Premiere
wurde erst am 29. Juli in Rapperswil gefeiert. Die Derniere soll am
letzten Tag des Jahres in Luzern stattfinden. Es fühlt sich schon
ungewohnt an, in einem Innenraum auf die inzwischen vertrauten
Hygieneregeln hinsichtlich der Pandemie zu verzichten. Auch wenn die
maximale Zuschauerzahl von 2.300 an diesem Abend nicht ausgeschöpft
wird. Im Restaurant hat man gerade noch auf dem Weg zum Platz eine
Maske getragen, war durch eine Plexiglasscheibe vom Nachbartisch
getrennt. Ebenso galt im Bus Maskenpflicht. Und jetzt bestellt man im
feudalen Vorzelt ein Getränk und mischt sich damit unter das Publikum.
Im Chapiteau ohne innenliegende Masten nimmt man seinen Platz
unmittelbar neben dem Sitznachbarn ein. Komiker und Sänger gehen mit
den Gästen während der Show auf Tuchfühlung. Daran muss man sich
erstmal gewöhnen. Doch der Circus war immer schon dafür da, um aus der
realen Welt zu entschwinden, den Alltag zu vergessen, zu träumen. Das
bekommt in diesen Zeiten eine ganz besondere Bedeutung.
Chapiteau
Ein
weiteres Novum in der 102-jährigen Geschichte des Circus Knie ist es
wohl auch, dass zwei Saisons hintereinander die gleichen artistischen
Darbietungen und Tiernummern gezeigt werden. Einzig Feuerkünstler
Joseph Stenz ist nicht mehr dabei und eine der beiden
Strapaten-Darbietungen wurde angepasst. Diese Prolongation der Artisten
ist natürlich der Tatsache geschuldet, dass die Tour 2020 aufgrund von
Corona nach weniger als zwei Monaten Spielzeit abgebrochen werden
musste. So kamen nur wenige Zuschauer in den Genuss der absolut
spektakulären und innovativen Show. Dies noch dadurch verstärkt, dass
im vergangenen Jahr die maximale Auslastung deutlich limitiert werden
musste.
Bastian Baker, Duo Full House
Das
Plakatmotiv hingegen verheißt Neues. Im letzten Jahr waren darauf die
Komiker Ursus & Nadeschkin sowie ein Motorradspringer abgebildet.
Zudem wurde die Kooperation mit Flic Flac verkündet. 2021 präsentieren
die Werbemedien erstmals einen Sänger als Headliner. Bastian Baker
feiert beim Schweizer National-Circus sein zehnjähriges Bühnenjubiläum.
Ursus & Nadeschkin konnten aufgrund anderweitiger Verpflichtungen
nicht erneut gebucht werden. Hoffen wir, dass wir ihre herrlichen, in
der Mehrzahl extra für den Circus geschriebenen Stücke zu einem
späteren Zeitpunkt noch einmal sehen können. Doch die Sparte Komik ist
auch heuer vortrefflich besetzt. Das Duo Full House war bereits
im französischsprachigen Teil der Schweiz bei Knie zu erleben. Jetzt
darf es auch das deutschsprachige Publikum mit seinen größtenteils etwa
von „Salto Natale“ bekannten Stücken zum Lachen bringen.
Opening mit Bingo und Bastian Baker
Die
Ouvertüre gehört wie gewohnt dem Orchester unter der Leitung von Ruslan
Fil. Es erklingt „Come alive“ aus dem Film „Greatest Showman“. Die
Begrüßung durch Geraldine Knie kommt aus dem Off. Die artistische
Direktorin drückt darin ihre Freude aus, wieder für das Publikum
spielen zu dürfen. Diese Freude transportieren an diesem Abend alle
Mitwirkenden bei ihren Auftritten. Man merkt, wie sehr sie es genießen,
endlich ihr Können zeigen zu können und Applaus dafür zu bekommen. Im
Opening mit einem Bingo-Ensemble werden eindrucksvoll die technischen
Neuerungen sichtbar, welche 2020 eingeführt wurden. Die unter die 15
Meter hohe Kuppel ziehbare Rundbühne mit allen denkbaren technischen
Raffinessen etwa. Oder die gigantische Lichtanlage mit rund 150
gesteuerten Leuchten und über 300 LED-Scheinwerfern. Zudem erfolgt ein
Teil der Beleuchtung vom ebenfalls neuen Artisteneingang aus.
