Zwei Jahre lang ging wenig
bis gar nichts. Es wurden einzelne Open-Air-Shows gespielt. Das
Material wurde auf Hochglanz gebracht. Lili Paul-Roncalli machte
in der TV-Show „Let's dance“ eine glänzende Figur und holte
gemeinsam mit ihrem Tanzpartner den Sieg. Die so gewonnene
Popularität hätte man bestens für das Tourneegeschäft nutzen
können. Auch das Eventgeschäft kam zum Erliegen, genauso wie die
Weihnachtscircusse und der Spielbetrieb im Düsseldorfer
Apollo-Varieté.
All for Art for All
„All for Art for All“ lautete der
Titel der neuen Produktion, die am 12. März 2020 in
Recklinghausen ihre Weltpremiere feiern sollte. Die Circusstadt
war auf dem Konrad-Adenauer-Platz aufgebaut, die Proben liefen.
Eine öffentliche Vorstellung gab es nicht, durfte es aufgrund
der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie nicht geben.
Roncalli blieb dran, setzte neue Termine an. Alles vergebens.
Erst am 10. März 2022 hob sich der erste Vorhang für „All for
Art for All“. Von den ursprünglich vorgesehenen Artisten waren
nur noch Maria Sarach und das Duo Minasov dabei. Der inzwischen
in der Ukraine ausgebrochene Krieg führte zu weiteren
Schwierigkeiten, das Ensemble wunschgemäß aufzubauen. So gab es
für das Gastspiel in Köln noch Umstellungen.
Circus-Theater Roncalli
auf dem Kölner Neumarkt
Dort besuchen wir das
Circus-Theater Roncalli auf dem zentralen Neumarkt, der quasi
ein Teil des innerstädtischen Shoppingbereichs ist. Wie aus dem
Ei gepellt steht die prachtvolle Stadt aus Zelten und Wagen
dort. Ein feudaler Circustraum aus längst vergangenen Tagen. Im
prunkvoll ausgestatteten Chapiteau setzt sich der Eindruck fort.
Sogar von einer frontalen Balkonloge aus kann das Geschehen in
der Manege verfolgt werden.
Krissie Illing, Gensi,
Maria Sarach
Den Auftakt der Show machen
einmal mehr die „Hologramme“, die auf einen rund um die Manege
gezogenen Vorhang aus halbtransparentem Gazestoff projeziert
werden. Damit hat Roncalli weltweit für mediale Aufmerksamkeit
gesorgt. Die tatsächliche Wirkung im Chapiteau ist aber
überschaubar. Wirklich überzeugend kommen die Projektionen nicht
daher. Und warum muss man einen Elefanten beim Rüsselstand
zeigen, wenn doch bewusst auf jegliche Tiere verzichtet wird?
Viel schöner ist hingegen der eigentliche Auftakt mit „Her
Majesty“ Krissie Illing. Zu „Land of Hope and Glory“ zieht die (Comedy-)Queen
samt Hund und Hofstaat in prächtigen Gewändern ein. Kaum hat
sich das Gefolge entfernt, legt Krissie Illing einen heißen Tanz
samt Striptease hin. Das Vorbild, Queen Elizabeth II, wäre
vermutlich „not amused“. Das Publikum in Köln dafür umso mehr.
In einem großen Bild wird das Programmmotto aufgegriffen, es ist
der Kunst gewidmet. Bekannte Gemälde werden von den Damen des
Balletts sowie den Clowns hereingebracht. Oder die Präsentatoren
stecken ihren Kopf gleich direkt in den Rahmen, um etwa den
Schrei von Edvard Munch zu verkörpern. Die Beatles bekommen
ebenfalls ihren Tribut. Als letztes erscheint Maria Sarach, die
ein Werk des niederländischen Künstlers Piet Mondrian darstellt.
Auf dem passenden Sessel zeigt sie nach dem Verschwinden der
anderen Akteure ihre Handstandakrobatik. Ob auf einem oder zwei
Armen, die Artistin hält sich immer perfekt im Gleichgewicht und
demonstriert variantenreich, wie biegsam ihr Körper ist. Leider
bleibt dies die einzige Darbietung, die konsequent nach dem
Motiv „Kunst“ gestaltet wurde. Möglicherweise ergeben sich im
Laufe der Tour noch Anpassungen. Zudem werden noch neue Kostüme
erwartet.
