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Budapest - Matti, der Gänsejunge 2016
www.fnc.hu ; 97 Showfotos

Budapest, 9. Oktober 2016: Im Sommer dieses Jahres hatte die neue Leitung des Budapester Circusbaus eine Experimentierphase ausgerufen. Ein Experiment ist die aktuelle Produktion in der Tat. Statt einem herkömmlichen Circus-Programm wurde das in Ungarn bekannte Poem „Matti, der Gänsejunge“ inszeniert. Dabei wurde auf eine Vielzahl von Darstellungsmöglichkeiten zurückgegriffen, von Artistik über Gesang, Schauspiel und Tanz bis hin zu Puppenspiel und Tierdressur. Das Ergebnis löste beim Besuch eine lebhafte Diskussion aus: War das noch Circus, oder nicht? Der Bericht soll beide Seiten widerspiegeln.

„Matti, der Gänsejunge“ handelt – kurz zusammengefasst – von einem jungen Mann, der sich wehrt, seine Tiere einem Adelsmann zu überlassen und dafür mit Schlägen gemaßregelt wird. Matti sinnt auf Rache und schafft es tatsächlich, den Adelmanns zu täuschen. Er schlüpft in unterschiedliche Rollen und kann so wiederum den Adelsmann bestrafen. Das Poem wurde 1804 vom ungarischen Dichter Mihály Fazekas (1766-1828) verfasst und steht für die Stärke und Klugheit der „kleinen Leute“. In rund einem Monat Probenphase wurde diese Geschichte nun für den Budapester Circusbau adaptiert. Ein achtköpfiges Kreativteam um Regisseur Peter Fekete, zugleich Leiter des Baus, hat diese Show geschaffen.


Támas Sarkozi, Nikolett Rézvan, Pál Fábry 

So wird zunächst eine Kutsche in die Manege gezogen, welche allerhand Tierisches beherbergt: Tauben, eine Ziege, Minischweine und natürlich Gänse. Diese werden allerdings von sieben menschlichen Akteurinnen dargestellt und symbolisieren verschiedene Charaktereigenschaften wie Loyalität, Demut oder Reinheit. Die Darstellerinnen stammen von Circus- und Theaterschulen oder aus dem Sport. Auch Matti, der Gänsejunge – abwechselnd verkörpert durch die Schauspieler Gábor Endrédy oder Alex Kabai – klettert aus der Kutsche. Mit seinen Tieren macht er sich auf den Weg zu einem Markt. Dort trifft er auf weitere Hirten und Händler. In diese Rollen schlüpfen ebenfalls, nun männliche Nachwuchskräfte aus Circus und Sport. Auch Gaukler treiben sich auf dem Markt herum und zeigen ihre Künste: Nikolett Rézvan beschört eine Schlange und zeigt Serpentinentanz, Támas Sarkozi jongliert mit Obst, und Pál Fábry, altgedienter ungarischer Artist, balanciert Säbel auf Säbel und dreht sich dabei mittels Apparatur um die eigene Achse. Bence Baumann, gerade Absolvent der Berliner Artistenschule, fängt in die Luft geworfene Reifen auf sehenswerte Weise - beispielsweise mit den Füßen, nachdem er in einen Handstand gesprungen ist. Auch der Dorftrottel, gespielt von Komiker Csaba Méhes, ist stets zugegen.


