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Circus Harlekin - Tour 2023
www.circusharlekin.ch ; 152 Showfotos

Thun, 6. Mai 2023: Unser Besuch im Circus Harlekin 2022 kam uns wie ein Abschied für immer vor – zu unwahrscheinlich schien es, dass das Unternehmen nach dem plötzlichen Tod des Direktors Pedro Pichler am 14. Juli 2022 und dem Abschied seiner Co-Direktorin Monika Aegerter zum Saisonschluss weitergeführt werden könnte. Doch weit gefehlt: Anfang Mai feierte der Circus Harlekin Saisonpremiere auf der Thuner Allmend. Pedros Frau Beatrice hat die Geschäftsleitung übernommen und führt sein Lebenswerk gemeinsam mit Tochter Nicole und Schwiegersohn Petro Luk’yanchenko Pichler weiter.

Bis zum 1. Oktober soll in der Saison 2023 gespielt werden, im bekannten Reisegebiet in den Kantonen Bern, Luzern, Obwalden und Wallis. Der Tourneeplan wurde um einige Stationen gestrafft und hinsichtlich der Entfernungen zwischen den Gastspielorten weiter optimiert. Erst im Februar hat die Familie Pichler endgültig entschieden, das Wagnis der 31. Tournee einzugehen. „Da hat sich unser Kapellmeister Kostiantyn Tsybizov gemeldet, dass er wieder ein sechsköpfiges Orchester zusammenstellten konnte. Das war für uns der Punkt, dass wir gesagt haben, wir machen es“, erinnert sich Nicole Pichler beim Gespräch nach der Premierenvorstellung.


Gewohnter Anblick des Circus Harlekin auf der Thuner Allmend

In vielerlei Hinsicht sei sie ins kalte Wasser gestoßen worden. So habe sie bei den für die notwendigen Bewilligungen zuständigen Behörden angerufen und erklärt, dass sie erstmals selbst die Circustournee plane. „Wir haben dann jeweils einen Termin vereinbart und alles Notwendige besprochen. Ich habe überall große Hilfsbereitschaft erlebt“, erinnert sie sich. So lagen pünktlich zum Tourneebeginn alle notwendigen Bewilligungen vor. Die Artisten für das wirklich starke Programm machte sie vorwiegend per Facebook ausfindig, andere bewarben sich selbst beim Harlekin. Auch liegt traditionsgemäß schon am Premierentag ein hochwertiges Programmheft vor, mit ganz aktuellen Bildern des Schweizer Circusfotografen Thierry Bissat, aufgenommen in der Harlekin-Manege. Das schöne Plakatmotiv zum Programm-Motto „Zouberhaft“ hat eine grafisch versierte Freundin der Junior-Circuschefin gestaltet. „Ich habe ihr 20 verschiedene Circusplakate als Muster gezeigt und war überrascht, was für ein tolles Sujet sie gestaltet hat – sie hat so etwas noch nie zuvor gemacht“, berichtet Nicole Pichler. Und den ausführlichen Final-Tanz mit dem Ensemble studierte ihre Cousine Lara Mierisch ein, die als erfolgreiche Eiskunstläuferin das richtige Händchen dafür hatte. Nicoles Ehemann Petro zeichnet nunmehr für den gesamten technischen Bereich verantwortlich. So trugen viele engagierte Helfer zum Neustart des Circus Harlekin bei. Dieser ist umso bemerkenswerter, als Nicole Pichler weiterhin mit einer 100-Prozent-Stelle als Lehrerin tätig ist und sich „nebenbei“ um den Circus kümmert. Der Verein der Freunde des Circus Harlekin hat sich aufgelöst, und mit der bisherigen Codirektorin Monika Aegerter hat fast das gesamte Stamm-Team das Unternehmen verlassen: Universaltalent Susanne Mani, Betriebstechniker Robert Rusin mit Ehefrau Alina Malko, der Großteil der langjährigen marokkanischen Arbeiter. Artist Rogerio Goncalves sowie die Clowns Hector und Pierrot Rossi, die vier bzw. fünf Saisons lang dabei waren, haben sich neue Engagements gesucht. Der Name von Monika Aegerter taucht im aktuellen Programmheft nicht mehr auf. Auf einer Doppelseite wird beschrieben, wie Pedro Pichler den Circus gegründet und als Clown reüssiert habe. Monikas Wirken als Weißclownin im Duo „Les Nicas“ und als Codirektorin bleiben unerwähnt. Im Barwagen fehlen ihre Fotos.


Nina Rodrigues, Truppe Cheban

Ansonsten bietet der Circus mit seinem blau-weißen Zelt den gewohnten Anblick. Zum Beginn der Vorstellung sind Logen und Tribüne hervorragend besetzt. Der Franzose Thomy Leglise schminkt sich an einem kleinen Tischchen in der Manege zu Clown Mister Tomito. Dabei wird er mehrfach von zwei frechen Tänzerinnen in Harlekin-Kostümen und mit Staubwedeln in den Händen gestört. Es schließt sich ein schwungvolles Charivari an, bei dem einige der Artisten Kostproben ihres Könnens zeigen. Das Opening geht nahtlos über in die erste artistische Darbietung. Nina Rodrigues schwebt zu druckvoller Musik im Zopfhang. Besonders hervorzuheben sind zum einen die blitzschnellen Drehungen um sich selbst, zum anderen der Trick, bei dem sie sich mit einem Fuß in dem Seil über sich einhakt und nun quasi kopfüber hängt. Rhythmischer Applaus ist der Lohn. Mister Tomito sucht sich für sein amüsantes Tennismatch einen Mitspieler aus den Zuschauerreihen – und findet jeweils Trost bei „Mama“ in der Logo, nachdem er vom Ball an verschiedenen Körperstellen getroffen wird. Auch in dieser Saison wartet der Circus Harlekin mit einer mehrköpfigen Formation auf – und dazu haben die fünf Jungs der Truppe Cheban aus Moldawien noch zwei Genres mitgebracht, die es hier noch nicht zu sehen gab. Zunächst schlagen sie auf großen Reifen sitzend Salti. Mal wird einer nach einem der Sprünge in einer Hand-auf-Hand-Position gefangen, mal lässt sich einer von Reifen zu Reifen katapultieren. Auch Seilspringen gehört zum Repertoire, und schließlich schlägt einer der Artisten einen Rückwärtssalto mit dem Reifen, der von zwei Kollegen in einer Handvoltigen-Position gehalten wurde.