Kris Kremo, Duo Luna,
Paolo Carillon
Das Ballett in dunklen Mänteln,
roten Krawatten, schwarzen Melonen und mit Aktenkoffern leitet
gemeinsam mit Sängerin Sash (Oleksandra Duwentester) über zu
Kris Kremo. Der Weltstar unter den Gentleman-Jongleuren ist als
Gast für die Vorstellungen in Köln dabei. Er startet seinen
Auftritt mit einer Melone, wobei seine nicht schwarz ist,
sondern rot. Es folgen die bestens bekannten Touren mit jeweils
drei Bällen, Zylindern und Zigarrenkistchen. In der Tat ein
besonderes Erlebnis, diesen Entertainer par excellence in der
Roncalli-Manege zu bewundern. Dass er auch jonglieren kann,
beweist daraufhin Jonny Rico. Den spanischen Clown konnten wir
etwa schon im Circus Nock erleben. Hier ist er nun als komischer
Requisiteur, aber eben auch als eigenständiger Clown eingesetzt.
Er lässt Reifen durch die Luft fliegen und danach lange Messer
mit (fast) verbundenen Augen. Gleich zwei Artistinnen am
Luftring zu sehen, ist eine wahre Rarität. In diesen Genuss
kommen wir dank Marina Luna und Marika Gould. Das Duo Luna
überzeugt mit wunderbaren Figuren und durchaus riskanten Tricks.
Von der in Nebel gehüllten Manege geht es immer wieder Richtung
Kuppel. Während Jonny Rico und Clownspartner Anatoli Akerman mit
Luftballons ihre Späße im Zuschauerraum treiben, wird die
Spielfläche für Paolo Carillon vorbereitet. Der italienische
Clown ist der Tüftler unter den Spaßmachern. Er wird bei seinen
Auftritten von liebevollen, nostalgischen Konstruktionen aus
Metall begleitet. Und in diesem Jahr erstmalig von seiner
Tochter Nox. Sie ist für den Gesang verantwortlich. Dank der
Zauberkünste ihres Vaters erscheint sie quasi aus dem Nichts.
Kern ihrer Darbietung ist das poetische Spiel mit unzähligen
Seifenblasen in allen erdenklichen Formen und Größen.
Jump'n'Roll, Jonny Rico,
Krissie Illing
Den fetzigen Kontrapunkt setzen
die Jungs von Jump'n'Roll. Die federnden Stelzen an den Beinen
verleihen dem Quartett Flügel. In schwarz-weißen Outfits wagen
sie ausgelassen ihre artistischen Sprünge. Die Musik heizt ihnen
ordentlich ein. In Schwarz und Weiß gehalten sind ebenfalls die
Kostüme der Tänzerinnen, wenn sie gemeinsam mit Jonny Rico und
Anatoli Akerman die Pause ankündigen. In nahezu gleicher
Besetzung beginnt der zweite Programmteil. Die
Jump'n'Roll-Artisten springen jetzt auf dem Fasttrack, Clowns
und Ballett sind wieder dabei. Hinzu kommt Luftakrobatik. Und
dann gibt es einen weiteren abrupten Stimmungswechsel. Denn kurz
darauf gehört der Raum ganz alleine Weißclown Gensi und seinem
Konzert mit Glocken, bei dem er von Mitspielern in den Logen
begleitet wird. Ein Restauranttisch ist der nächste Ort der
Handlung. An diesem wartet Krissie Illing in ihrer Rolle als
Wilma auf ein Date. Da dieses nicht kommt und auch das befragte
Blumenorakel keine Besserung verspricht, entledigt sich die Lady
mit der markanten Frisur ihres Mantels und legt einen flotten
Tanz hin, bei dem sie mit Wasser spuckt und ihre Perlenkette
kreisen lässt. Die Britin spielt diese Szene hinreißend und ihr
schräger Humor sorgt für große Heiterkeit. Leider sind ihre
beiden Auftritte die einzigen, die für lauthalses Lachen sorgen.
Danach gehen Paolo Carillon und Gensi auf ihren Concertinas
spielend durch den Gang zwischen Logen und Gradin. Vor dem
Vorhang des Artisteingangs angekommen, begleiten sie das Ballett
musikalisch. Anatoli Akerman gesellt sich hinzu. Kostüme und
Choreographie der vier Tänzerinnen sind eine Hommage an das
Triadische Ballett von Oskar Schlemmer.
