eine Hommage an den
Circus aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit Männern,
die Schiebermütze und Hosenträger tragen, jungen Frauen in
rüschigen Kleidern und einem korpulenten Herrn Direktor mit
Zylinder und rotem Frack.
Trampolin-Bett, Leiter-Artist trifft Engel,
Heliumballon-Flug
Geschickt verbindet Regisseur
Daniele Finzi Pasca Mauros träumerische Circus-Erinnerungen mit
buchstäblich himmlischen Eindrücken. Der junge Leiterartist
Uzeyer Novruzov reckt sich bei seinem Balancen nach einem Engel
empor, junge Artistinnen verrenken ihre gelenkigen Körper an
riesigen Kronleuchtern, eine lebende Marionette tanzt an ihren
Fäden durch die Luft, Mauros großes Bett wird für einige
Akrobaten zum Trampolin, und die kleinwüchsige Artistin
Valentyna Paylevanyan fliegt an vier großen, blauen
Heliumballons durch das Chapiteau.
Paradise, Cyrrad,
Drahtseil
Ohnehin spielt sich in diesem
Programm vieles in der Luft ab. Ein Artistenpaar zeigt zu
gefühlvoller Musik faszinierende Tricks an den Strapaten, die
Russin Anastasya Bykovskaya präsentiert auf dem Drahtseil
Spitzentanz und Schrägseillauf – und hinter dem Namen Paradis
verbirgt sich eine große Flugnummer mit vier stehenden Fängern
auf drei Podesten, zwischen denen mehrere Artistinnen gekonnt
umherfliegen. Doch auch auf dem Bühnenboden
spielt sich Faszinierendes ab: So rollen zum Beispiel fünf
Artisten an so genannten Cyr-Rädern gekonnt über die Bühne, vier
Jongleure in Harlekin-Kostümen halten Hula-Hoop-Reifen in der
Luft, zwei scheinbar rivalisierende Artistenfamilien messen ihr
Können am Schleuderbrett – und der Tanz eines Artisten-Paars
mündet in geschmeidig präsentierter Hebeakrobatik.
Hebeakrobatik,
Mehrfachreck, Jongleure
In diesem
träumerisch anmutenden Programm gibt es aber auch skurrile und
bisweilen etwas makabere Momente. Etwa die Szene mit einem
lebenden Golfball – gespielt von einer unablässig plaudernden
Artistin, die unter der Bühne steht und ihren Kopf durch ein
Loch im Boden emporsteckt. Sehr zum Erstaunen des herrischen
Golfspielers verschwindet der lebende Ball immer kurz vor dem
Abschlag und flieht am Ende geschickt vom Platz. Auch Pferde
gibt es bei Corteo, keine echten zwar, aber dafür sehr
menschliche. Jeweils zwei Artisten verbergen sich in den
gelehrigen Rössern mit den großen Klimperaugen. Recht klamaukig ist dagegen
die Romeo-und-Julia-Parodie, die Valentina Paylevanyan und ihr
ebenfalls kleinwüchsiger Mann Grigor aufführen. Doch immerhin
bleibt Regisseur Finzi Pasca auch hier den nostalgischen Motiven
aus der Unterhaltungskunst treu und lässt die Parodie in einer
liebenswert gestalteten Schaubude spielen. Spektakulärer Höhepunkt des
mit Pause gut zweieinhalbstündigen Programms ist die
Schlussnummer am Mehrfachreck, an dem 14 Artisten umherwirbeln,
während die Reckkonstruktion selbst auf dem drehbaren Mittelbau
der Bühne rotiert. Ein faszinierendes Schlussbild für Mauros
poetischen Zirkustraum. Schön wäre
es, wenn der Cirque die Zuschauer schon vor der Show auf dieses
faszinierende Programm einstimmen würde. In Hamburg gastiert der
Circus bereits zum zweiten Mal nicht etwa auf dem bekannten
Heiligengeistfeld, sondern am Stadtrand, genauer gesagt in
Moorfleet, zwischen Ikea-Markt und Autobahnabfahrt. Wer mit dem
Auto kommt, sollte längere Staus vor der Vorstellung schon mal
einplanen oder besser von vornherein auf den Shuttlebus
ausweichen. Das eng bebaute Gelände ist umgeben von Bauzäunen,
das Vorzelt schmucklos, die Gastronomie überteuert. Solche
Rahmenbedingungen passen nicht zu einem Unternehmen, das sonst
so virtuos auf der Klaviatur des Eventmarketings spielt.
|