Artistische Fluchtversuche der Gänse und Erscheinen der Elefantenfigur

Das bunte Markttreiben findet ein jähes Ende mit dem Auftauchen des Adelsmannes. Der preisgekrönte Schauspieler László Konter strahlt auf einer Kutsche hereinkommend eine schaurige Grandezza aus. Die Kutsche wird von einem lebensgroßen, von Puppenspielern authentisch bewegten Elefanten gezogen. Begleitet wird der Adelsmann vom Ausrufer Gyula Maka, ansonsten Sprecher im Bau, und einer Garde von Soldaten. Die Soldaten beschlagnahmen auf Befehl des Adelsmannes Ware und Tiere. Matti wehrt sich dagegen und handelt sich dafür Schläge auf der Strafbank ein. Von dort muss er zusehen, wie die Soldaten nach und nach seine Gänse einfangen – obwohl diese versuchen zu flüchten. Diese Fluchtversuche sind wiederum akrobatisch umgesetzt. So geht es aufs Drahtseil, wo eine Akteurin aus der Kuppel fallenden Bällen ausweichen muss. Eine Weitere flüchtet auf das Trampolin, welches oberhalb des Artisteneingangs installiert wurde. Hier agieren Mitglieder der Truppe High5, die unlängst beim European Youth Circus in Wiesbaden bei den Jüngeren gewonnen hat. Auch die restlichen Gänse flüchten in die Höhe. Die Artistinnen zeigen dabei zu viert Tricks an Schlaufen. Schlussendlich werden aber auch sie alle von den Soldaten gefangen. Matti schwört nun Vergeltung, angetrieben von seiner Mutter. Diese wird von der Schauspielerin Anikó Felföldi gespielt.


Alex Kabai, Bau des Schlosses, László Konter 

Die Pause ist mit einem zeitlichen Sprung verbunden. Der Adelsmann lässt sich Jahre später ein Schloss bauen. In der Manege stehen dazu Rundbögen, die mit Steinen gefüllt werden. Dazu wurden die Markthändler rekrutiert. Auch das Publikum ist dabei, reicht Steine von den oberen Rängen in Richtung Manege. Dort füllen die Artisten die Rundbögen; höhere Stellen erreichen sie durch Menschenpyramiden, Leiterbalancen oder luftakrobatische Tricks. Auch Matti erscheint – nun in der Gestalt eines italienischen Stararchitekten. Er kann den Adelsmann täuschen und verspricht ihm eine große Säulenhalle, welche mittels beleuchteter Tuchröhren dargestellt wird. Matti gelingt es, den Adelsmann an eine der Säulen zu fesseln und mit Schlägen zu bestrafen.


Reiterei, Liviu Tudor, Taubenrevue

Von den Schmerzen gezeichnet, ruht der Adelsmann in seinem Bett, zu dessen Ausschmückung die Gänse herhalten müssen. Zur Aufheiterung holen der Ausrufer und die Soldaten Künstler herbei: Aisulu Abdikerim und Akhtoty Timur präsentieren eine Taubenrevue, wobei sie weitere Tiere stets herbeizaubern; und Liviu Tudor wird bei seiner Teller-Balance von einem Hund gestört. Da auch dies nichts bewirken will, ist das Auftauchen eines Wunderheilers gerade recht. Doch auch hinter dieser Maske steckt Matti, der den Adelsmann so ein zweites Mal bestrafen kann. Noch ein drittes Mal kann der Gänsejunge seinen früheren Peiniger täuschen, indem er mit einem Reiter – aus dem Team von Levente Lezsák – das Gewand tauscht und die Soldaten auf eine falsche Spur schickt. So steht Matti erneut alleine vor dem Adelsmann und will diesen bestrafen. Die Gänse jedoch halten ihren Hirten davon ab, er lässt nun Rücksicht walten. Der Adelsmann ist dennoch ein gebrochener Herr. Das herrliche Kostüm ist einem Nachthemd gewichen; und auch der letzte treue Unterstützer, sein Elefant – nun ein echtes Tier – wendet sich ab. Gänse und Marktleute hingegen zelebrieren die Versöhnung: Das ganze Ensemble zeigt gemeinsame Tricks und Bilder in der Luft.


