Die
zweitgrößte Stadt im gesamten deutschsprachigen Raum bietet in
diesen Herbsttagen mindestens dreimal Circus: das Circus-Theater
Roncalli auf dem Rathausplatz im Herzen der Stadt, „Yakari – die
indianerstarke Pferdeshow“ auf dem Prater und eben den Circus
Alex Kaiser in Floridsdorf, dem 21. Wiener Gemeindebezirk am
Stadtrand. Seit vielen Jahren reist das Unternehmen der
gleichnamigen deutschen Familie in der Alpenrepublik.
Ambiance bei Tag und bei Nacht
Das
genutzte Gelände an einer stark befahrenen, zweispurigen Straße
ist dank vorheriger Gastspiele des Circus Safari beim Publikum
eingeführt, bietet aber nur eingeschränkten Raum. Hier hat die
Familie von Alex Kaiser das größere ihrer beiden Viermast-Chapiteaus in weiß mit rotem Dekor errichtet. Die
Rundbögen zwischen den Mastenpaaren und jeweils fünf Flaggen
obendrauf, der große Kaiser-Schriftzug auf dem Zelt und der
Paradezaun mit dem Eingangsportal, dieses mit
Alex-Kaiser-Leuchtschrift, schaffen ein einladendes Bild. Auf
ein Vorzelt muss aufgrund der begrenzten Platzverhältnisse
verzichtet werden. Rechter Hand finden wir somit den
Restaurationswagen im Freien, links einige Dixie-Toiletten. Ein
Toilettenwagen würde mit der Qualität des sonstigen Materials
und des Programms besser korrespondieren. Im Inneren des
Spielzeltes bewirken Logenstühle, Schalensitztribüne und der
Artisteneingang aus rotem Stoff eine einladende Atmosphäre.
Äußerst umfangreich bestückt ist die Lichtanlage, deren
Scheinwerfer an drei Traversen zwischen den Masten, in der
Zeltkuppel, am Artisteneingang und ringsum an der Rückwand des
Gradins angebracht sind. Damit wird die Show in ein wahres
Farbenmeer getaucht.
Germen Kaiser,
Jason Medini-Torregrossa, Veronika Khistova
Clown
Jason Medini-Torregrossa begrüßt beim Warm-up vor der Show die
Kids ringsum im voll besetzten Zelt mit Handschlägen, balanciert
einen Staubwedel auf seinem Kopf oder lässt sich ein Kind daran
versuchen. Nach der Ouvertüre heißt Alex Kaiser, ein Sohn des
verstorbenen Circusdirektors Edmund Kaiser, das Publikum in
Reimform willkommen. Im weiteren Verlauf der Vorstellung führt
er mit engagierten Moderationen durchs Programm. Weil der
hauseigene Viererzug Pferde derzeit pausieren muss, präsentiert
uns Germen Kaiser im eleganten, schwarzen Livree ein
goldfarbenes Solopferd, unter anderem mit Rückwärtslauf,
Hürdenlauf und Knicks. Mit Puscheln geschmückt ist der Schimmel,
der als Da Capo einen Vorwärtssteiger zeigt. Clown Jason erweist
sich als motivierter, sympathischer Begleiter durchs Programm.
Zunächst erzeugt er mit einem Klatschspiel Stimmung, dann
balanciert er einen Tennisball auf seinem Kopf – mit Vorteil,
denn dank des Stirnbands mit Klettverschlusss-Technik kann der
Ball garantiert nicht herunterfallen. Ohne solch
augenzwinkerndes Flunkern kommt Veronika Khistova aus, die uns
mit ihrer außergewöhnlichen Hula-Hoop-Nummer verzaubert. Zu
ruhiger Musik lässt sie sich zunächst in den Spagat gleiten,
während sie auf ihrer Stirn einen Reifen balanciert. Stehend und
ebenfalls mit einem Reifen auf der Stirn gelingt es ihr, drei
kleinere Reifen zu jonglieren und einen weiteren, größeren um
ihre Knie kreisen zu lassen. Wenn sie einen einarmigen Handstand
drückt, bewegt sie mit den übrigen drei Extremitäten jeweils
einen Ring. Und schließlich sind es sieben Reifen, die um ihre
Arme, ihre Beine und ihren Rumpf rotieren. Ein starker Auftritt,
charmant und mit stetem Lächeln im geschmackvollen blauen Kostüm
vorgetragen.
Los Germanos.
