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Zirkus Nemo - Tour 2013
www.zirkusnemo.dk ; 70 Showfotos

Kopenhagen, 31. August 2013: Ist das – noch oder schon - Circus? Es gibt ein Chapiteau mit 500 Sitzplätzen, ein wunderschönes Ambiente mit skurrilem Kassenwagen sowie charmanten Wohnwagen und einen einladenden Bogen als Tor zum Circusplatz. In der Show selbst erleben wir ausgewählte Artisten und in diesem Jahr keine Tiere. Anzumerken ist aber, dass 2012 Ingo Stiebner mit seinen Seelöwen zu sehen war. Im Mittelpunkt des Programms steht allerdings der „Herr Direktor“ Søren Østergaard mit unzähligen Comedy-Einlagen. Nicht alle drehen sich um das Thema Circus.

Der gelernte Schauspieler hat sich mit seinem Zirkus Nemo offensichtlich einen Lebenstraum erfüllt. Denn wenn man die inzwischen zehnte Show erlebt, spürt man, dass Østergaard die Circusszene nicht nur sehr genau kennt, sondern auch liebt. Das zeigt sich zum Einen bei den von ihm ausgewählten Circusnummern, zum Anderen in den Comedy-Szenen mit Circusbezug.


Captain Frodo, Dimmare

Beginnen wir mit den artistischen Darbietungen, die gut über die beiden Programmhälften verteilt sind. Nicht mehr dabei, als wir Nemo in Kopenhagen besuchten, waren die Sorellas an der Luftperche und Illusionist Marko Karvo mit seinen Papageien. Sie gingen vertragsgemäß in ihr Engagement im Royal Palace von Kirrwiller. Neu hinzu kamen dafür Captain Frodo und Magier Dimmare, wie auch das extra neu aufgelegte Programmheft verkündet. Captain Frodo stellt einen echten Gewinn für die Show dar. Der inzwischen hauptsächlich in Australien lebende Norweger ist ein echter Freak. Allerdings ein höchst sympathischer. Das nicht mehr vollständig vorhandene Haupthaar hängt in langen Strähnen herunter. Der blonde Schnauzbart ist eines echten Kapitäns würdig. Zu seinem ersten Auftritt erscheint er adrett in Karohose mit passender Weste über dem weißen Hemd. Zunächst verdreht er einen seiner Arme bis über die Schmerzgrenze hinaus. Anschließend baut er einen Turm aus immer kleiner werdenden Tonnen, um ganz oben auf einer Dose thronend seine Füße hinter den Kopf zu stecken. Richtig abgefahren ist dann sein zweiter Auftritt. Nur mit einer knappen weißen Tennisshorts bekleidet betritt er die Bühne. Unter unglaublichen Verrenkungen und „Aushängen“ diverser Gelenke zwängt er seinen kompletten Körper durch die Rahmen von zwei Tennisschlägern. Damit nicht genug. Zur Erklärung gibt er noch zum Brüllen komische Kommentare. Dies dankenswerterweise auf Englisch. Ein unglaublicher Kerl, den wir voraussichtlich auch 2014 bei Nemo sehen können. Weniger in den Rahmen passend ist dagegen der Auftritt von Dimmare. Ganz klassischer Magier mit Tauben ist er sicherlich technisch perfekt, setzt aber mit seinen Zaubereien keine über die Tricks hinausgehenden Akzente.


Picasso junior, Duo Yingling

Ein Garant für Stimmung ist immer wieder Picasso junior. Seine Tischtennisbälle jongliert der spanische Matador zunächst auf einem großen Holzschläger, danach mit dem Mund. Bei den rasanten Tellerjonglagen bezieht er das Publikum ein. Zunächst dürfen ihm zwei Zuschauer Teller zuwerfen, die er elegant returniert. Immer wieder großartig ist sein Gang durch die Reihen des Gradins, während er mehrere Teller jongliert. Satisfaction guaranteed. Zu recht ist er die Pausennummer. Deutlich ruhiger sind die beiden Auftritte des Duo Yingling. Zunächst zeigen die beiden chinesischen Schweizerinnen Antipodenspiele mit Schirmen. Danach kombinieren sie Partner-Equilibristik mit Tücherjonlagen. Beides in fernöstlicher Aufmachung.


