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Circus Harlekin - Tour 2016
www.circusharlekin.ch ; 105 Showfotos

Thun, 18. März 2016: Welch ein Kontrast. Am Abend zuvor haben wir noch die Saisonpremiere des Circus Knie erlebt, und jetzt sitzen wir im Chapiteau auf der Allmend in Thun. Statt Hochglanzcircus gibt es eine bunte Mischung aus bodenständiger Clownerie, Dressuren mit Haustieren und internationalen Artisten. Als Crossover oder Fusion mag man das in anderen Disziplinen bezeichnen. Für mich war es der erste Besuch im Circus Harlekin. Damit konnte ich endlich eine wahre circensische Bildungslücke schließen. Viel zu spät, denn dieser ganz besondere Circus ist bereits zum 24. Mal auf Tournee.

„Kuuuhl...“ lautet das aktuelle Programm-Motto. Dieses kann man gleich mehrfach deuten. Harlekin reist viel in ländlichen Gebieten, die dortige Bevölkerung gehört zu den treuen Fans. Zwei Kühe sind Teil der Dressurnummer mit Bauernhoftieren. Und natürlich ist der Circus Harlekin auch „cool“ mit Doppel-O. Wobei „cool“ hier sehr weit gefächert ist.


Pedro (Peter Pichler), Madama Nica (Monika Aergerter), Lügg (Lukas Böss)

Das fängt bereits bei der lässigen, originellen Begrüßung an. Die Direktoren Peter Pichler und Monika Aegerter, alias Pedro und Madame Nica, stehen in der Manege und rufen ihre Artisten an. Die melden sich aus dem Zuschauerraum und teilen mit, dass sie gerade im Circus Harlekin seien und es ihnen dort gefalle. Zu einem Song über Handys kommen sie in die Manege, wo es eine ausgelassene Begrüßungs-Choreographie gibt. Die beiden Direktoren erleben wir zudem im großen Clownsentree, denn Humor ist bei Harlekin Chefsache. Gemeinsam mit Lukas Böss, alias Clown Lügg, spielen Les Nicas eine herrliche Restaurantszene. Die Dame will einen netten Abend erleben. Kellner und Koch geben sich zwar redlich Mühe, aber es will einfach nicht so gelingen, wie sie sich das vorstellen. Natürlich ist eine Schwingtür im Einsatz, fliegen die Spaghetti, und es wird reichlich mit Wasser gespritzt. Ein wunderbarer Spaß nach bekanntem Muster, aber eigenständig umgesetzt. Sogar eine Großillusion ist integriert. Hinzu kommt die ein oder andere durchaus deftige Note. Noch einmal erleben wir das Trio. Dann in einer Szene um die kleptomanisch veranlagte Schlafwandlerin. Madame Nica und Lügg lassen zudem auf dem Gradin ein Taschentuch von einem zum anderen wandern.


Frank Bogino, Tito Medina

Damit nicht genug an Manegenkomik. Im zweiten Jahr dabei ist Frank Bogino. Zunächst nimmt er den Kampf mit einem recht labilen Fahrrad auf, dass immer wieder Teile verliert. Beim erneuten Zusammenbauen verletzt er sich an den unterschiedlichsten Körperteilen. Eine Dame aus dem Publikum darf den Italiener mit Las Vegas-Erfahrung beim Heilungsprozess unterstützen. Er verabschiedet sich mit einem Lied, das er auf zwei Trompeten gleichzeitig spielt. Seinen großen Auftritt hat Bogino nach der Pause, wenn wir ihn als Bauchredner erleben dürfen. Zunächst leiht er Tina Turner und Elvis Presley seine Stimme. Neu für mich ist die Technik, wie er einen Zuschauer zum Sprechen bringt. Der Gast bekommt eine zweite untere Gesichtshälfte aus Gummi. Darüber kann Bogino die Lippen seines Partners mit einer Mechanik quasi fernbedienen. Das ist sicher sehr effektiv und lustig, erinnert aber zumindest mich ein wenig an Frankensteins Gruselkabinett. In jedem Fall aber beweist Frank Bogino seine unbestrittenen Fähigkeiten als Bauchredner. Tito Medina ist es zu verdanken, dass Harlekin den wohl einzigen Circuselefanten der Schweiz im Programm hat. Folgerichtig bildet er die Pausennummer. Wenngleich dieser Dickhäuter eine eher dünne Haut hat, erwächst er nach dem Aufblasen zu stattlicher Größe. Um Luftballons geht es ebenfalls in Medinas nächstem Auftritt. Zunächst verschenkt er diese an eine Zuschauerin, dann kämpft er selber mit einem überlebensgroßen Exemplar. Letztendlich steckt sein ganzer Körper darin, nur noch der Kopf schaut heraus. Ein lebhaftes Spiel, zu dem Jodelmusik läuft. Für die eigene musikalische Begleitung sorgt Tito Medina, wenn er Kopfstand auf einer Puppe macht. Denn dann spielt er kopfüber Trompete.


