Ein entspannter Circusbesuch –
angeregt durch die liebevolle Aufmachung – rundet den Urlaub
perfekt ab; und auch die Katalanen scheinen zu schätzen, was sie
an „ihrem“ Circo Raluy haben. So ist das Programm auch am
vorletzten Abend des rund zweieinhalbmonatigen Gastspiels in
Barcelona gut besucht. Nachdem sich die Wege der Brüder Louis
und Carlos Raluy im vergangenen Jahr getrennt haben, reisen beide nun
mit einem eigenen Unternehmen. Während Carlos sein Geschäft den Circo Histórico Raluy nennt, firmiert Louis als Raluy Legacy.
Innerhalb der Vorstellung wird man nicht müde, diese
Unterscheidung denn auch zu betonen.
Ambiente
Das Erlebnis Raluy fängt freilich
nicht erst mit der Vorstellung selbst an. Vielmehr gibt es
bereits vorher an jeder Ecke viel zu entdecken. Alle
historischen Holzwagen sind mit wunderbaren Circusmotiven
versehen. Im Caféwagen erinnern unzählige Fotografien an die
glorreiche Vergangenheit der Branche, und zum Einlass spielt
eine alte Orgel. Auf dem Weg zum Chapiteau geht es vorbei an
jenem Requisit, dass die Familie einst berühmt machte: ein
kleines Auto, mit dem man von einer Rampe startend Salti
schlagen konnte. Auch das Zeltinnere atmet jene Nostalgie, die
man auf dem ganzen Gelände spürt. Im intimen Chapiteau finden
die Besucher auf Holzstühlen in je zwei Reihen Logen und
dahinter im Parkett oder im höher gelegenen Gradin auf
Holzbänken mit Rückenlehne ihren Platz. Dadurch ist für alle
eine gute Sicht garantiert. Die Brüstungen und der
Artisteneingang sind ebenso detailreich gestaltet und verziert
wie eine Malerei unter der Kuppel. In der Manege ist ein fester,
dunkelbrauner Boden ausgelegt. Warme, harmonische Töne
überwiegen bei der Ausstattung. Die Lichtanlage unterstützt –
trotz LEDs und zwei Verfolgern – diese Atmosphäre. Die durchweg
gelungene Musikbegleitung kommt zwar weitestgehend vom Band. Ein
Live-Perkussionist sorgt allerdings für eine starke Aufwertung,
insbesondere wenn er zuweilen selbst in der Manege in
Erscheinung tritt.
Sandro Roque & El Bigotis, Louis
Raluy, Maximilino Stia
Mit gleich vier unterschiedlichen
Plakaten wirbt der Circo Raluy Legacy für sein Gastspiel in
Barcelona. Eines zeigt Direktor Luis Raluy selbst. Dieser lässt
sich den Auftritt nicht nehmen. In der Rolle des stolzen
Weißclowns gelingt es ihm, ein Huhn – das einzige Tier des
Programms – auf magische Weise zur „lebenden Kanonenkugel“
werden zu lassen. Unterstützung erhält er bei seinem Auftritt
von Sandro Roque und El Bigotis. Beide bilden ein zweites
Plakatmotiv. Sandro Roque ist noch der gleiche Schelm wie zu
seinen Zeiten bei Roncalli, und in Jerzy Swider als El Bigotis
hat er einen wunderbar blasierten Gegenspieler an seiner Seite.
Ihr Zwist gipfelt schließlich in einer herrlichen Version von
„Musizieren ist hier verboten“. Wenn die „Si!“ und „No!“ des
großartig mitgehenden Publikums nur so durchs Zelt fliegen, hat
ein jeder – ganz gleich ob der Sprache mächtig ist oder nicht –
einen Riesenspaß an diesem Wettstreit. Und wenn Sandro Roque im
zweiten Teil auch noch Zuschauer die Geschichte um Ritter und
Prinzessin darstellen lässt, ist der Publikumsliebling längst
erkoren. Wobei er sich diese Position in meinen Augen mit
Maximiliano Stia mindestens teilen muss. Der präsentiert seine
Zaubertricks nämlich gewollt schräg und stets mit einem
Augenzwinkern. Einfach grandios. Auch seine Moderationen sind
äußerst lebendig und sorgen für eine mitreißende Grundstimmung.