Nicole Pichler, Duo Comic Love

So überraschend wie diese außergewöhnliche Darbietung, so vertraut ist Nicole Pichlers Vorführung mit vier stattlichen Kamelen aus dem schwedischen Cirkus Olympia. Ein springendes Lama gesellt sich noch dazu. Eine weitere Tiernummer gibt es im aktuellen Programm nicht. Mister Tomito ist nicht nur der Clown in diesem Programm, sondern im Quick-Change-Duo „Comic Love“ auch der Partner von Maria Girda. Mit dieser flirtet er zunächst auf einer Parkbank, dann tauscht die Dame in Windeseile immer wieder ihre Outfits – unter anderem im Glitzerregen. Mister Tomito wechselt die Anzugfarbe von Rot nach Weiß. Was könnte besser passen zu diesem Circus als ein Artist in einem schönem Harlekin-Kostüm? Als ein solcher Weißclown zeigt Mikhail Hidei eine starke Arbeit auf dem Schlappseil. So sitzt er auf einem Stuhl auf dem Seil und jongliert dabei mit fünf Ringen oder er kombiniert seine Einradfahrt mit der Jonglage von vier Ringen und lässt dabei noch zwei Teller auf einem Gestell rotieren, das er mit dem Mund hält. Auch für ihn applaudiert das Publikum rhythmisch. Nun ist es an der Zeit, dass Mister Tomito mit seinem Picknick in der Manege in die Pause überleitet.


Duo Cradle, Ivan Radev, Mister Tomito

Teil zwei eröffnen die einzigen Artisten, die aus dem Vorjahr übernommen wurden: das Duo Cradle aus Äthiopien am Fangstuhl. Was Fliegerin Delira und Fänger Nimona Negassa einstudiert haben, überzeugt tricktechnisch auf ganzer Linie – beispielsweise bei zwei direkt nacheinander ausgeführten Salti mit verbundenen Auge. „Living on a Prayer“ liefert die rockige Begleitung. Mit seiner Version der bekannten „Romeo“-Szene sorgt Mister Tomito nochmal für großes Amüsement im Publikum, auch wenn der vom Liebespfeil getroffene, marokkanische Requisiteur jedenfalls am Premierenabend noch nicht so ganz in der Rolle angekommen scheint. Riesenbeifall erntet Ivan Radev für seine Jonglagen, bei denen er fünf im Dunkeln fluoreszierende Fußbälle in der Luft hält oder auf einem Stab drei unterschiedlich große Bälle aufeinander gestapelt rotieren lässt. Mister Tomito gewinnt der geradezu klassischen Rockband-Szene mit Akteuren aus dem Publikum eine neue Seite ab, wenn die Mitspieler mangels ihn überzeugender Mitwirkung hinter dem Vorhang des Artisteneingangs „erschossen“ werden. Auch der Komiker selbst fällt zum Abschluss scheinbar einer Kugel zum Opfer.


Anastasiia Volkova, Truppe Cheban

Die zweite Luftnummer im Programm übernimmt Anastasiia Volkova am Ring – im Genickhang, bei Drehungen, Posen und kreisenden Flügen über dem Manegenrund. Nachdem Mister Tomito eine Zuschauerin vermeintlich ihres Büstenhalters beraubt hat, sind alle Vorbereitungen getroffen für die Schlussnummer. Erstmals in der Geschichte des Circus Harlekin wird eine Darbietung an der Russischen Schaukel gezeigt, präsentiert von der Truppe Cheban. Bis knapp unter die Kuppel reichen die gewagten Sprünge, ob nun beim Zweifachen mit Schraube, einem doppelten Rückwärtssalto oder dem dreifachen Salto. Gelandet wird jeweils auf der Matte. Den Abbau des Requisits überbrückt nochmals Mister Tomito mit einer kurzen Reprise. Gewohnt ausgiebig zelebriert wird bei Harlekin das Finale, auch wenn heuer niemand mehr singt. Dafür gibt es einen umfangreichen Tanz, der gut gelaunt präsentiert wird.

Wie eh und je bietet der Harlekin starken Circus im kleinen Rahmen, einfach „Ambiance und Qualität“, fast durchweg mit hervorragender Live-Musik begleitet und mit heiter-sympathischer Note. Die hervorragende Stimmung entlädt sich in Standing Ovations, und eine selbstbewusste, strahlend glückliche Nicole Pichler verabschiedet sich mit einem Dank an alle, die zu dem Neustart beigetragen haben. Ihre Cousine Lara schließlich würdigt den Mut, sich in einer schwierigen Situation für die Fortführung des Circus Harlekin zu entscheiden, und überreicht jedem Artisten einen Glücksbringer – hochemotionale Momente unter dem Chapiteau. Hoffen wir, dass uns der Harlekin noch viele Jahre erhalten bleibt, aber auch, dass sich offene Gräben bald wieder schließen.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Moll