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Zirkus Nemo - Tour 2017
www.zirkus-nemo.dk ; 90 Showfotos

Charlottenlund, 19. August 2017: Der Mann hat einfach unfassbare Ideen, und er setzt sie konsequent um. Wer kommt schon darauf, in einer Circusmanege eine Freiheitsdressur mit Rollatoren zu zeigen? Soren Ostergaard heißt die einfache Antwort. Und er realisiert diesen Einfall auf geniale Weise. Denn er dirigiert die Gehhilfen nicht einfach vom Boden aus, sondern „zu Großmutter“. Sprich, er wird dabei von einer alten Dame Huckepack genommen. So zumindest suggeriert es das Kostüm. Auch 2017 spielt Ostergaard in seinem Zirkus Nemo wieder eine kreative, abgefahrene, geniale Show.

Zu den oftmals liebevoll den traditionellen Circus karikierenden Einlagen von Soren Ostergaard und seinen beiden Manegenpartnern kommen vier echte Circusnummern. Eine davon mit Tier. Die Stimmung im eher kleinen Viermaster mit 590 Plätzen ist großartig, die Atmosphäre sehr intensiv. Im Zuschauerraum sitzen (fast) keine Kinder. Nemo bezeichnet sich in der Werbung als „Circus für Erwachsene“. So ist das Publikum eher Circus-untypisch. Es gibt keine Ablenkung durch herumlaufende oder unruhige Kinder. Alle Gäste im Chapiteau folgen gebannt dem Geschehen auf der Rundbühne, gehen enorm mit. Ist das also noch Circus? Wenngleich mich diese oft gestellte Frage inzwischen ermüdet, hier gib es von mir ein klares „Ja“.


Plausch vor der Vorstellung

Was das Programm angeht, sind die Argumente bereits genannt. Wenn man das Unternehmen auf dem wunderbaren Rasenplatz in Charlottenlund sieht, kommt echte Circusromantik auf. Nemo ist quasi ein kleiner Roncalli in Schwarz und Rot. Das Vorzelt, der Holzzaun und einige der Wagen sind ganz offensichtlich an den Stil von Roncalli angelehnt. Dazu gibt es liebevoll gestaltete Wohnwagen im ganz eigenwilligen Nemo-Stil. Der direkte Zugang zum Meer macht die Idylle perfekt. Wenngleich der Platz außerhalb des Stadtzentrums liegt, kommen die Kopenhagener in Scharen. Vor der Vorstellung bieten sich die Tische zwischen Vor- und Hauptzelt zu einer Unterhaltung bei Bier oder Wein an. Soren Ostergaard höchstpersönlich verkauft hier die Programmhefte. Er geht von Gruppe zu Gruppe und wechselt ein paar Worte mit seinen Gästen.


Laura Kvist Poulsen, Michel Castenholt, Soren Ostergaard

Wenig später steht er mit Lockenperücke und falschen Zähnen auf der Bühne. Das Kostüm mit Schlaghosen entstammt der Showwelt längst vergangener Tage. Das Opening mit allen Mitwirkenden ist gleich in die erste Szene eingebunden. Beim Finale wird ähnlich verfahren. Ostergaard betritt im Kostüm einer seiner Figuren die Szene. Es ist jener ungepflegte Rüpel, der gerne den ausgestreckten Mittelfinger zeigt. Kurz darauf zieht das gesamte Ensemble im gleichen Outfit und mit der gleichen Geste über die Bühne. Sogar ein Kostümwechsel gehört zur Verabschiedung. Am Ende stehen alle Artisten in den gleichen Bademänteln im Regen aus Papierschnipseln. Es ist jenes Modell, das Ostergaard schon seit Jahren trägt. Wie gewohnt, wird viel gezaubert. Großillusionen in schrägen Kostümen, gerne in der Kombination „großer Magier und liebreizende Assistentin“ sind in jedem Programm dabei. Unterstützt wird der Direktor beim komischen Teil von Laura Kvist Poulsen, die auch seine persönliche Assistentin ist. Hinzu kommt in dieser Saison Michel Castenholt. Beide haben magische Auftritte im Duo und Solo. Immer herrlich schräg, immer erfrischend witzig. Soren Ostergaard spielt neue Szenen mit seinen beliebten Figuren wie Bäcker Jorgen. Die Gagdichte ist phänomenal, das Publikum kommt aus dem Lachen nicht heraus. Dankenswerterweise spielt er ein Stück auf Englisch. Der tschechische Puppenspieler, der sich in Rage redet und seine Marionetten zerstört, lässt auch Nicht-Dänen aus vollem Halse mitlachen. Ein unglaubliches Vergnügen.


