In seiner 30.
Saison gibt der Circus Monti das Bild eines kerngesunden,
prosperierenden Unternehmens ab. Am Stammsitz in Wohlen steht
die Erweiterung des Winterquartiers kurz vor der Fertigstellung.
Herzstück des 65 Meter langen und zwölf Meter hohen neuen
Gebäudes ist ein Trainingsraum, der 1:1 den Gegebenheiten im
Chapiteau entspricht – so entstehen noch bessere
Voraussetzungen, um vollständig durchkomponierte Themenshows
einstudieren zu können. Auch der Circus selbst mit seinem
schmucken Wagenpark und den gelb-roten Zeltanlagen wirkt wie aus dem Ei gepellt. Ein Direktor
in den besten Jahren und zwei heranwachsende Söhne, die
engagiert im Unternehmen mitarbeiten, runden den Eindruck eines
modernen Muster-Circus ab, der künstlerisch und wirtschaftlich
gleichermaßen erfolgreich ist.
Zeltanlagen
Die totale Hingabe an die Kunst,
selbst wenn diese nicht zum Broterwerb reicht, und das
Aufbegehren gegen konventionelle Lebensstile kennzeichnen
dagegen die Bohème, um welche sich die Monti-Produktion 2014
dreht. Bohemiens, das sind im ursprünglichen Sinne Künstler –
Maler, Schriftsteller, Musiker –, welche nicht ein einheitlicher
künstlerischer Stil, sondern der Kampf gegen bürgerliche Normen
und das Streben nach künstlerischer Freiheit eint.
Als Vorlage und
Inspiration des Monti-Stückes dient der Roman
„Les scenes de la vie de bohème“
von Henri Murger
aus dem Jahr
1851.
Jedoch lösen Andreas Muntwyler (Regie), Ulla Tikka (Regie/Choreographie)
und Lukas Stäger (Musik) das Leben der Bohemiens von Raum
und Zeit, die Szenen könnten gestern oder heute in jeder
Großstadt spielen. Hier sitzt man miteinander im Café und trifft
sich nachts auf den Boulevards, ob die Motive dafür nun die
intellektuelle Auseinandersetzung, der Lebensgenuss, die tristen
Wohnverhältnisse oder die Suche nach dem großen Ruhm sind. So
könnten auch junge Artisten, für die Selbstverwirklichung mehr
als Sicherheit zählt, einer modernen Bohème zugerechnet werden.
Jedenfalls wurden für die Show Artisten gesucht, die den Beruf
als Berufung sehen und sich mit Leidenschaft in den
Entstehungsprozess der Produktion einbringen wollten.
Johannes, Tobias
und Mario Muntwyler, Jacob Sharpe
Die
Direktionssöhne Tobias und Mario Muntwyler haben sich für ihre
Darbietungen wieder einmal einen Partner gesucht, diesmal einen
gemeinsamen. Zunächst ist es Tobias Muntwyler, der mit dem
US-Amerikaner Jacob Sharpe die Diabolos fliegen lässt. Auf
interessante Weise, zum Beispiel Rücken an Rücken im Kreis,
werden die Diabolos weitergegeben. Bis zu vier Diabolos halten
die beiden gemeinsam bzw. Sharpe sogar alleine in der Luft. Das
Publikum ist bereits bei dieser ersten Nummer nach der
Eröffnungsszene voll dabei und geht begeistert mit. Der jüngere
Bruder Mario Muntwyler jongliert dagegen gemeinsam mit Sharpe
Keulen. Da werden zum Beispiel fünf Keulen über den Rücken an
den Partner weitergegeben oder werden gemeinsam zehn Keulen
ausdauernd in der Luft gehalten. Auch Prinzipal Johannes
Muntwyler und seine Lebensgefährtin Armelle Fouqueray stehen
wieder einmal gemeinsam in der Manege und haben sich eine Quick-Change-Nummer mit komischen Zaubereien erarbeitet. So
tauchen immer wieder verschiedenfarbige Tücher auf, welche die
Farbe des als nächstes folgendes Kleides oder Anzuges
vorwegnehmen. Nicht fehlen darf hier natürlich der effektvolle
Kostümwechsel im Flitterregen. In einem weiteren kurzen Auftritt
ist Johannes Muntwyler mit einer anspruchsvollen Kombination von
Ringjonglagen und Ball-Balancen, u.a. auf einem Mundstab, zu
sehen.
