Ganz
ehrlich, ich habe sie vermisst. Genauso wie ich die schon seit vielen
Jahren nicht mehr gezeigte Raubtiernummer vermisse. Nunmehr gibt es in
der Show nur noch Pferde, Kamele, Zebras und Lamas zu sehen. Es fehlt
die Vielfalt, die ich von einem, wenn nicht gar von dem, europäischen
Spitzencircus erwarte. Damit verbunden ist, dass seitens der
Direktion aktuell nur noch die Familie von Fredy Knie junior mit eigenständigen
Darbietungen zu erleben ist. Franco Knie junior übernimmt Begrüßung und
Verabschiedung, sein Sohn Chris Rui ist Teil des Openings mit David
Larible und Bingo.
David Larible
Noch
etwas hat sich geändert. Statt Französisch spricht Knie jetzt Englisch.
Aus "Phénoménal", "Émotions" oder "Passion Cirque" wurde "Smile", so
der Titel der diesjährigen Produktion. Damit sind wir beim Star der
Show, der auch als Plakatmotiv dient. Nach einem Jahr Pause kehrt David
Larible zum Schweizer National-Circus zurück. Als Clown ist er natürlich die bestmögliche
Wahl, das Publikum feiert ihn. Dank seines großen Repertoires gibt es
keine Wiederholungen zum letzten Engagement. Als nach seinem Platz
suchender Gast gerät er unvermittelt in die bunte Welt des Circus. Die
Bingo-Artisten helfen ihm in einem großen, farbenfrohen Bild bei der
Verwandlung vom Zuschauer in einen Clown. Es ist eine moderne Variante
des bekannten "Larible-Openings", bei der die explizite Suche nach
einem Ersatz für den ausgefallenen Spaßmacher entfällt. Groß inszeniert
ist das fröhliche Jonglieren und Werfen von Tellern, bei dem es
ordentlich Scherben gibt. Ebenso das ungewöhnlich besetzte Orchester.
Bei beiden Nummern bezieht Larible Zuschauer ein, die mindestens
genauso viel Spaß haben wie die Gäste auf dem Gradin. In einem
weiteren Auftritt versucht er, einem Lichtpunkt mit Wasser beizukommen.
Später verbietet ihm Sprechstallmeister Enrico Caroli das Benutzen
seiner Spieluhr und zerstört sie gar. Natürlich gewinnt Larible am Ende
und lässt mit kindlicher Freude die Melodie doch wieder erklingen.
Hinreißend ist Laribles Version von Frank Sinatras „My Way“, welches
er in unterschiedlichen Sprachen singt. Sogar als ihm das Mikrofon
weggenommen wird, kann er das Lied fortsetzen. Nach dem Finale
verwandelt er sich wieder in den Zuschauer, als der er gekommen ist.
Chanel Marie Knie holt ihn ab. David Larible darf die Manege durch den
Artisteneingang verlassen. Er gehört nun zu den Circusleuten.
David Larible junior, Shcherbak & Popov, Duo TwinSpin
Ebenfalls
dabei sind Laribles Kinder. David junior jongliert nach dem Opening mit
Keulen, Reifen und Hüten. Er versteht sein Handwerk, hinsichtlich
Manegenpräsenz ist aber noch Luft nach oben. Shirley hat eine neue
Luftnummer am Netz einstudiert. Allerdings kommt diese nicht an ihre
wirklich grandiose Kür an den Strapaten heran. Immer wieder
faszinierend zu sehen, wie Shcherbak & Popov ganz locker und leicht
schwierigste Figuren der Partner-Equilibristik zeigen. Zu „Singing in
the rain“ balanciert Sergii Popov seinen Partner Nikolay Shcherbak auf
den Händen. Oder aber wirft ihn in die Luft, um ihn sicher wieder
aufzufangen. Variantenreich und leistungsstark ebenfalls ihre
gemeinsamen Handstände. Während die Ukrainer eher leger in Latzhosen
auftreten, präsentieren sich Benno Jacob und Lukas Stelter ganz
Business-like. Ihre Beraterkoffer haben sie gleich mitgebracht. Darin
befinden sicher aber weder Hochglanz-Präsentationen noch iPads, sondern
Diabolos. Mit ihnen wirbeln die Absolventen der Staatlichen
Artistenschule in Berlin virtuos durch die Manege. Das Duo TwinSpin
präsentiert eine ungeheuer dynamische, mitreißende Choreographie. Mal
werfen sie sich die Diabolos gegenseitig zu, mal jonglieren sie
synchron oder zeigen andere aufeinander abgestimmte Abläufe. Das alles
natürlich auf hohem artistischen Niveau. Wie Shcherbak & Popov
verstehen sie es zudem meisterlich, mit dem Publikum zu spielen.
