Schließlich habe das Unternehmen in den 29 Jahren seiner
Existenz die Circuskunst revolutioniert, wie es im Programmheft
selbstbewusst heißt. Und man biete als einziges Unternehmen eine
Verbindung von traditionellem und zeitgenössischem Circus. Das
ist sicher ein wenig dick aufgetragen, vor allem aber ist es
nicht ganz falsch – immerhin hat kaum ein anderes Unternehmen
seinen Circusprogrammen eine so moderne Aufmachung gegeben, ohne
gleichzeitig die Tierdressuren zu verbannen.
"La révolution en
rouge et blanc"
Arlette
Gruss bietet vielmehr Jahr für Jahr Programme, die in ihrer
Struktur mustergültig „klassisch“ sind. Pferde, Raubtiere,
Elefanten sind immer dabei; die traditionelle Clownerie wird
gepflegt; zur internationalen Artistenschar gehören immer auch
große Truppen. „100 % Cirque“ steht auf dem Programmheftcover.
Und doch werden im High-Tech-Chapiteau des Cirque Arlette Gruss
Maßstäbe in Sachen Ton (Guillaume Thomas), Lichtdesign (Julien
Lhomme und Arthur Odin), Kostümbildnerei (Roberto Rosello) sowie
Regie und Choreographie (Bruno Agati, assistiert von Linda
Biasini-Gruss) gesetzt.
Jedes
Programm erhält zudem sein eigenes musikalisches Konzept. So gab
es schon Shows mit vorwiegend ruhigeren Tönen, in der Saison
2013 setzte man vorwiegend auf krachende Sounds à la Flic Flac.
Da ist es besonders wohltuend, dass Komponist Antony Saugé für „History“
durchweg schwungvolle, heitere Melodien mit vielen schönen
Bläsersätzen geschaffen hat. Gespielt werden sie vom elfköpfigen
Orchester unter Sergei Iurco. Direktor Gilbert Gruss betrachtet
sein Unternehmen, das zudem über erstklassiges rollendes und
technisches Material verfügt, insgesamt als „Revolution in Rot
und Weiß“, den Hausfarben des Unternehmens.
Truppe Jinan, Kévon Sagau, John Vernuccio
„Straßburg, seid ihr bereit für die Revolution?“, ruft der
jugendliche Mr. Loyal Kévin Sagau, nach einem Jahr Auszeit
zurückgekehrt, im großen Opening ins Publikum. André Broger
verwandelt sich vorab am Schminktisch vom „Zuschauer“
in den Clown. Dann kommt es zu einem ersten Aufzug des Ensembles
in herrlichen Kostümen unter einem wahren Lichtgewitter; das
Orchester spielt mitreißend, Kévin Sagau singt, Clown Gregory
Bellini zaubert den tanzenden Harlekin Mehdi Rieben herbei. Dann
gehört die Manege der zehnköpfigen Truppe Jinan aus China, die
beim Lassospringen für ein wirbelndes Bild sorgt. Anstelle einer
Exotendressur, sonst fester Bestandteil der Gruss-Programme,
dirigiert John Vernuccio heuer einen Bauernhof. Kühe, Ziegen,
Schweine und Gänse bevölkern die Manege. Es ist mehr der
Überraschungsmoment fürs Publikum als besondere
Dressurleistungen, welche den Charme der Nummer ausmachen.
Zdenek und
Nathalie Supka, Gregory Bellini, Laura-Maria Gruss
Heiter geht es weiter, wenn der große Magier Gregory Bellini an
der Fluchtkiste scheitert. Später gefällt er zum Beispiel auch
beim Glockenspiel, bei der zauberhaften Eier-Wanderung oder wenn
er es unterm Chapiteau schneien lässt.
Seit 2009
ist Zdenek Supka – zugleich Abendregisseur – in allen Programmen
des Cirque Arlette Gruss vertreten und bietet immer wieder neue
Versionen seiner Jonglierkunst. Heuer kehrt er wieder zu seiner
Paradedisziplin, den Bouncingjonglagen, zurück. Blitzschnell
wechselt er immer wieder von der Boden- zur normalen Jonglage.
Die Ballzahl wird diesmal erhöht, indem seine Ehefrau Nathalie
die Bälle in die laufenden Jonglagen einwirft. Letztlich sind es
sieben Bälle, die Supka sicher bewegt. Auch die erst 14-jährige
Direktionstochter Laura-Maria Gruss ist bereits eine feste Größe
in diesem Unternehmen. Seit der vergangenen Saison ist sie
alleine für die Vorführung der Pferdedressuren zuständig.
Diesmal präsentiert sie zunächst – in der Sache
ernsthaft-gekonnt, im Auftreten lächelnd-charmant – eine
Freiheit mit drei dunklen Pferden, dann zwei kleinere braune als
Hürdenspringer. Eine Reihe anspruchsvoller Steiger rundet die
Darbietung ab. Schön wäre eine Ergänzung durch eine größere
Pferdegruppe gewesen.
