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Cirque Arlette Gruss - Tour 2014
www.cirque-gruss.com ; 98 Showfotos

Straßburg, 31. Mai 2014: 160 Jahre Dynastie Gruss, 240 Jahre Circus in Frankreich: Diese Ereignisse feiert der Cirque Arlette Gruss in seiner aktuellen Produktion „History“. Hintergrund: 1854 lernte der Elsässer Charles Gruss bei einem Gastspiel eines italienischen Familiencircus seine spätere Frau, die Seiltänzerin Maria Martinetti, kennen. Mit ihr begründete er die Circusdynastie Gruss, die sich heute in der 7. Generation befindet. Bereits 1774 hatte Philipp Astley, der Begründer des Circus der Neuzeit, seinen Circusbau in Paris eröffnet. Vor allem jedoch feiert „Arlette Gruss“ mit „History“ seine eigene Geschichte.

Schließlich habe das Unternehmen in den 29 Jahren seiner Existenz die Circuskunst revolutioniert, wie es im Programmheft selbstbewusst heißt. Und man biete als einziges Unternehmen eine Verbindung von traditionellem und zeitgenössischem Circus. Das ist sicher ein wenig dick aufgetragen, vor allem aber ist es nicht ganz falsch – immerhin hat kaum ein anderes Unternehmen seinen Circusprogrammen eine so moderne Aufmachung gegeben, ohne gleichzeitig die Tierdressuren zu verbannen.


"La révolution en rouge et blanc"

Arlette Gruss bietet vielmehr Jahr für Jahr Programme, die in ihrer Struktur mustergültig „klassisch“ sind. Pferde, Raubtiere, Elefanten sind immer dabei; die traditionelle Clownerie wird gepflegt; zur internationalen Artistenschar gehören immer auch große Truppen. „100 % Cirque“ steht auf dem Programmheftcover. Und doch werden im High-Tech-Chapiteau des Cirque Arlette Gruss Maßstäbe in Sachen Ton (Guillaume Thomas), Lichtdesign (Julien Lhomme und Arthur Odin), Kostümbildnerei (Roberto Rosello) sowie Regie und Choreographie (Bruno Agati, assistiert von Linda Biasini-Gruss) gesetzt. Jedes Programm erhält zudem sein eigenes musikalisches Konzept. So gab es schon Shows mit vorwiegend ruhigeren Tönen, in der Saison 2013 setzte man vorwiegend auf krachende Sounds à la Flic Flac. Da ist es besonders wohltuend, dass Komponist Antony Saugé für „History“ durchweg schwungvolle, heitere Melodien mit vielen schönen Bläsersätzen geschaffen hat. Gespielt werden sie vom elfköpfigen Orchester unter Sergei Iurco. Direktor Gilbert Gruss betrachtet sein Unternehmen, das zudem über erstklassiges rollendes und technisches Material verfügt, insgesamt als „Revolution in Rot und Weiß“, den Hausfarben des Unternehmens.


Truppe Jinan, Kévon Sagau, John Vernuccio

„Straßburg, seid ihr bereit für die Revolution?“, ruft der jugendliche Mr. Loyal Kévin Sagau, nach einem Jahr Auszeit zurückgekehrt, im großen Opening ins Publikum. André Broger verwandelt sich vorab am Schminktisch vom „Zuschauer“ in den Clown. Dann kommt es zu einem ersten Aufzug des Ensembles in herrlichen Kostümen unter einem wahren Lichtgewitter; das Orchester spielt mitreißend, Kévin Sagau singt, Clown Gregory Bellini zaubert den tanzenden Harlekin Mehdi Rieben herbei. Dann gehört die Manege der zehnköpfigen Truppe Jinan aus China, die beim Lassospringen für ein wirbelndes Bild sorgt. Anstelle einer Exotendressur, sonst fester Bestandteil der Gruss-Programme, dirigiert John Vernuccio heuer einen Bauernhof. Kühe, Ziegen, Schweine und Gänse bevölkern die Manege. Es ist mehr der Überraschungsmoment fürs Publikum als besondere Dressurleistungen, welche den Charme der Nummer ausmachen.


Zdenek und Nathalie Supka, Gregory Bellini, Laura-Maria Gruss

Heiter geht es weiter, wenn der große Magier Gregory Bellini an der Fluchtkiste scheitert. Später gefällt er zum Beispiel auch beim Glockenspiel, bei der zauberhaften Eier-Wanderung oder wenn er es unterm Chapiteau schneien lässt. Seit 2009 ist Zdenek Supka – zugleich Abendregisseur – in allen Programmen des Cirque Arlette Gruss vertreten und bietet immer wieder neue Versionen seiner Jonglierkunst. Heuer kehrt er wieder zu seiner Paradedisziplin, den Bouncingjonglagen, zurück. Blitzschnell wechselt er immer wieder von der Boden- zur normalen Jonglage. Die Ballzahl wird diesmal erhöht, indem seine Ehefrau Nathalie die Bälle in die laufenden Jonglagen einwirft. Letztlich sind es sieben Bälle, die Supka sicher bewegt. Auch die erst 14-jährige Direktionstochter Laura-Maria Gruss ist bereits eine feste Größe in diesem Unternehmen. Seit der vergangenen Saison ist sie alleine für die Vorführung der Pferdedressuren zuständig. Diesmal präsentiert sie zunächst – in der Sache ernsthaft-gekonnt, im Auftreten lächelnd-charmant – eine Freiheit mit drei dunklen Pferden, dann zwei kleinere braune als Hürdenspringer. Eine Reihe anspruchsvoller Steiger rundet die Darbietung ab. Schön wäre eine Ergänzung durch eine größere Pferdegruppe gewesen.


