„Matti, der Gänsejunge“ handelt –
kurz zusammengefasst – von einem jungen Mann, der sich wehrt,
seine Tiere einem Adelsmann zu überlassen und dafür mit Schlägen
gemaßregelt wird. Matti sinnt auf Rache und schafft es
tatsächlich, den Adelmanns zu täuschen. Er schlüpft in
unterschiedliche Rollen und kann so wiederum den Adelsmann
bestrafen.
Das Poem wurde 1804 vom ungarischen Dichter Mihály Fazekas
(1766-1828) verfasst und steht für die Stärke und Klugheit der
„kleinen Leute“. In rund einem Monat Probenphase wurde diese
Geschichte nun für den Budapester Circusbau adaptiert. Ein
achtköpfiges Kreativteam um Regisseur Peter Fekete, zugleich
Leiter des Baus, hat diese Show geschaffen.
Támas Sarkozi, Nikolett Rézvan,
Pál Fábry
So wird zunächst eine Kutsche in
die Manege gezogen, welche allerhand Tierisches beherbergt:
Tauben, eine Ziege, Minischweine und natürlich Gänse. Diese
werden allerdings von sieben menschlichen Akteurinnen
dargestellt und symbolisieren verschiedene
Charaktereigenschaften wie Loyalität, Demut oder Reinheit. Die
Darstellerinnen stammen von Circus- und Theaterschulen oder aus
dem Sport. Auch Matti, der Gänsejunge – abwechselnd verkörpert
durch die Schauspieler Gábor Endrédy oder Alex Kabai – klettert
aus der Kutsche. Mit seinen Tieren macht er sich auf den Weg zu
einem Markt. Dort trifft er auf weitere Hirten und Händler. In
diese Rollen schlüpfen ebenfalls, nun männliche Nachwuchskräfte
aus Circus und Sport. Auch Gaukler treiben sich auf dem Markt
herum und zeigen ihre Künste: Nikolett Rézvan beschört eine
Schlange und zeigt Serpentinentanz, Támas Sarkozi jongliert mit
Obst, und Pál Fábry, altgedienter ungarischer Artist, balanciert
Säbel auf Säbel und dreht sich dabei mittels Apparatur um die
eigene Achse. Bence Baumann, gerade Absolvent der Berliner
Artistenschule, fängt in die Luft geworfene Reifen auf
sehenswerte Weise - beispielsweise mit den Füßen, nachdem er in
einen Handstand gesprungen ist. Auch der Dorftrottel, gespielt von
Komiker Csaba Méhes, ist stets zugegen.
Artistische
Fluchtversuche der Gänse und Erscheinen der Elefantenfigur
Das bunte Markttreiben findet ein
jähes Ende mit dem Auftauchen des Adelsmannes. Der preisgekrönte
Schauspieler László Konter strahlt auf einer Kutsche
hereinkommend eine schaurige Grandezza aus. Die Kutsche wird von
einem lebensgroßen, von Puppenspielern authentisch bewegten
Elefanten gezogen. Begleitet wird der Adelsmann vom Ausrufer
Gyula Maka, ansonsten Sprecher im Bau, und einer Garde von
Soldaten. Die Soldaten beschlagnahmen auf Befehl des Adelsmannes
Ware und Tiere. Matti wehrt sich dagegen und handelt sich dafür
Schläge auf der Strafbank ein. Von dort muss er zusehen, wie die
Soldaten nach und nach seine Gänse einfangen – obwohl diese
versuchen zu flüchten. Diese Fluchtversuche sind wiederum
akrobatisch umgesetzt. So geht es aufs Drahtseil, wo eine
Akteurin aus der Kuppel fallenden Bällen ausweichen muss. Eine
Weitere flüchtet auf das Trampolin, welches oberhalb des
Artisteneingangs installiert wurde. Hier agieren Mitglieder der
Truppe High5, die unlängst beim European Youth Circus in
Wiesbaden bei den Jüngeren gewonnen hat. Auch die restlichen
Gänse flüchten in die Höhe. Die Artistinnen zeigen dabei zu
viert Tricks an Schlaufen. Schlussendlich werden aber auch sie
alle von den Soldaten gefangen. Matti schwört nun Vergeltung,
angetrieben von seiner Mutter. Diese wird von der Schauspielerin Anikó Felföldi
gespielt.
Alex Kabai, Bau des Schlosses,
László Konter
Die Pause ist mit einem
zeitlichen Sprung verbunden. Der Adelsmann lässt sich Jahre
später ein Schloss bauen. In der Manege stehen dazu Rundbögen,
die mit Steinen gefüllt werden. Dazu wurden die Markthändler
rekrutiert. Auch das Publikum ist dabei, reicht Steine von den
oberen Rängen in Richtung Manege. Dort füllen die Artisten die
Rundbögen; höhere Stellen erreichen sie durch Menschenpyramiden,
Leiterbalancen oder luftakrobatische Tricks. Auch Matti
erscheint – nun in der Gestalt eines italienischen
Stararchitekten. Er kann den Adelsmann täuschen und verspricht
ihm eine große Säulenhalle, welche mittels beleuchteter
Tuchröhren dargestellt wird. Matti gelingt es, den Adelsmann an
eine der Säulen zu fesseln und mit Schlägen zu bestrafen.