Pas de deux und Spiegel-Trapez aus Nordkorea, Black & White Fantasy
Bei
den weiteren Darbietungen aus der Sparte Akrobatik entführt uns Knie
nach Asien. Zunächst erleben wir ein höchst ungewöhnliches Pas de deux
aus Pyongyang. Mit einem Mundstab balanciert die Dame während der
gesamten Darbietung ein Tablett mit Champagnergläsern, welches auf
einem Säbel ruht. Zunächst tanzt sie auf dem Boden, dann auf den
Schultern und den Oberarmen ihres Partners. Letzteres sogar auf Spitzen
und auf einem Bein. Damit nicht genug. Weiter es geht am Trapez. Er
hängt kopfüber und hält sie an einem Fuß. Mit dem anderen jongliert sie
einen Reifen, mit den Händen vier Bälle. Phänomenal. Ungewöhnlich
platziert, genießen wir die große Luftnummer aus Nordkorea direkt nach
der Pause. Das Spiegel-Trapez erlaubt elegante Sprungkombinationen mit
höchsten Schwierigkeitsgraden. Fast ohne Pause erleben wir fließende
Flugsequenzen, die schier unglaublich scheinen. Höhepunkt ist der
vierfache Salto auf einer Entfernung von vierzehn Metern. Die
Handstand- und Equilibristik-Performance „Black & White Fantasy“
der China National Acrobatic Troupe trat schon in verschiedenen
Besetzungen auf. Etwa bei den Weihnachtscircussen in Stuttgart und
Heilbronn. In Schwarz und Weiß zaubert das Quintett eindrucksvolle
Bilder mit anspruchsvollster Akrobatik. Allerdings bekommt man hier
offensichtlich nicht die Optimalbesetzung zu sehen. Wurde nachmittags
in der Hauptprobe noch (vergebens) versucht, den Spagat auf zwei
Untermännern mittels Longe zu retten, behielt bei der Saisonpremiere
der Untermann gleich die Beine am Boden. So bleibt insbesondere der
letzte Trick in Erinnerung, bei dem das Requisit ausgefahren wird,
während sich ein Artist an der Spitze immer schneller im Kopfstand
dreht. Drei weitere zeigen an tieferliegenden Plattformen ihre Tricks.
Inzwischen wurden die Chinesen als Schlussnummer des Programms durch
David Laribles Orchester abgelöst.
Maycol Errani
Das
erste Pferde-Tableau gehört Mary-José und Fredy Knie junior. Es beginnt
Fredy Knie junior mit einer Hohen Schule. Seine Gattin präsentiert
einen Sechserzug weißer Araber. Gewohnt elegant dirigiert sie diese
Freiheit. Dabei agiert sie aber immer, so scheint es, mit einem
leichten Augenzwinkern. Äußerst charmant und ungemein sympathisch.
Verstärkt wird diese Vorführung durch den Gesang von David Larible. Es
folgt noch einmal Fredy Knie junior, der Ende September seinen 70.
