In seinem Ausguck hoch an einem
der Masten des Chapiteaus singt er sein Lied – lange und ausdauernd. Gespielt wird er von
dem Komiker und Sänger Renaud Monthoux. So düster und
geheimnisvoll ist die Szenerie, die Regisseur Christopher D.
Gasser und sein Kreativteam für den Auftakt von „Limbes“
geschaffen haben, der Produktion zum 35-jährigen Bestehen des
Cirque Starlight. Christopher Gasser greift dazu die heute nicht
mehr verfolgte, katholische Lehre des Limbus auf, der Vorhölle.

Geheimnisvoll-düstere Szenerie
Dort befinden sich Seelen, die
ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossen sind,
beispielsweise die Seelen ungetauft gestorbener Kinder.
Christopher Gasser charakterisiert diesen Ort als „Reich des
Vergessens“. Diejenigen, die hier leben, können uns nicht
helfen, weil sie nicht mehr wissen, woher sie kommen oder wer
sie sind. Deshalb wandern sie naiv, aber mitfühlend umher.
  
Aude Lavergne, Hanne
Coeckelberghs, Marie France-Ouet und Francis-Olivier Girard
Nicht vergessen haben sie
glücklicherweise ihre akrobatischen Fähigkeiten. Und so
beeindruckt in diesen ersten Szenen des Programms Aude Lavergne
mit ihrer Equilibristik auf vier Handstäben im Hintergrund der
Szenerie. Hanne Coeckelberghs tut dies kurz darauf an
elastischen Strapaten, dreht sich geradezu ekstatisch in der
Luft, auch im Seitspagat. Dynamische Figuren, kraftvolles
Aufwickeln an den langen Bändern und mutige Abfaller werden
präsentiert. Erstmals erscheint im Hintergrund der Gondoliere
mit seinem Boot, das über die Bühne gleitet. Der Steuermann ist
ein unbekümmerter Clown, der sich an dem Gefährt erfreut,
fröhlich auf der Gitarre spielt und selbst auf den Wächter
unbefangen zugeht. Gespielt wird er überaus sympathisch und mit
toller Mimik von Victor Rossi. Weit weniger unerschrocken ist
das junge Mädchen, das nun diesen seltsamen Ort entdeckt,
verkörpert von Justine Arden. Sie hat offenbar alles vergessen,
kann auch nicht mehr sprechen. Sie weiß nur, dass sie nicht von
hier ist und möchte weglaufen. Die fremden Wesen mit den weißen
Masken reagieren freundlich. Sie zeigen der Besucherin ihre
unterschiedlichen Charaktere, legen ihre Masken ab, möchten
offenbar sogar helfen. Drei von ihnen – Marie France-Ouet, Maeva
Desplat und Francis-Olivier Girard – zeigen ihr Können bei
Akrobatik Hand-auf-Hand. Der Wächter reagiert wütend auf die
freundliche Aufnahme, so dass alle außer dem Mädchen fliehen. Er
möchte sie entführen, doch sie wird gerettet vom Clown auf
seinem Boot. Gerne möchte er mit ihr sprechen, doch ihr fehlen
weiterhin die Worte.
  
Leila Maillard,
Saranzaya Solongo und Agiima
Dashzeveg, Hanne Coeckelberghs
Leila
Maillard verschmilzt förmlich mit ihrem Vertikalseil, an dem sie
sich hochwickelt, in das sie sich einwickelt, aus dem sie sich
abwickelt. Denn auch dort, wo Circus zum Theater wird, sind die
klassischen zirzenischen Fähigkeiten und eine gute
Grundausbildung die Basis von allem. Und so entdeckt die stumme
Frau bei ihrem Gefährten auf dem Boot etwas ganz Traditionelles,
die musikalische Jacke – so wie wir sie auch von Victors Vater
Maurin („Hector“) von den gefeierten Rossyann-Clowns kennen.
Fasziniert beobachtet sie auch Saranzaya Solongo und Agiima
Dashzeveg bei ihren schlangengleichen Kontorsionen.
Nebeneinander, aufeinander und im Mundstand zeigen sie uns
diese, während das Boot sie umrundet und Victor Rossi auf seiner
Klarinette spielt. Das junge Mädchen fasst zunehmend Vertrauen
in die fremde Welt. Damit geht es in die Pause. Zu Beginn des
zweiten Teils wird Hanne Coeckelberghs in ihrem zweiten
akrobatischen Auftritt von den maskierten Gestalten in ein
weißes Tuch gehüllt. Es dient dann als Requisit für ihre
Luftakrobatik, bei der sie mit Posen und Abfallern überzeugt.