Duo Lyd, André
Clown André überrascht wieder einmal mit
komplett neuen, fein ausgedachten und wunderbar witzigen, mit
überragender Mimik gespielten
Reprisen. Da wäre zum Beispiel der Versuch, die aus einem
Toaster fliegenden Brotscheiben in einem Korb auf dem Kopf zu
fangen. Ein Eigenleben führt Andrés Akkordeon, das gefüttert und
versorgt werden muss wie ein Baby. Der Teddybär, der von hoch
oben am Mast in ein Planschbecken springen soll, durchschlägt im
Dunkeln – quel Malheur! – die Trommel, auf der André zuvor mit
einem Trommelwirbel für Spannung sorgte. Das
kubanische Duo Lyd – Darien Fraga Levya und seine Freundin Liss
Merry Delgado Sanchez – war bereits 2011 bei Arlette Gruss zu
sehen, damals „anonym“ als Mitglieder der Seilspring-Truppe
Havanna. Inzwischen haben die beiden sich mit zwei erstklassigen
Nummern selbständig gemacht, mit denen wir sie 2013 erstmals im
Circus Nock sahen: Am Mast zeigen sie ihr Können erst im Wechsel
– er mit Variationen der Flagge, sie mit Poledance –, dann
demonstrieren sie gemeinsam Kraft und Können. Riesenapplaus für
diese Darbietung ebenso wie für ihre Fahrrad-Nummer im zweiten
Programmteil. Hier zeigen sie schwierige Hebefiguren.
Flying Regio, Kévin Gruss und Julia
Friedrich, Alfredo Beautour
Bekannt
aus der Vorsaison sind die Flying Regio, die nun aber zu neunt
(!) eine erweitere Flugtrapez-Darbietung präsentieren. Genauer
gesagt handelt es sich um zwei Flugtrapeze nebeneinander; die
Flugbahnen verlaufen entgegengesetzt. So wird das übliche
Repertoire einer guten Flugtrapez-Nummer – u.a. Salto mit
Schraube, Doppelsalto gestreckt, Dreifacher, Passage, Todessturz
aus der Kuppel – aufgrund der abwechselnden Nutzung beider
Flugbahnen in besonders zügiger Abfolge absolviert. Insbesondere
bei den Tricks, bei denen auf beiden Bahnen gleichzeitig
gesprungen wird, weiß man gar nicht, wo man hinschauen soll. Mit fünf
Tigern in verschiedenen Farben zeigt Alfredo Beatour in sicherem
und flüssigem Ablauf eine trickreiche Raubtierdressur: Pyramide,
Sprünge über Podeste und drei Artgenossen, vierfacher Rollover,
Hochsitzer und Fächer mit allen fünf Tieren sowie der gelaufene
Rückwärtssteiger und der gesprungene Vorwärtssteiger gehören –
unter anderem – zum Repertoire. Immer wieder neue artistische
Kreationen zeigt Direktionssohn Kévin Gruss. Nach drei Jahren
Babypause tritt erstmals wieder seine Frau Julia Friedrich mit
ihm auf. Gemeinsam schwebt das junge Paar in einer romantischen
Luftring-Kür unter der Kuppel. Eingeleitet wird die Darbietung
durch eine kurze Einlage von Ludovic als Figur in Vogelgestalt
an den Strapaten.
John Vernuccio und
Ensemble, Rich Metiku, Truppe Jinan
Ein Ballett im engeren Sinne gibt es bei
Arlette Gruss nicht, aber immer wieder große Aufzüge
fantasievoll kostümierter Figuranten in herrlichen Kostümen.
Einmal wird ein weißer Vorhang rings um die Manege emporgezogen,
und die Statisterie präsentiert sich zwischen Piste und Rängen
in Outfits mit LED-Beleuchtung. Als der Vorhang wieder fällt,
haben sich in der Manege bereits vier Elefanten aus dem Hause
Togni zur Pyramide errichtet. Unter der Anleitung von John
Vernuccio zeigen sie ein tiergerechtes Repertoire, bei dem zum
Beispiel Harlekin Mehdi Rieben auf einem Tau zwischen zwei
Elefanten schaukelt. Nochmal gibt es einen solchen
Figuranten-Aufzug, wenn die geheimnisvolle Rich Metiku von
muskelbepackten Männern auf einer Sofa-Sänfte hereingetragen
wird. Genauso sinnlich ist auch der Auftritt dieser
Schlangenfrau aus Äthiopien selbst, die als „Rote Spinne“
arbeitet. Die Truppe Jinan übernimmt nach der Auftaktnummer auch
den Abschluss der Show, nunmehr mit Reifenspringen u.a. auf sich
kreuzenden Bahnen. |