Duo Lyd, André

Clown André überrascht wieder einmal mit komplett neuen, fein ausgedachten und wunderbar witzigen, mit überragender Mimik gespielten Reprisen. Da wäre zum Beispiel der Versuch, die aus einem Toaster fliegenden Brotscheiben in einem Korb auf dem Kopf zu fangen. Ein Eigenleben führt Andrés Akkordeon, das gefüttert und versorgt werden muss wie ein Baby. Der Teddybär, der von hoch oben am Mast in ein Planschbecken springen soll, durchschlägt im Dunkeln – quel Malheur! – die Trommel, auf der André zuvor mit einem Trommelwirbel für Spannung sorgte. Das kubanische Duo Lyd – Darien Fraga Levya und seine Freundin Liss Merry Delgado Sanchez – war bereits 2011 bei Arlette Gruss zu sehen, damals „anonym“ als Mitglieder der Seilspring-Truppe Havanna. Inzwischen haben die beiden sich mit zwei erstklassigen Nummern selbständig gemacht, mit denen wir sie 2013 erstmals im Circus Nock sahen: Am Mast zeigen sie ihr Können erst im Wechsel – er mit Variationen der Flagge, sie mit Poledance –, dann demonstrieren sie gemeinsam Kraft und Können. Riesenapplaus für diese Darbietung ebenso wie für ihre Fahrrad-Nummer im zweiten Programmteil. Hier zeigen sie schwierige Hebefiguren.  


Flying Regio, Kévin Gruss und Julia Friedrich, Alfredo Beautour

Bekannt aus der Vorsaison sind die Flying Regio, die nun aber zu neunt (!) eine erweitere Flugtrapez-Darbietung präsentieren. Genauer gesagt handelt es sich um zwei Flugtrapeze nebeneinander; die Flugbahnen verlaufen entgegengesetzt. So wird das übliche Repertoire einer guten Flugtrapez-Nummer – u.a. Salto mit Schraube, Doppelsalto gestreckt, Dreifacher, Passage, Todessturz aus der Kuppel – aufgrund der abwechselnden Nutzung beider Flugbahnen in besonders zügiger Abfolge absolviert. Insbesondere bei den Tricks, bei denen auf beiden Bahnen gleichzeitig gesprungen wird, weiß man gar nicht, wo man hinschauen soll. Mit fünf Tigern in verschiedenen Farben zeigt Alfredo Beatour in sicherem und flüssigem Ablauf eine trickreiche Raubtierdressur: Pyramide, Sprünge über Podeste und drei Artgenossen, vierfacher Rollover, Hochsitzer und Fächer mit allen fünf Tieren sowie der gelaufene Rückwärtssteiger und der gesprungene Vorwärtssteiger gehören – unter anderem – zum Repertoire. Immer wieder neue artistische Kreationen zeigt Direktionssohn Kévin Gruss. Nach drei Jahren Babypause tritt erstmals wieder seine Frau Julia Friedrich mit ihm auf. Gemeinsam schwebt das junge Paar in einer romantischen Luftring-Kür unter der Kuppel. Eingeleitet wird die Darbietung durch eine kurze Einlage von Ludovic als Figur in Vogelgestalt an den Strapaten.


John Vernuccio und Ensemble, Rich Metiku, Truppe Jinan

Ein Ballett im engeren Sinne gibt es bei Arlette Gruss nicht, aber immer wieder große Aufzüge fantasievoll kostümierter Figuranten in herrlichen Kostümen. Einmal wird ein weißer Vorhang rings um die Manege emporgezogen, und die Statisterie präsentiert sich zwischen Piste und Rängen in Outfits mit LED-Beleuchtung. Als der Vorhang wieder fällt, haben sich in der Manege bereits vier Elefanten aus dem Hause Togni zur Pyramide errichtet. Unter der Anleitung von John Vernuccio zeigen sie ein tiergerechtes Repertoire, bei dem zum Beispiel Harlekin Mehdi Rieben auf einem Tau zwischen zwei Elefanten schaukelt. Nochmal gibt es einen solchen Figuranten-Aufzug, wenn die geheimnisvolle Rich Metiku von muskelbepackten Männern auf einer Sofa-Sänfte hereingetragen wird. Genauso sinnlich ist auch der Auftritt dieser Schlangenfrau aus Äthiopien selbst, die als „Rote Spinne“ arbeitet. Die Truppe Jinan übernimmt nach der Auftaktnummer auch den Abschluss der Show, nunmehr mit Reifenspringen u.a. auf sich kreuzenden Bahnen.

Insgesamt bietet „History“ also ein attraktives und starkes Programm, das in ganz exzellenter Weise – besonders herausragend diesmal die Musik – in Szene gesetzt wird. Also ein würdiger Blick zurück auf die „History“ und natürlich auch ein Blick nach vorne. Bereits in der Saison 2015 wird es nämlich erneute Grund zum Feiern geben – dann feiert der Cirque Arlette Gruss sein 30-jähriges Bestehen.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Erber