Er verstarb plötzlich und
unerwartet am 14. Juli dieses Jahres im Thermalkurort Leukerbad
im Wallis, einer seiner Lieblingsstationen im Tourneeverlauf.
Eine schmerzliche Nachricht auch für uns. Denn ja, wir sind
Circus-Journalisten und wollen so objektiv wie möglich über das
berichten, was in der Manege geboten wird. Und doch war für uns
jeder Besuch im Harlekin auch ein Besuch daheim bei Freunden.
In der Circus-Front wird
an den verstorbenen Direktor Pedro Pichler erinnert
Von den bisher 30 Programmen des
Circus Harlekin durften wir die letzten 15 miterleben. Es waren
stets hochstehende Vorstellungen mit viel zu Lachen und
schwungvoller Musik, vor allem aber mit wunderbar familiärer
Atmosphäre. Bis 2017 wirkten Pedro Pichler und Monika Aegerter
stets als kongeniales Clownsduo "Les Nicas" mit immer wieder
neuen Reprisen und Entrees im Programm mit und prägten es
besonders. Und seit unserem ersten Besuch an Ostern 2008 in
Spiez war Harlekin für uns ein Pflichtprogramm, das so
verbindlich zu unserem Jahreslauf gehört wie Knie und Krone. Das
alles war und ist zu einem ganz großen Teil Pedros Werk. Immer
werden wir uns an die schönen Abende erinnern, die wir nach der
Vorstellung in gemütlicher Runde und bei guten Gesprächen im
Barwagen verbracht haben – in Spiez und in Steffisburg, in Zell,
Heimenschwand, Schüpfheim und Thun, in Interlaken und 2021 auch
in Leukerbad. Nun sind wir erst im September dazu gekommen, das
Jubiläumsprogramm 2022 zu bewundern. Zu spät. Es tut weh, dass
wir unseren lieben Freund Peter Pichler nicht mehr treffen
konnten.
Rogerio Goncalves, Jump
and Roll, Nicole Pichler
Hervorragend besucht ist das
Chapiteau an diesem Abend auf dem ehemaligen Flughafen in
Frutigen. Das Ensemble empfängt uns zu Beginn in einem Charivari
zu schmissiger Circusmusik. Dann gehört die Manege der
Landschaftsgärtnerin Sophia, die in diesem Jahr als „Volontärin“
im Harlekin mitwirkt. Als Voltigeuse zu Pferd zeigt sie diverse
akrobatische Übungen, darunter einen Schulterstand. Evelyn
Goncalves schneidert seit einigen Saisons die Kostümkreationen
für den Circus Harlekin, und so empfängt uns Maurin Rossi bei
seinem Saxophonspiel mit Gewand und Maske im Stil des Karnevals
in Venedig. Thematisch in Venedig bleibt auch Rogerio Goncalves
mit einer abermals neuen Version seiner Devilstick-Jonglage. Für
Heiterkeit ist gesorgt, wenn er sich Bälle aus dem Publikum
zuwerfen lässt und in den Netzen an seinem Gürtel fängt – vor
allem deshalb, weil die ausgewählten Mitstreiter doch sehr
unterschiedliches Geschick beweisen. Groß ist der Jubel, als es
ihm im dritten Anlauf gelingt, zwei Tennisschläger gleichzeitig
auf zwei Sticks drehen zu lassen. Wirklich maximal extrovertiert
präsentieren sich die drei jungen Russen der Truppe „Jump and
Roll“ bei ihren Sprüngen und Salti auf flexiblen Sprungfedern –
eine originelle Darbietung, wie wir sie vor dieser Saison noch
nicht gesehen haben. Eine zweite Formation von „Jump and Roll“
reist in diesem Jahr mit dem Circus-Theater Roncalli. Pedro
Pichlers Tochter Nicole dirigiert gewohnt souverän die mächtigen
Kamele des schwedischen Cirkus Olympia, auch wenn in dieser
Vorstellung nur drei der Tiere auftreten. Ein springendes Lama
bildet das Da Capo.
Ethio Brothers, Alina
Malko, Andrey Romanovski
Ein wunderbar klassisches
Zwischenspiel als Clowns servieren Maurin und sein Sohn Hector
Rossi sowie Rogerio Goncalves bei ihrer Hutjonglage. Zudem fängt
Maurin geschickt die Teller, die ihm zugeworfen werden. Damit
ist der Boden bereitet für die große Jonglagenummer im Programm.
Denn für das Jubiläumsprogramm wurden die Publikumslieblinge der
Saison 2020 nochmals engagiert, die beiden „Ethio Brothers“
Daniel und Ashenafi. Sie überzeugen nicht nur mit ihren starken
Passing-Jonglagen mit bis zu neun Keulen, sondern ganz besonders
auch mit ihrer fröhlichen, temperamentvollen und mitreißenden
Art. Diese haben sie zwischen den beiden Harlekin-Engagements
beispielsweise auch in den Häusern der GOP-Gruppe bewiesen.