Duo Kapelle
Sorelle,
Francois Bouvier (Kanada) und
Katharina Dröscher
Neben den
vorwiegend jüngeren Artisten nehmen die beiden reiferen Damen
des Duos „Kapelle Sorelle“, Ursina Gregori und Charlotte
Wittwer, breiten Raum ein. Mit ihrem heiter-melancholischen
Gesang und verschiedenen Akkordeons spinnen sie den roten Faden
der Show. Eines der spezialangefertigten Instrumente hat einen
Balg von sieben Metern Länge, was besonders kreative
Einsatzmöglichkeiten bietet. Ohnehin spielt die Musik eine
besonders wichtige Rolle im diesjährigen Programm – und dies
nicht nur, weil die Kompositionen von Lukas Stäger besonders
vielseitig und mitreißend sind. Die besondere Musikalität der
Show kommt schon dadurch zum Ausdruck, dass die sechs Musiker
ins Zentrum des eher abstrakt gehaltenen, von Stefan Hegi
gestalteten Bühnenbildes mit verschiedenen Drehtüren platziert
wurden, anstatt wie gewohnt links an der Seite zu sitzen.
Mehrmals agieren einzelne oder mehrere Musiker auch direkt in
der Manege. Ein besonderer Effekt ist auch die Begleitung der
Drahtseilnummer von Francois Bouvier (Kanada) und Katharina
Dröscher (Schweiz) durch den Sprechgesang von Robert James
Webber. „Das Drahtseil hat kein Mitleid für die, die auf ihm
tanzen”, heißt es da auf Englisch. Bouvier zeigt hier den
Rückwärtssalto oder zieht die rücklings liegende Partnerin über
das Drahtseil. Am Ende lassen sich beide, Rücken an Rücken, ins
Sitzen gleiten.
Jacob Sharpe,
Sarav Roun mit Ensemble,
Anaëlle Molinario
Das
außergewöhnliche Talent von Anaëlle Molinario (Frankreich) als
Kontorsionistin ist uns bereits während ihres Engagements im
Cirque Starlight 2013 aufgefallen. Hier glänzt sie nun mit einer
komischen Nummer im Stile von „Mensch oder Puppe“. Sie spielt
eine Frau, der scheinbar unkontrolliert alle mögliche
Körperteile „wegklappen“, so dass sie sich ungewollt in den
absurdesten Positionen und Verrenkungen wiederfindet. Ein
herrlicher Spaß! In ihrem zweiten Auftritt liefern ihre
Bewegungen den ironischen Kommentar zur Unterhaltung des Duos
„Kapelle Sorelle“ („Alles renkt sich wieder ein“). Eher für die
ruhigeren Töne ist dagegen Robert James Webber (USA) zuständig.
Er jongliert mit einem einfach Besen, den er unablässig rotieren
und über seinen Körper kreisen lässt. Er kickt den Besen mit den
Füßen ihn die Luft, lässt ihn fliegen und fängt ihn ebenfalls
wieder mit den Füßen – Bravo-Rufe aus dem Publikum.
Im
Caféhaus finden wir uns auch nach der Pause wieder, wo das
Ensemble um einen runden Tisch sitzt. Auf der Tischplatte läuft
Sarav Roun (Kambodscha) über lose aufgestellte Flaschen und
jongliert Jacob Sharpe versiert mit einer großen Zahl Bällen.
Die Hand-auf-Hand-Akrobatik von Sopheak Houn und Sarav Roun musste
bei unserem Besuch verletzungsbedingt pausieren, ist inzwischen
aber wieder im Programm; Roun zeigte jedoch im
Eröffnungsbild solistisch Springakrobatik.
Sanni Lehtinen und Nella
Niva, Aimé Morales
Darüber hinaus sind
alle Artisten natürlich ständig in verschiedenste Bilder der
Show eingebunden, auch wenn richtige Ensemblenummern heuer
weniger vertreten sind. Zu nennen wäre beispielsweise ein Tanz
von sechs männlichen Artisten mit Stühlen und akrobatischen
Einlagen. Unter ihrem barocken ausladenden Kleid versteckt Nella Niva noch einige weitere Damen, die an verschiedenen Stellen
zwischen den Stoffbahnen auftauchen und sich mit der
Kleidträgerin um rosa Zuckerwatte balgen – Ausdruck inniger
Lebenslust. Zu den äußerst kraftvollen Drehungen und Wendungen
des Venezuelaners Aimé Morales im Cyrrad muss man wohl nicht
viel sagen, außer dass sie mit zwei Spezialpreisen, Jury-Gold
und dem Publikumspreis beim aktuellen Cirque de Demain in Paris
geehrt wurde. Dies spricht für sich. Für den Abschluss des
Programms sind jedoch die Finninnen Sanni Lehtinen und Nella
Niva am Trapez zuständig, die sich zwischendurch nur mit jeweils
einem Unterschenkel aneinander halten! Gewagte Voltigen und
Salti, nur durch Matten abgesichert, setzen der Darbietung die
Krone auf.
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