Geburtstag feiern darf. In seine Dressur mit fünf Pferden integriert er ein Kind aus
dem Publikum. Damit sorgt er nicht nur für wunderbare Momente, die das
Vertrauen der Tiere zum Menschen demonstrieren, sondern auch für
herzlichen Humor. Nach dem großen Karussell im vergangenen Jahr erleben
wir Maycol Errani nun mit einem Sechserzug Friesen. Eindrucksvoll
beginnt dieser Block mit Errani auf dem Rücken eines Friesen. Beide
stehen auf einer sich drehenden Spiegelplattform, die opulent angestrahlt
wird. Es folgt eine fast spielerisch wirkende Freiheit, die ebenfalls
das enge Miteinander von Mensch und Tier spüren lässt. Herauszuheben
sind an dieser Stelle zwei Tricks. Bei dem einen lässt der in der
Manegenmitte stehende Maycol Errani die Pferde einzeln auf sich
zukommen, bis alle zusammen einen Stern bilden. Allerdings nicht wie
gewohnt mit dem Kopf zur Mitte, sondern rückwärts mit dem Hinterteil.
Diese Figur bilden die Friesen kurz danach erneut, dann allerdings mit
dem Kopf zum Dresseur. Alle sechs Tiere zeigen dabei ein Kompliment.
Seine Gattin Géraldine Knie überzeugt mit einer Freiheitsdressur, in
welcher sich temperamentvolle Zebras, prachtvolle Kamele und grazile
Lamas zu anspruchsvollen Abläufen formieren. Im Wechsel zeigt das Paar
Steiger mit verschiedenen Pferden.
Fratelli Errani und Chanel Marie Knie, Ivan Frédéric Knie, Charles und Alexandre Gruss
Maycol
Errani ist zudem Teil der Pausennummer. Diese verwöhnt das Auge dank
mitreißender Reiterspiele. Zunächst präsentieren Maycol, Wioris und
Guido Errani Pyramiden auf drei Kaltblütern. Auf der Spitze thront
wagemutig Chanel Marie Knie. Die noch sehr junge Dame beweist damit,
dass sie ein Circuskind mit Leib und Seele ist. Gleiches gilt für ihren
älteren Bruder Ivan Frédéric, der schon seit vielen Jahren in
verschiedenen Disziplinen im Rampenlicht steht. 2016 nun ist er in der
Akrobatik zu Pferd zu sehen. Den tragenden Part dabei haben die Fratelli Errani. Sprünge auf dem Pferd sowie der Salto von Pferd zu
Pferd sind zu sehen. Den vielzitierten Glücksgriff hat die Familie Knie
mit dem Engagement von Charles und Alexandre Gruss gemacht. Die Enkel
des französischen Circusdirektors Alexis Gruss ergänzen die Arbeit der
Fratelli Errani und übernehmen dann mit furiosen Jonglagen zu Pferd.
Geschwindigkeit, perfekte Ausstrahlung und nicht zuletzt artistisches
Können lassen ihre Touren mit Keulen zu einem circensischen Hochgenuss
werden. Wie der Teufel jagen sie auf ihren Pferden durch das Sägemehl,
halten das Gleichgewicht und werfen sich gegenseitig in vielen
Varianten ihre Requisiten zu. Die letzten Runden bestreitet Charles
Gruss als Stehendreiter mit einer imposanten Fahne. Ganz großer Circus! Für
die manegenfüllenden Bilder sorgt einmal mehr ein Ensemble des
Circustheaters Bingo aus Kiew. Beim Opening bilden sie eine bunte
Choreographie rund um die Verwandlung von David Larible zum Clown. Eine
besondere Funktion hat eine Violinistin, die im Laufe des Abends
mehrfach in Erscheinung tritt. Nach dem Flugtrapez steht Seilspringen
im Mittelpunkt, ein Artist zeigt Kunststücke auf der Rola Rola.
Natürlich eröffnen die Ukariner wieder sehr dynamisch das Finale. Die druckvolle
Musik kommt vom Orchester unter der Leitung von Ruslan Fil. Er und
seine Musiker begleiten selbstverständlich nicht nur das Finale. Für
das brillante Lichtdesign ist Frederico Castagnolo verantwortlich.
Stets die Übersicht behält Patrick Rosseel. Er und seine Requisiteure
sorgen für flotte Umbauten.
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