Gebrochener Adelsmann und Versöhnung von Gänsen und Marktleuten 

PRO (Benedikt Ricken)

Dieses Programm ist für mich ein gelungenes Beispiel, wie Circus sein kann (nicht muss)! Der Circus lebt per Definition von seiner Vielfalt. Immer wieder wurden und werden neue Formen, Genres oder Requisiten hineingetragen und dem Circus zu eigen gemacht. Die Verwendung von scheinbar theatralen Elementen ist keineswegs erst seit dem Cirque Nouveau zu erkennen, vielmehr lassen sich Belege schon zu Philipp Astleys Zeiten finden. Dennoch: gerade heute gewinnt die Gestaltung und Inszenierung von Darbietungen und ganzen Programmen zunehmend an Bedeutung – das „Höher, Schneller, Weiter"-Prinzip findet nur mehr bedingt Gefallen. „Matti, der Gänsejunge“ spiegelt dies wunderbar wider und setzt Elemente wie Musik, Ausstattung und artistische Leistung gleichberechtigt nebeneinander ein. Zudem gelingt es eine Narration zu schaffen, die weder im Vordergrund, noch hintenan steht, sondern fließender Teil des Ganzen ist. Nur einmal bricht man aus: bei der Teller-Balance von Liviu Tudor, dessen Nummer offenbar nicht an den Bogen der Produktion angepasst wurde. Mit der Artistenschule im Rücken und den technischen Vorteilen eines festen Gebäudes ist der Circusbau in Budapest geradezu prädestiniert dafür, sich solchen Experimenten zu widmen und auf Zuschauerakzeptanz hin zu überprüfen. Das Publikum in der besuchten Vorstellung zeigte jedenfalls keine Scheu vor dieser Art Circus.

CONTRA (Markus Moll)

„Matti, der Gänsejunge“ ist ohne Zweifel eine hochwertige, eine professionell und mit großem Aufwand in Szene gesetzte Theater-Vorführung. Allerdings wird das Poem so detailreich nachgespielt, dass das Erzähltempo überaus langsam erscheint – gerade so, als sei dies ein Märchen-Singspiel speziell für Kinder. Jedenfalls wird jeder ungarische Vierjährige der Handlung folgen können. Schwerer werden sich die vielen internationalen Gäste tun, die den „Hauptstädtischen Circus“ unvorbereitet besuchen. Wenn wir uns nicht im Vorfeld mit dem Poem beschäftigt hätten, wäre uns das Verständnis aufgrund der zahlreichen, ausführlichen Dialoge in ungarischer Sprache wohl schwer gefallen. Sollte ein „Capital Circus“ nicht jederzeit für ein Publikum aus aller Welt spielen? Im Gegenzug bleibt leider wenig Zeit für den artistischen Part. Er kommt zu kurz. Beispielsweise wird die hervorragende Trampolin-Arbeit der Truppe „High5“ bis zur Unkenntlichkeit zusammengestutzt. Anstelle der wenigen Runden, die der Reiter dreht, könnte man sich gut auch eine vollwertige Dshigiten-Nummer vorstellen. Und so weiter. Stattdessen werden die artistischen Genres oft nur angerissen, quasi kurz zitiert. Das scheint mir der wesentliche Unterschied zu anderen Produktionen des „Cirque Nouveau“. Andernorts verknüpft eine lose gewebte Handlung, zuweilen auch nur ein inhaltliches Motiv, die verschiedenen artistischen Darbietungen zu einem Ganzen. Bei „Matti, der Gänsejunge“ wirken die artistischen Elemente nur wie zusätzliche Würze in einem Theaterstück. Und deshalb würde diese Produktion besser ins (Kinder-)Programm des Nationaltheaters von Budapest als in den Hauptstädtischen Circus passen. Freilich: Mit einer Verlagerung der Schwerpunkte - weniger Theater, mehr Artistik - ließe sich viel erreichen.

Mit nur einem Monat ist die Spielzeit der Produktion im Übrigen recht kurz. Bereits ab Mitte November folgt ein traditionelles Weihnachtsprogramm. "Matti, der Gänsejunge" soll dann ins Repertoire übergehen und immer mal wieder auf dem Spielplan stehen; auch dies ein Experiment.

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Text: Benedikt Ricken und Markus Moll; Fotos: Tobias Erber