Nanou, Duo Rapolli, Suellen Sforzi

Mit von der Partie ist auch Medinas Partnerin Nanou. Die Französin ist eine hervorragende Equilibristin. Zu wunderbarer Gitarrenbegleitung arbeitet sie ruhig ihre Kür. Äußerst sympathisch zeigt sie variantenreich Handstände. Dabei geht es durchaus hoch hinaus. Die dynamischen Partnerjonglagen des Duo Rapolli konnten wir unter anderem schon beim Circus Louis Knie junior erleben. Gekonnt werfen sich Helena und Antonin ihre Keulen zu. Damit jonglieren die beiden sogar noch, wenn Helena auf dem Kopf ihres Partner steht. Zudem arbeitet Antonin im Solo rasante Touren mit Fußbällen. In einer weiteren Nummer steckt Helena ihren Körper in ein pinkes Röhrenkostüm und beweist darin als „Human Slinky“ ihre Beweglichkeit. Ebenfalls zwei Auftritte haben Nyame Ye. Die drei Jungs aus Ghana bringen die Lebensfreude des afrikanischen Kontinents in die Schweiz. Zunächst heizen sie mit ihren Feuerspielen ordentlich ein. Selbst ein „heißer“ Limbotanz unter einer brennenden Stange hindurch gehört dazu. Mit Sprüngen und Pyramiden reißen sie das Publikum direkt vor dem Finale ein zweites Mal mit. Was wie ein ausgelassenes Spiel aussieht, erfordert natürlich artistisches Können. Damit beeindruckt einmal mehr Suellen Sforzi. In den letzten beiden Jahren haben wir die gelenkige Italienerin bei Herman Renz und Pinder erlebt. Jetzt verbiegt sie ihren Körper in der Schweiz. Das macht sie so charmant, dass man gar nicht darüber nachdenken mag, welche Knochen die Übungen eigentlich unmöglich machen sollten. Ihre Kunststücke aus der Kontorsion kombiniert sie mit Handständen. So etwa beim Schlusstrick, wenn sie mit Pfeil und Bogen einen Luftballon zerschießt. Den Bogen bedient sie mit den Füßen, während sie ihren Körper auf den Händen im Gleichgewicht hält.


Helena Rapolli, Nicole Pichler, Susanne Mani

Damit sind wir bei den Tierdressuren. Hier erleben wir noch einmal Helena Rapolli. Mit ihrem Parson Russel Terrier Jaky präsentiert sie eine vertraute Zusammenarbeit. So beweist sie, dass auch mit nur einem Hund eine ansprechende Darbietung möglich ist. Erst recht dann, wenn der Vierbeiner so gelehrig ist. Vom schwedischen Cirkus Olympia kommt der Sechserzug Friesen. Dieser läuft am Premierenabend noch etwas zu schnell. Obwohl sie die Tiere gerade erst übernommen hat, hat Nicole Pichler alles bestens im Griff. Selbst bei hoher Geschwindigkeit zeigen die Pferde ein trickreiches Programm. Wenn sich Vorführerin und Friesen noch besser aufeinander abgestimmt haben, wird diese schöne Freiheit ihre ganze Wirkung entfalten. Ziegen, Kühe und Ponys hören auf das Kommando von Susanne (Mani). Die Ziegen demonstrieren ihre Balancierkünste, je zwei Kühe und Ponys erfreuen mit einer abwechslungsreichen Laufarbeit, Karussell inklusive. Die Rinder beherrschen sogar das Kompliment. Bemerkenswert, wie Susanne hier jedes Jahr neue Darbietungen dressiert. Zumal sie noch andere Aufgaben beim Circus Harlekin wahrnimmt. Begleitet wird das Programm von der sechsköpfigen Harlekin-Band, die in der Mitte des Artisteneingangs sitzt. Sie spielt natürlich auch beim Finale, in dem sich alle Artisten herzlich vom Publikum verabschieden und die beiden Direktoren noch einmal als Sänger zu hören sind.

Damit geht ein ganz besonderer Abend zu Ende. Einer, den ich nicht so schnell vergessen werde. Tiere, Clowns und Akrobaten – alles was zu einem Circus gehört, ist dabei. Aber doch ganz anders präsentiert, als man es schon hunderte Male gesehen hat. Auf jeden Fall mit sehr viel Liebe, Herzblut. Das spürt der Zuschauer, das nimmt er mit nach Hause. Und deswegen kommt er wohl auch jedes Jahr wieder. Ich jedenfalls freue mich schon auf 2017 und das 25-jährige Jubiläum des Circus Harlekin.

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Text und Fotos: Stefan Gierisch