Emily & Niedziela Raluy-Swider
Ein weiteres Plakat zieren Emily
und Niedziela Raluy-Swider. Die beiden bildhübschen Enkelinnen
des Direktors sind wahrlich Hingucker, die ihr Aussehen
geschickt einzusetzen wissen. Die gemeinsame
Rollschuh-Darbietung sprüht vor erotischen Momenten. Vergisst
dabei aber keineswegs die artistische Leistung: Emily und
Niedziela beherrschen alle relevanten Tricks bis zum
Genickwirbel. Es gibt wohl nur wenige Duos in diesem Genre, bei
dem beide Partner weiblich sind. Dies allein macht die Nummer
bereits besonders. Nicht ganz so stark ist ihr Auftritt auf dem
Drahtseil, das an ein buntes Charivari mit allen Akteuren zur
Musik „The
greatest show on earth“ zu Programmbeginn anschließt. Die beiden
Schwestern arbeiten dabei synchron auf zwei Drahtseilen.
Schlusstrick ist die Überquerung auf dem Einrad. Louisa Raluy,
die Mutter von Emily und Niedziela, steuert eine der
Luftdarbietungen zum Programm bei. In einem Kreis aus
Kerzenlicht zeigt sie Figuren bis zum Wirbel an einem
Kronleuchter. Mit Jean Christophe und Kerry Raluy geht es für
weitere Familienmitglieder ebenfalls unters Zeltdach: bei ihrem
romantischen Pas de Deux an den Tüchern wechseln sie sich in der
tragenden Rolle ab, ehe beide wieder in einem „Blütenregen“ in
die Manege zurückkehren.
Oneil Reyes,
Lea & Lucy,
Iya Traore
Dass in so einem kleinen Zelt ein
Fangnetz gespannt wird, ist genauso überraschend wie Darbietung
selbst: Lea & Lucy kommen von der französischen Circusschule und
haben dort eine extrem leistungsstarke Darbietung am Fangstuhl
erarbeitet. Insbesondere wenn Lea von der Plattform in die Arme
ihrer Partnerin Lucy springt, wird deutlich, dass das Netz nicht
ohne Grund hängt. Der charmante Verkauf der beiden jungen
Künstlerinnen sorgt jedoch dafür, dass alles spielend leicht
aussieht. Spielend leicht präsentiert auch Iya Traore seine
Fähigkeiten mit einem Fußball. Der Freestyler wurde speziell für
das Gastspiel in Barcelona engagiert und ist entsprechend das
vierte Plakatmotiv. In der Pause kann man eigens hergestellte
Fußbälle von ihm signieren lassen. Zu „Singin` in the rain“
lässt Traore zunächst einen Ball auf einem Schirm tanzen; nach
einem kurzen Kleidungs- und Stimmungswechsel beweist er seinen
einzigartigen Umgang mit dem runden Leder. Dieses beherrscht er
sogar, wenn er dabei einen Laternenpfahl emporklettert. Nicht
ein einziges Mal verliert er die Kontrolle über das Spielgerät.
Gleichfalls eindrucksvoll ist die Equilibristik von Oneil Reyes.
Dazu gehören Hand- und Kopfstände. Zum Schluss drückt er diese
auf einem immer höher werdenden Requisit. Reyes gehört auch zur
vierköpfigen Formation Los Rockers. Mit Akrobatik auf großen
Gummireifen beschließen sie das Programm. Dabei wird etwa Seil
gesprungen sowie Salti und Pirouetten gedreht. Ergänzt wird die
Vorstellung mit einer eher blassen Feuer-Performance von Artur.
Finale
Im Finale nehmen dann alle
Artisten nochmals Abschied. Endlich darf Sandro Roque seine
Musik abspielen, und das restliche Ensemble wagt dazu ein
Tänzchen. Das melancholische Ende bereiten dann Louis Raluy und
seine Enkel Benicio und Charmelle. Sie begleiten ihren „Avi“,
ihren Großvater, wenn dieser mit einem Stück auf der Concertina
das Publikum in den katalanischen Abend entlässt. |