Konzert für Quietscheentchen mit Michel Castenholt und Soren Ostergaard

Zwei Szenen seien an dieser Stelle noch herausgegriffen. Stehen sie doch ganz besonders für die außerordentliche Kreativität der Nemo-Macher. Vor der Pause erscheinen Ostergaard und Castenholt als recht klassisch aufgemachte Clowns mit Concertina. Weiter geht es mit einem Musikstück auf verschieden gestimmten gelben Quietscheentchen. Eine überdimensionale Plastikente kommt herein, den Nachwuchs im Schlepptau. Laura Kvist Poulsen als Polizistin dirigiert die Entenfamilie. Die Entenmutter pustet mit dem Mund eine (Kaugummi-)Blase auf, die die Pause ankündigt. Ein regelrechtes Bühnenschauspiel wird gegen Ende der Show aufgeführt. Soren Ostergaard steht, geschmückt mit an Drähten aufgespießten Vögeln, im Mittelpunkt. Mit Hilfe von Gießkannen entsteht rund um die Bühne eine Reihe mit Kunstblumen. Nach und nach erscheinen verschiedene der bildenden Kunst entnommene Figuren. So etwa die Männer ohne Kopf von Magritte. Die Szene endet mit einem wahren Schneesturm aus Papierschnipseln.


Picaso junior, Crazy Flight, Ingo Stiebner und Lappy

Die Mitwirkenden aus dem Bereich Artistik und Tierdressur waren schon für mindestens eine Saison beim Zirkus Nemo engagiert. Picaso junior zeigt seine Nummer unverändert. Er jongliert Tischtennisbälle mit einem Holzschläger und mit dem Mund. Anschließend lässt er versiert Teller quer durch das Chapiteau fliegen. Das alles mit großen Können und einer enormen Ausstrahlung. Es ist immer wieder faszinierend zu sehen, wie schnell er das Publikum für sich gewinnt, wie enorm es mitgeht. Die Mitglieder von Crazy Flight haben eine neue Darbietung am Russischen Barren kreiert. Diese präsentieren sie als fein herausgeputzte Herren auf Sonntagsausflug. Mit Kniestrümpfen, Dreiviertelhose, Weste, Krawatte und Regenschirm. Artistisch überzeugt das Quartett dabei ebenso wie bei der schon bekannten Nummer. Darin verbinden sie Handvoltigen und Handstandpyramiden. Hier kam es zu Umstellungen, wurden neue Tricks eingebaut. Auf Abschiedstournee sind Ingo Stiebner und sein Seelöwe Lappy. Bei Nemo steht der Tierlehrer ein letztes Mal mit seiner Robbe in der Manege. Noch einmal dürfen wir diese herrliche Komödie erleben, bei der Lappy offensichtlich Chef im Ring ist. Wenn Lappy seine Kunststücke zeigt, dann gerne hinter dem Rücken des Trainers. Schon gar nicht auf Kommando. Der Seelöwe hat seine Ansprüche, die er selbstbewusst anmeldet. Etwa auf eine Flossenreinigung.

Zirkus Nemo ist 2017 wieder ein Vergnügen von Anfang bis Ende. Begleitet von einer hervorragenden vierköpfigen Band, die mit vollem Einsatz dabei ist. Circus auf eine andere Art, aber Circus. Vieles ist bei klassischen Vertretern des Genres beobachtet und liebevoll im Nemo-Stil umgesetzt worden. Umgekehrt würde das übrigens ebenfalls funktionieren.

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Text und Fotos: Stefan Gierisch