Eindrucksvoll sind die meterhohen Feuersäulen. Verantwortlich für all
das ist der technische Direktor Maycol Errani. Die Technik geht eine
wunderbare Symbiose mit dem Geschehen in der Manege ein. Beim Auftakt
eben mit dem Ensemble aus der Ukraine. Ihre Auftaktchoreographie wird
vom Lied „Let's start the show“ begleitet, das Bastian Baker singt.
Dazu kommt der blendend aussehende 30-jährige Singer und Songwriter aus
Lausanne eine schmale Showtreppe vom Orchesterpodium herunter, um sich
dann in die Choreographie einzureihen. Das Publikum kennt und liebt ihn
offensichtlich. Bastian Baker wird frenetisch gefeiert.
Fratelli Errani, Chanel Marie Knie, Ivan Frederic Knie
Begeisterten
Applaus erhalten ebenfalls die Mad Flying Bikers. Die fünf Motocross
Freestyler wagen atemberaubende Stunts mit ihren Motorrädern. Sie
springen von einer Rampe in einem Auslass des Gradins hinüber zu einer
Plattform vor der Gardine. Nervenkitzel pur und ein enormer
Überraschungseffekt gleich zu Beginn. Die notwendige Entspannung bringt
das Duo Full House. Das sind Henry Camus aus New York („The city that
never sleeps.“) und Gaby Schmutz aus Effretikon („The city that never
wakes up.“). Das Ehepaar legt einen rasanten Wortwitz an den Tag. So
macht er sich etwa über ihr Schweizerdeutsch lustig. Und eigentlich
gönnt er ihr ja den großen Auftritt, schafft es aber irgendwie doch
nicht, sich dezent im Hintergrund zu halten. Pure Harmonie bei den
Passings mit Keulen, in die sie etwa einen Scheinwerfer, eine Gitarre
und einen Wäscheständer integrieren. Das US-Schweizer Duo ist wirklich
witzig und eine glänzende Besetzung für den komischen Part der Show.
Bei ihren Handvoltigen katapultieren Maycol und Wioris Bruder Guido in
die Luft. Zur Darbietung der Fratelli Errani gehören ebenfalls
Bodenakrobatik und ein Drei-Mann-Hoch, den sie auf-, ab- und wieder
aufbauen. Priscilla Errani und Marco Moressa haben den nächsten
Auftritt, welcher wieder für ordentlich Spannung sorgt. Gegenseitig
schießen sie mit der Armbrust auf Gegenstände, die der jeweils andere
festhält. Auch den Tellschuss hat das Duo Double Risk im Repertoire.
Marco versteht sich ebenfalls auf die Kunst des Messerwerfens.
Priscilla steht mutig am Brett, auch wenn dieses rotiert. Zwei
Vertreter der achten Generation der Direktionsfamilie erfreuen uns mit
Pferdenummern. Chanel Marie hat ein weißes Pony als Manegenpartner
gewählt. Dieses lässt sie durch große Reifen laufen, welche von den
Bingo-Artistinnen gehalten werden. Weiße Tauben runden das Bild
stimmungsvoll ab. Während Chanel sich die „Eiskönigin“ als musikalische
Begleitung ausgesucht hat, reitet ihr Bruder Ivan Frederic die Hohe
Schule zu Musik von Michael Jackson. Selbstbewusst und mit viel
Ausstrahlung zeigt der 20-Jährige sein reiterisches Können. Mit
Steigern ihrer Pferde verabschieden sich die Geschwister.
Katerina Abakarova und Bastian Baker, Gerlings, Maycol Errani
Dank
seines US-amerikanischen MP3-Players der ersten Generation kann Henry
Camus die Gedanken anderer Menschen hörbar machen. Seine Gattin, die
inzwischen das Hochzeitskleid gegen Schweizer Tracht eingetauscht hat,
hat nur alpenländische Musik im Kopf. Nachdem sie fast von der aus der
Kuppel kommenden Bühne erdrückt worden wäre, treibt das Duo Full House
seine Späße im Zuschauerraum weiter. Die Pausennummer gehört jetzt
Katerina Abakarova. Im vergangenen Jahr gab es ihre Kür an den
Strapaten in einer großen Inszenierung mit dem Bingo-Ensemble. Jetzt
ist Bastian Baker ihr Partner. Er singt, sie zeigt ihr akrobatisches
Können in der Luft. Für eine Sequenz fliegen die beiden zusammen über
der Bühne. Dank der zugehörigen Wasserfontänen, einige sogar mit Feuer
an der Spitze, wird daraus ein traumhaftes Gesamtbild. Ein optischer
und akustischer Genuss. Auf den Boden der Tatsachen zurück holt uns das
Duo Full House. Auf witzige Weise kündigen sie die Pause an. Henry
Camus der „Witterung“ entsprechend in Friesennerz und Gummistiefeln.