Duo Minaov, Vanessa & Sven
mit Georg Pommer
Einem komplette Facelift haben
Elena und Victor Minasov ihren Quick Change-Illusionen
unterzogen. Jetzt steht ein futuristisches Trike im Mittelpunkt.
Die ständig wechselnden Kostüme sind poppiger geworden. Nach wie
vor geben die beiden Zauberkünstler volle Power. Es geht
wirklich Schlag auf Schlag. Elena wechselt sogar dann das
Kostüm, wenn ihr Gatte sie in eine Wolke aus Kunstnebel
einhüllt. Natürlich fehlt auch das blitzschnelle Umziehen im
Glitterregen nicht. Während Jonny Rico in einem Aufgang des
Gradins auf dem Sopransaxophon spielt, wird ein weißer Flügel in
die Manege gebracht. Darauf begleitet Georg Pommer sogleich die
wunderbare Sängerin Sash zu „Easy on me“ von Adele. Damit hat
der langjährige Orchesterchef einen Auftritt im
Scheinwerferlicht. Einmal mehr sei ihm und seinen Musikern ein
großes Lob ausgesprochen. Sie tragen mit ihrem Spiel in den
verschiedensten Stilrichtungen ungemein zum Gesamteindruck bei.
Der Flügel bildet zudem das Podest für die Partner-Equilibristik
von Vanessa & Sven. Ungemein sinnlich zelebrieren die
Absolventen der Berliner Artistenschule ihre Handstandakrobatik.
Besonderheit ist hier, dass Vanessa den tragenden Part
übernimmt. Trotz dieser ungewöhnlichen Rollenverteilung wirkt
ihre Kür ganz harmonisch. Leuchter mit Kerzen in der Manege
umrahmen die Szene.
Jonny Rico, Jump'n'Roll,
Hermanos Acero
Bei deren Abbau unterstützt
„Requisiteur“ Jonny Rico, um sodann seine Fertigkeiten mit
Tischtennisbällen unter Beweis zu stellen. Geschickt jongliert
er sie mit dem Mund. Sogar eine Flaschenorgel bringt er mit den
kleinen Bällen zum Klingen. Im nächsten Augenblick wird es
wieder ausgesprochen flott. Das Ballett tanzt in Petticoats zu
Rock'n'Roll-Rhythmen. Die passen ebenfalls zur schwungvollen
Schleuderbrett-Action von Jump'n'Roll. In rasanter Abfolge
katapultieren sich die Artisten in quietschgelben Anzügen
gegenseitig in die Luft, um oben lässig anspruchsvolle Sprünge
zu zeigen. Eine in prachtvolles Gold gehüllte Tänzerin zieht die
Blick des Publikums auf sich, während das Requisit für die
letzte Darbietung vorbereitet wird. Auf einem Podest mit Treppe
arbeiten die Hermanos Acero ihre Hand-auf-Hand-Akrobatik. 2019
konnten wir Charly und Wuilder noch beim Circus Royal in der
Schweiz sehen. Jetzt sind sie dabei, die Herzen des
Roncalli-Publikums zu erobern. Frenetisch beklatscht wird ihr
Schlusstrick, wenn sie im Kopf-auf-Kopf die Treppe hinunter und
wieder hinauf gehen. Natürlich begeistern sie ebenfalls mit den
zuvor gezeigten vielfältigen Kunststücken, wie dem Einarmer auf
dem Kopf des Partners. Mit zunehmender Auftrittsroutine werden
die sympathischen Kolumbianer sicher noch an Präsenz gewinnen.
Das Finale wird Roncalli-Style zelebriert, sprich ausufernd,
lebendig, mitreißend und originell. Ein einziger Rausch. Die
fantastischen Musiker bekommen ebenso ihren Applaus wie die
Menschen, die für die perfekte Übertragung des Tons und das
gewohnt exzellente Lichtdesign sorgen. Im Epilog geht Krissie
Illing auf einer Parkbank noch einmal auf die Suche nach Mister
Right. Diesmal hat sie Glück, denn Jonny Rico erweist ihr die
Zuneigung. Wenn die beiden durch einen Bilderrahmen schauen,
schließt sich der Vorhang zum letzten Mal. Somit wird das
Programmotto nochmals aufgegriffen. |