Reiterei, Liviu
Tudor, Taubenrevue
Von den Schmerzen gezeichnet,
ruht der Adelsmann in seinem Bett, zu dessen Ausschmückung die
Gänse herhalten müssen. Zur Aufheiterung holen der Ausrufer und
die Soldaten Künstler herbei: Aisulu Abdikerim und Akhtoty Timur
präsentieren eine Taubenrevue, wobei sie weitere Tiere stets
herbeizaubern; und Liviu Tudor wird bei seiner Teller-Balance
von einem Hund gestört. Da auch dies nichts bewirken will, ist
das Auftauchen eines Wunderheilers gerade recht. Doch auch
hinter dieser Maske steckt Matti, der den Adelsmann so ein
zweites Mal bestrafen kann. Noch ein drittes Mal kann der
Gänsejunge seinen früheren Peiniger täuschen, indem er mit einem
Reiter – aus dem Team von Levente Lezsák – das Gewand tauscht
und die Soldaten auf eine falsche Spur schickt. So steht Matti
erneut alleine vor dem Adelsmann und will diesen bestrafen. Die
Gänse jedoch halten ihren Hirten davon ab, er lässt nun Rücksicht walten. Der Adelsmann ist dennoch ein gebrochener Herr.
Das herrliche Kostüm ist einem Nachthemd gewichen; und auch der
letzte treue Unterstützer, sein Elefant – nun ein echtes Tier –
wendet sich ab. Gänse und Marktleute hingegen zelebrieren die
Versöhnung: Das ganze Ensemble zeigt gemeinsame Tricks und
Bilder in der Luft.
Gebrochener Adelsmann und
Versöhnung von Gänsen und Marktleuten
PRO (Benedikt Ricken)
Dieses Programm ist für mich
ein gelungenes Beispiel, wie Circus sein kann (nicht muss)! Der
Circus lebt per Definition von seiner Vielfalt. Immer wieder
wurden und werden neue Formen, Genres oder Requisiten
hineingetragen und dem Circus zu eigen gemacht. Die Verwendung
von scheinbar theatralen Elementen ist keineswegs erst seit dem
Cirque Nouveau zu erkennen, vielmehr lassen sich Belege schon zu
Philipp Astleys Zeiten finden. Dennoch: gerade heute gewinnt die
Gestaltung und Inszenierung von Darbietungen und ganzen
Programmen zunehmend an Bedeutung – das „Höher, Schneller,
Weiter"-Prinzip findet nur mehr bedingt Gefallen. „Matti, der
Gänsejunge“ spiegelt dies wunderbar wider und setzt Elemente
wie Musik, Ausstattung und artistische Leistung gleichberechtigt
nebeneinander ein. Zudem gelingt es eine Narration zu schaffen,
die weder im Vordergrund, noch hintenan steht, sondern
fließender Teil des Ganzen ist. Nur einmal bricht man aus: bei
der Teller-Balance von Liviu Tudor, dessen Nummer offenbar nicht
an den Bogen der Produktion angepasst wurde. Mit der
Artistenschule im Rücken und den technischen Vorteilen eines
festen Gebäudes ist der Circusbau in Budapest geradezu
prädestiniert dafür, sich solchen Experimenten zu widmen und auf
Zuschauerakzeptanz hin zu überprüfen. Das Publikum in der
besuchten Vorstellung zeigte jedenfalls keine Scheu vor dieser
Art Circus.
CONTRA (Markus Moll)
„Matti, der Gänsejunge“ ist
ohne Zweifel eine hochwertige, eine professionell und mit großem
Aufwand in Szene gesetzte Theater-Vorführung. Allerdings wird
das Poem so detailreich nachgespielt, dass das Erzähltempo
überaus langsam erscheint – gerade so, als sei dies ein
Märchen-Singspiel speziell für Kinder. Jedenfalls wird jeder
ungarische Vierjährige der Handlung folgen können. Schwerer
werden sich die vielen internationalen Gäste tun, die den
„Hauptstädtischen Circus“ unvorbereitet besuchen. Wenn wir uns
nicht im Vorfeld mit dem Poem beschäftigt hätten, wäre uns das
Verständnis aufgrund der zahlreichen, ausführlichen Dialoge in
ungarischer Sprache wohl schwer gefallen. Sollte ein „Capital
Circus“ nicht jederzeit für ein Publikum aus aller Welt spielen?
Im Gegenzug bleibt leider wenig Zeit für den artistischen Part.
Er kommt zu kurz. Beispielsweise wird die hervorragende
Trampolin-Arbeit der Truppe „High5“ bis zur Unkenntlichkeit zusammengestutzt. Anstelle
der wenigen Runden, die der Reiter dreht, könnte man sich gut
auch eine vollwertige Dshigiten-Nummer vorstellen. Und so
weiter. Stattdessen werden die artistischen Genres oft nur
angerissen, quasi kurz zitiert. Das scheint mir der wesentliche
Unterschied zu anderen Produktionen des „Cirque Nouveau“.
Andernorts verknüpft eine lose gewebte Handlung, zuweilen auch
nur ein inhaltliches Motiv, die verschiedenen artistischen
Darbietungen zu einem Ganzen. Bei „Matti, der Gänsejunge“ wirken
die artistischen Elemente nur wie zusätzliche Würze in einem
Theaterstück. Und deshalb würde diese Produktion besser ins (Kinder-)Programm
des Nationaltheaters von Budapest als in den Hauptstädtischen
Circus passen. Freilich: Mit einer Verlagerung der Schwerpunkte
- weniger Theater, mehr Artistik - ließe sich viel erreichen. |