Neben den Tricks finden die Brüder immer noch Zeit, sich zu
necken, und dazu passt die musikalische Begleitung durch „Let me
entertain you“. Und dies sogar mit Live-Gesang, denn nachdem das
langjährig bewährte Orchester aus der Ukraine leider nicht zur
Verfügung stehen kann, wurden Ersatzmusiker organisiert, ergänzt
durch Sängerin Polina Tsybyzova. Die Musik gehört eben zu den
prägendsten und wichtigsten Bestandteilen jeder
Harlekin-Vorstellung, so dass der Verzicht auf ein Orchester für
Pedro Pichler niemals in Frage gekommen wäre. Wirklich
überrascht hat uns Alina Malko, die seit Jahren immer wieder
neue luftakrobatische Darbietungen für den Harlekin einstudiert.
Nun hat sie sich auf besonders anspruchsvolles Terrain gewagt
und überzeugt mutig und kraftvoll am Hänge-Pole. Ihr Ehemann
Robert Rusin gehört als Betriebstechniker zu den Stützen des
Harlekin-Teams. In ihrem Musikal-Entree vermischen die
Rossi-Clowns haarsträubende Gags mit der Demonstration ihres
Könnens an verschiedenen Instrumenten. Als Pausennummer wurde ein Künstler
verpflichtet, der jahrelang zu den Attraktionen des Circus Roncalli gehörte: Andrey Romanovski krönt seine
Klischnigg-Nummer nach wie vor mit der verblüffenden
Rutschpartie durch ein Ofenrohr.
Duo Cradle, Susanne Mani,
Rossi Clowns mit Rogerio Goncalves
Aber auch interessante Newcomer
dürfen in diesem Circus niemals fehlen, und so wurden die
hervorragenden Kontakte nach Äthiopien genutzt, um die
Haltestuhl-Nummer des Duos Cradle erstmals nach Europa zu holen.
Was Fliegerin Delira und Fänger Nimona Negassa einstudiert
haben, überzeugt tricktechnisch auf ganzer Linie –
beispielsweise bei zwei direkt nacheinander ausgeführten Salti
mit verbundenen Auge. Als ganz großes Entree, wie man es heute
kaum noch zu sehen bekommt, wurde für die Jubiläumssaison das
Spaghetti-Entree einstudiert – wie bei Harlekin
selbstverständlich, mit vielen eigenen Ideen und Akzenten
anstatt als bloße Kopie von etwas Bekanntem. Rogerio Goncalves
gibt den Gast im Restaurant, Maurin und Hector Rossi die
impertinenten Kellner und Alina Malko eine herrliche exaltierte
Mamsell, welche die Speisen aus der Küche bringt. Eine
unverzichtbare Stütze des Circus Harlekin ist seit nunmehr 15
Saisons Susanne Mani. Sie kümmert sich um Vorreise und
Administration, um die Betreuung der mitgeführten Tiere und
steht nach den Vorstellungen auch noch im Ausschank am Barwagen.
Vor allem aber ist sie eine hervorragende Tierlehrerin, die Jahr
für Jahr neue Dressurkreationen mit Haustieren vorstellt. Heuer
nun lässt sie zwei stattliche Kühe paradieren, ein Pony dazu
seine Kreise im Gegenlauf ziehen, eine Ziege auf einem Esel
reiten und zwei Ponys schaukeln. Evelin Goncalves hat ihr für
den Auftritt ein wunderbares Harlekin-Kostüm geschneidert.
Jump and Roll, Susanne
Mani, Ethio Brothers, Veronika Khitsaon
Die Ethio Brothers Artisten überzeugen mit ihrer
gut gelaunten Art auch und als Kaskadeure. Voller
Action ist die umfassende Abfolge an Tricks auf und über einem
Tisch.
Nach einer weiteren Reprise der
Rossis ist es Zeit für die Schlussnummer. Die Truppe Jump and
Roll reißt das Publikum mit Salti, Schrauben und zelthohen
Sprüngen vom Schleuderbrett mit. Groß zelebriert wird bei
Harlekin stets das Finale, jeweils mit einem tanzenden und
singenden Ensemble. „Wir sind eine große Familie“ ist dabei in
den vergangenen Jahren zur heimlichen Hymne für Circusteam und
Publikum geworden.
Codirektorin Monika
Aegerter verlässt den Circus Harlekin nach 30 Jahren
2020 hat Peter Pichler erstmals
eine letzte Darbietung ins Finale integriert – das sei eine Idee
seiner schlaflosen Nächte gewesen, und er könne ja viel nicht
schlafen, ließ er uns damals in seiner stets verschmitzten Art
wissen. Dieses Modell wird seitdem im Harlekin fortgeführt,
diesmal mit einer Darbietung, die mit Sicherheit dem Humor des
Direktors entsprochen hat. Denn Veronika Khitsaon arbeitet zwar
durchweg im Handstand, doch dabei fällt ihr weiter Rock über
ihren Kopf und verdeckt diesen. Stattdessen wird ein Puppenkopf
sichtbar, der in der Höhe ihres Gesäßes auf Veronikas Kostüm
prangt. So entsteht die Illusion, sie würde doch auf Füßen
laufen. Eine Darbietung, die übers deutsche „Supertalent“ und
Rolf Knies „Salto Natale“ den Weg zum Harlekin gefunden hat. Zum
Abschluss springt die Artistin im einarmigen Handstand die Stufen des
Requisits hinauf. |