Der zweite Teil beginnt mit acht Mitgliedern aus dem Team von Douglas
Gerling. Auf dem Hochseil sorgen sie für Nervenkitzel pur. Nach
verschiedenen riskanten Tricks wagen sieben von ihnen die Überquerung
des Seils in der Formation einer Pyramide. Den Abbau der in der Manege
stehenden Masten für das Hochseil überbrücken tänzerisch die
Bingo-Akteure. Dank einer eindrucksvollen Peitsche schafft Gaby Schmutz
es, ihren Gatten in den Griff zu bekommen. Dass er unter ihrer Führung
zu einem perfekten Hausmann geworden ist, beweist Henry Camus in diesem
Auftritt. Das Balancieren eines Staubsaugers und das Jonglieren eines
Besens mit Devilsticks, die hier Staubwedel sind, klappen tadellos.
Weitaus harmonischer gestaltet sich die Vorführung von sechs prächtigen
Friesen durch Maycol Errani. Effektvoll ist der Auftakt mit einem Pferd
auf einer verspiegelten Plattform, partnerschaftlich und anspruchsvoll
die anschließende Freiheitsdressur. Errani pflegt dabei den vertrauten
Austausch mit den Pferden, findet aber genauso den Kontakt zum
Publikum. Vier weiße Araber runden dieses Bild als Springer über
Stangen und als Steiger ab.
Flash of Splash, Duo Flame, Globe of Speed
Dann
hat Bastian Baker sein großes Solo. Das erste Lied singt er, während er
auf einem Pferd seine Runden in der Manege dreht. Zurück mit den Füßen
auf dem Sägemehl, überreicht ihm Chanel Marie Knie seine Gitarre.
Weiter geht es in der Manege, in den Aufgängen des Gradins und auf den
Sitzen direkt im Publikum. Die Popsongs von Bastian Baker machen
einfach gute Laune und werden begeistert aufgenommen. Starke Tricks
kennzeichnen die Strapatenkür des Duo Flash of Splash. Riskant sind sie
obendrein. Auf der letztjährigen Tour gab es einen Unfall. Aber jetzt
sind Amalia Avanesian und Yevgen Abakumov wieder topfit. Ihre erotisch
angehauchten Höhenflüge werden von Wasserfontänen begleitet. Von oben
kommt das Wasser beim Duo Flame. Sprich, Aiusha Khadzh und Vladyslav
Khamed arbeiten ihre sinnliche Hand-auf-Hand-Nummer im Regen. Die
Wirkung wird dadurch enorm gesteigert. Da ihre Akrobatik an sich schon
höchst anspruchsvoll ist, erleben wir einen wahren Rausch. Das
i-Tüpfelchen ist die musikalische Begleitung durch Bastian Baker. Unter
dem Instrument liegend und über ihm schwebend, legt das Duo Full House
ein fulminantes Klavierkonzert hin. Einige Pannen inklusive. Präzision
ist gefragt, wenn bis zu zehn Hasardeure gleichzeitig auf ihren
Motorrädern durch den Globe of Speed jagen. Damit die Kugel ins
Scheinwerferlicht gelangen kann, wird das Orchesterpodium hydraulisch
um bis zu drei Meter angehoben. Groß ist die Überraschung, wenn die
Biker ihre Helme abnehmen und dabei auch eine Frau zum Vorschein kommt.
Mit dieser Sensationsnummer wird der Schlusspunkt, vielmehr das
Ausrufezeichen, hinter dieses so außergewöhnliche Programm gesetzt.
Wunderschön gestaltet ist das Finale. Bastian Baker startet mit einem
seiner Songs, Chanel Marie Knie kommt mit einem Smartphone hinzu,
dessen Taschenlampen-Funktion angeschaltet ist. Dann stehen auch die
Artisten mit beleuchteten Smartphones in den Aufgängen des Gradins und
bewegen sich Richtung Manege. Das Publikum holt ebenfalls seine
Telefone heraus und vervielfacht den Lichteffekt. Wenn Geraldine Knie
die Abschiedsworte spricht, wird einem nochmal eindrücklich vor
Augen geführt, welch großes Ensemble Knie 2021 aufbietet.
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