Justine Arden und Victor
Rossi
Bei seiner weiteren Fahrt im Boot
zeigt Gondoliere Rossi dem stummen Mädchen seine musikalischen
Fähigkeiten auf Klarinette und Saxofon gleichzeitig. Nun nimmt
das Programm eine vollkommen überraschende Wendung. Denn bis zu
diesem Moment ist es von einer düsteren, ruhigen,
geheimnisvoll-mystischen Grundstimmung geprägt. Der Wächter
wittert natürlich eine Bedrohung. Doch was jetzt in den „Limbes“
ankommt, ist eine bunte, gut gelaunte Gauklertruppe. Sie bringt
Fröhlichkeit und Tempo ins Programm, die den gesamten zweiten
Programmteil anhält. Mit Sprachrohr, Pauke und Becken
marschieren der Direktor (Francis-Olivier Girard) und seine
beiden Artistinnen (Marie-France Ouet und Maeva Desplat) in
bunten Circuskostümen ein und kündigen ihre große Schau an. Das
genial einfache, geradezu raffinierte Bühnenbild wandelt sich
ein weiteres Mal. Es besteht aus weißen Tüchern, die mit
Seilzügen in immer neue Formen verändert werden können. Nun
werden sie zum stilisierten Circuszelt geformt.
  
Victor Rossi, Marie
France-Ouet, Maeva Desplat und Francis-Olivier Girard, Justine
Arden
Vor dieser Kulisse dreht Maeva
Desplat ihre Runden im Cyrrad. Gemeinsam mit Victor Rossi
jongliert das Gauklertrio neun Keulen im Passing, Rossi selbst
zeigt zudem sein formidables Können bei Jonglagen mit sieben
Bällen sowie mit vier Keulen und einem Spazierstock. Das Trio
begeistert nicht nur das stumme Mädchen und den Gondolieren mit
seinen elegant gesprungenen Handvoltigen und kraftvoller
Hand-auf-Hand-Equilibristik. Das Können reicht bis zum
Drei-Personen-Hoch; das Publikum jubelt. Die Stimmung zum
Höhepunkt bringt Victor Rossi nun mit seinem witzigen
Xylophon-Spiel, bei dem zwei Helfer aus dem Publikum ihn
unterstützen. Dank der bunten Circusschau findet das bislang
stumme Mädchen zurück zu ihrem Bewusstsein, ihrer Stimme und
Sprache. So befreit, geht sie in die Luft und beeindruckt mit
ihren Ver- und Entwicklungen am Vertikaltuch. In die Luft
entschwebt anschließend auch das Boot, mit dem sie sich aus den
„Limbes“ befreit. Das Publikum im gut besuchten Chapiteau
bedankt sich mit stürmischem Applaus.

Justine Arden und Victor
Rossi mit Zuschauern
Das Direktionspaar Jocelyne und
Heinrich Gasser kann zum 35. Geburtstag seines Cirque Starlight
voller Stolz auf das Geschaffene blicken. Am Stammsitz im
Westschweizer Porrentruy betreibt die Familie seit Jahren eine
öffentliche Tennishalle, die auch als beliebte Eventlocation
dient. Nicht als Geschäftszweig, sondern ehrenamtlich wird die
örtliche Circusschule geleitet. Hinzu kommt der Cirque Starlight,
der in den ersten 15 Jahren mit traditionellen Programmen
unterwegs war. Der ältere Sohn Johnny – mehrfach preisgekrönter
Artist als Untermann am Russischen Barren – überzeugte seine
Eltern dann davon, sich mit Programmen im Stil des „Cirque
Nouveau“ ganz neu aufzustellen. Mit diesem Konzept reist die
Familie nunmehr bereits seit 20 Jahren, wenngleich nur noch für
drei Monate im Jahr und ausschließlich in der nach Frankreich
orientierten Westschweiz. Dort zeigt das Publikum sich für diese
Art der Unterhaltung, für zirzensisches Theater, aufgeschlossen.
Auch Schulvorstellungen werden hier – nach behördlicher Prüfung
der vorgelegten Regiekonzepte – in großer Zahl verkauft. Eine
absolute Besonderheit ist nunmehr, dass seit dem Jahr 2019 kein
externer Regisseur mehr engagiert worden ist. Vielmehr ist es
der jüngere Sohn Christopher D. Gasser, der als Autor und
Regisseur die dritte hochstehende Produktion in Folge für das
elterliche Unternehmen geschaffen hat – in diesem Jahr gemeinsam
mit einem Kreativteam für die technische Direktion (sein Bruder
Johnny Gasser), Kostüme (Lorène Martin), Bühnenbild (Antonin
Bouvret), Musik (Manuel Voirol) und Licht (Claude Bariteau).
Letztere setzt gewiss nicht auf eine moderne Lightshow, sondern
taucht die Bühne in ein stimmungsvolles Theaterlicht. Nach einem
kurzen Blick ins Programmheft vor Beginn der Vorstellung ist es
gut möglich, der jederzeit klar gezeichneten Handlung zu folgen,
auch wenn die Dialoge in französischer Sprache sind. Selbst ohne
dieses Verständnis wäre die Show ein Genuss, denn die wunderbar
ins Geschehen eingeflochtenen artistischen Leistungen sind
bestechend. Und die Show sieht einfach großartig aus, liefert
wunderschöne Bilder. Beispielsweise bei den Bootsfahrten durch
die Szenerie. Seit er die Larvenmaske der Basler Fastnacht
entdeckt hat, sei es ihm ein Anliegen gewesen, diese einmal in
einer Show zu verwenden, schreibt Christopher Gasser. Nun hat er
einen Weg gefunden. |