Polina, Alex Kaiser, Jason Medini-Torregrossa
Clown
Jason hat seine liebe Not, wenn er ein elastisches Band spannen
will, doch die um Hilfe gebetenen Logengäste es immer wieder
schnalzen lassen – dazu animiert von Juniorchef Maiwen Kaiser,
der freilich am Ende der Gelackmeierte ist. Seine starke
Jonglagenummer ist derzeit aus gesundheitlichen Gründen nicht im
Programm. Voller Verblüffung erkennen wir auf dem Hochseil,
neben den kolumbianischen Artisten Raúlito Gil und Luis Robeiro
Quiceno, auch Direktionsspross Germen Kaiser. Entsprechend wird
das Trio als „Los Germanos“ angekündigt. Rückwärtsrolle, Sprünge
über ein und zwei auf dem Seil kauernde Partner,
Zwei-Personen-Hoch, Fahrradfahrt, Seilspringen und die
Dreierpyramide mit freiem Stand auf dem Stuhl sind wesentliche
Bestandteile des Repertoires. Wie uns später berichtet wird, ist
der dritte kolumbianische Partner aktuell verletzt, so dass
Germen Kaiser seinen Sprung von Schulter zu Schulter zweier
Untermänner derzeit nicht wagen kann. Direkt im Anschluss geht
es gleich nochmals hoch hinaus. Rote Strapatentücher, ein rotes
Kostüm und offene, blond gelockte Haare – es ist ein wunderbarer
Anblick, wie Polina aus der Ukraine hier zwischen Posen,
Abfallern und Spagat wechselt, auch wenn die Darbietung recht
kompakt erscheint. Heiterkeit löst Clown Jason aus, wenn er sich
mit einem Jungen aus dem Publikum im Wasserspucken misst. Beim
abschließenden „Duell“ profitiert Jason vom schier
unerschöpflichen Wasservorrat in seinen Backen.
Alex Kaiser,
Germen Kaiser, Polina
Viel zu
selten dürfen wir uns heute an Bildern des klassischen Circus
erfreuen, die noch vor wenigen Jahren selbstverständlich waren.
Hier gibt es diese noch, wenn Direktor Alex Kaiser im schönen
Kostüm mit Glitzerjacke drei mit Prunkdecken geschmückte Kamele
zu einer Freiheitsdressur anleitet. Als die mächtigen Tiere mit
den Vorderbeinen auf die Piste steigen, nutzen die Logengäste
gerne die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme. Und noch ein
klassisches Circusbild folgt vor der Pause mit der Reitertruppe
Kaiser. Im Mittelpunkt der Jockey-Nummer steht wiederum Germen
Kaiser, der auf dem Pferderücken über eine Gerte springt, das
Seilspringen beherrscht und mit drei Keulen jongliert. Dem Trio
gehören darüber hinaus sein jüngerer Bruder Sharon und dessen
Freundin Veronika Khistova an. Am Ende reiten alle drei auf
einem Pferd. Den zweiten Teil des Programms eröffnet Polina mit
einer weiteren Luftnummer. Nunmehr ist es ein Ring, an dem sie
ohne Longensicherung Kraft, Mut und Beweglichkeit demonstriert,
dies beispielsweise mit Kniehang an einem Bein, Fershang und mit
einem rasanten Wirbel, bei dem sie sich mit den Händen am
Requisit hält.
Sharon Kaiser, Jason
Medini-Torregrossa, Germen Kaiser
„I’m still
standing“ liefert gleich darauf die rasante Musikbegleitung,
wenn Sharon Kaiser – assistiert von Veronika Khistova – zwei
Dalmatiner unter anderem zu Reifensprüngen und zum Seilspringen
anleitet. Im Kraftmenschen-Outfit serviert Clown Jason seine
Version der Schleuderbrett-Reprise, in der ein Mitspieler aus
dem Publikum eine besondere Überraschung erlebt. Einen weiteren
Beweis seiner enormen Vielseitigkeit erbringt Germen Kaiser mit
der Vorführung eines Groß und Klein. Pferd und Pony sind in
gleicher Weise braun-weiß gescheckt. Als Spitzenleistung kündigt
Alex Kaiser jenen Trick an, bei dem das mit Federpuscheln
geschmückte Pony auf einem Postament steht und das Pony mit
einem Satz zwischen seine Beine springt und dort stehen bleibt.
Veronika Kistova,
Finale,
Luis Robeiro Quiceno
Und auch
der folgende Auftritt von Veronika Khistova wird von dem
Direktor besonders herausgestellt, denn sie war Teilnehmerin
beim „Supertalent“. Ihre Handstandnummer gefällt uns in der
neuen, „erwachsenen“ Variante deutlich besser als die kindliche
Version, die zunächst bei Salto Natale und dann im Schweizer
Circus Harlekin zu erleben war. Früher arbeitete die Ukrainerin
in einem Rock, der ihr bei den Handständen über ihren Kopf fiel
und diesen verdeckte. Stattdessen wurde ein Puppenkopf sichtbar,
der in der Höhe ihres Gesäßes auf ihrem Kostüm prangte. Nun
tritt Veronika Khistova im klassischen Stil auf. Auf ihrem
Piedestal ist ein einziger Handstab angebracht, auf dem sie ihre
sehr starken Figuren elegant und zugleich mit großer Ausdauer
zelebriert. Zum Abschluss hüpft die Artistin in beeindruckender
Weise im einarmigen Handstand die neun Stufen des Requisits
hinauf. Mit „Hello Dolly“, auf der Trompete gespielt, überbrückt
Jason Medini-Torregrossa den Aufbau des Todesrades. Auf diesem
sorgen nochmals „Los Germanos“ für Spannung. Germen Kaiser läuft
und springt auf der einen Seite des Rades im Kessel, auf der
anderen Seite wechseln sich seine beiden kolumbianischen
Mitstreiter ab. Raúlito Gil beherrscht den einarmigen Aufschwung
am Rad, Luis Robeiro Quiceno den Blindlauf, das Seilspringen,
den Lauf über die Achse und hohe Sprünge. Beim Schlusskompliment
verlangt Direktor Alex Kaiser eine Standing Ovation, und das
Publikum folgt der Aufforderung praktisch ausnahmslos. |