Patricia Schumann, Søren Østergaard

Kommen wir nun zu den einen breiten Raum einnehmenden Comedy-Einlagen. Auch wenn sehr viel gesprochen wird und wir kein Wort Dänisch verstehen, kommen wir aus dem Lachen nicht heraus. Das liegt daran, dass die jeweiligen Outfits grandios sind und die verschiedenen Rollen einfach umwerfend gespielt werden. Mimik, Gestik und Akzentuierung überzeugen. Dabei wird auf nichts und niemanden Rücksicht genommen. Schon gar nicht auf sich selbst. Keine Einlage ist zu gewagt, um nicht doch gespielt zu werden. Das alles aber immer auf einem hohen professionellen Niveau, wodurch extreme Peinlichkeiten vermieden werden. Die Gagdichte ist atemberaubend. Als Sketchparterin hat sich Østergaard in diesem Jahr mit Patricia Schumann eine waschechte Circusfrau ausgesucht. Sie stammt aus der bekannten Circusfamilie und ist zudem eine Enkelin von Charlie Rivel. Zum Opening erscheint sie denn auch als prächtige Madame Loyal im Glitzerkleid und mit Federschmuck im Haar. Nachdem das Problem mit ihrem Mikrofon behoben wurde, steht sie dann ohne Perücke und Federschmuck ziemlich gerupft auf der Rundbühne. Jedoch wird die Präsentation aller Artisten tapfer durchgezogen. Østergaard zwängt sich sodann ausschweifend parlierend in verschiedene Ringe. Nachdem er sich so in eine ausweglose Situation manövriert hat, wird er einfach mitsamt seinem Podest herausgefahren. Ein Requisiteur mit Stapler besorgt den Job.


Søren Østergaard

Die menschliche Kanonenkugel wird hier von Patricia Schumann dargestellt, die sich im hautengen Kostüm nicht vor den abgefahrensten Aufwärmübungen scheut. Als das von Østergaard gezündete Geschoss nicht in die gewünschte Flugbahn katapultiert wird, sondern am Ende regungslos auf dem Boden der Bühne liegt, reagiert der Direktor, so wie das im Circus eben ist: „Schnell, die Chinesinnen!“. Die nächste Nummer wird aufgerufen, „the show must go on“. Grandios ist ebenfalls die Großillusion nach der Pause, bei der sich die beiden inklusive weiterer Akteurin in herrlich geschmacklosen und viel Haut zeigenden Kostümen als Magier versuchen. Tierrechtler hätten vermutlich wenig Freude an Schumanns Auftritt als Dompteuse. Im Pelzmantel dirigiert sie nämlich ferngesteuert zwei ausgestopfte Füchse. Geradezu poetisch ist hingegen die Szene, in der Patricia Schumann als Greis im Rollstuhl hereingeschoben wird, um dann mit Hilfe eines Regenschirms über das Drahtseil zu balancieren. Große Lacherfolge erzielt Søren Østergaard auch in seiner offenbar sehr populären Rolle als Vertreter der Bäckerzunft. Sein leider für uns nicht zu verstehender Monolog erntet Lachsalven quasi im Sekundentakt. Auch zwei weitere Soloauftritte lösen eine ähnliche Reaktion bei den Zuschauern aus.

Insgesamt ist die Stimmung über den gesamten Verlauf der Show gigantisch, die Atmosphäre im kompakten Zweimaster grandios. Die Vier-Mann-Band in kurzen Hosen spielt nicht nur wunderbar Musik, sondern ist an einigen Stellen auch in den Ablauf eingebunden. Bleibt noch die eingangs gestellte Frage, inwieweit Nemo denn nun Circus ist. Nemo bietet natürlich kein klassisches Circusprogramm. In die inzwischen variantenreiche Landschaft dieser Unterhaltungsform passt Nemo aber ganz wunderbar hinein. Und noch etwas: Hinsichtlich Eingehen auf Zuschauerinteressen, Programmregie, Atmosphäre und Kreativität können viele klassische Circusse noch einiges von Nemo lernen. Ganz so, wie sich Søren Østergaard einiges beim klassischen Circus abgeguckt hat, würde es auch umgekehrt Sinn machen.

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Text und Fotos: Stefan Gierisch