Die Saisons 2022 und 2023
waren äußerst erfolgreich. Was liegt also näher, als das
bewährte Konzept im Kern beizubehalten und auf dieser Basis ein
neues Programm zu entwickeln? Genau das haben die
Verantwortlichen des Zirkus Charles Knie getan. Es wurden –
neben einigen Prolongationen - neue Artisten, ein neuer Clown
und ein neues Ballett engagiert.
Szene aus dem Finale mit
Liudmila Vrinceanu
Zudem wurden viele neue Kostüme
bestellt. Dies bei der Schneiderin, die unter anderem die
fantastischen Roben für die Inszenierungen von Gia Eradze
fertigt. Aus diesen Zutaten sowie Licht und Musik hat Marek Jama
wiederum eine grandiose, innovative Show geschaffen. Schon bei
der Premiere in Northeim läuft diese rund ab, hat genau die
richtige Länge und keine Längen. In den vorangegangenen Tagen
und Wochen wurde intensiv geprobt. Das Publikum im ausverkauften
Chapiteau feiert das Programm frenetisch mit Standing Ovations.
Veronika Ernesto, Sergio
Paolo, Laura Urunova
Das Opening gibt der Formation
Argendance die Gelegenheit, sich dem Publikum vorzustellen. In
Summe besteht die Truppe aus jeweils vier Damen und Herren. Im
Eröffnungsbild tanzen sie in fluoreszierenden Kostümen. Auf dem
Orchesterpodium ist Sängerin Liudmila Vrinceanu dabei. In den
letzten beiden Jahren gehörte sie zu den Magic Girls von Magier
Jidinis. Jetzt peppt die attraktive Blondine in immer wieder
neuen Outfits die Show mit ihren Songs auf. Auf der Bühne
spitzen schon die ersten kleinen Fontänen, doch im Zentrum
findet sich eine Nixe in ihrem halbrunden, durchsichtigen
Bassin. In die Rolle der Meerjungfrau schlüpft die vielseitige
Veronika Ernesto. Bald legt sie ihre Schwanzflosse ab und zeigt
Artistik am Luftring. Immer wieder taucht sie dabei in die
Waterbowl, schwimmt ein paar Runden und lässt sich wieder
Richtung Kuppel ziehen. So ergeben sich fantastische Effekte mit
tausenden von Tropfen. Während des folgenden Umbaus ziehen
Figuranten mit prächtigen Fischen auf dem Kopf durch den
Zuschauerraum. Andere sind als Tintenfisch verkleidet. Auf der
Bühne fahren zauberhafte Seepferdchen auf Rollern ihre Runden.
Dann gehört das Scheinwerferlicht Sergio Paolo. Der Bouncing-Jongleur hat das Temperament seiner chilenischen Heimat
mitgebracht und dreht bei rasanten Touren richtig auf.
Lebensfreude pur wird versprüht, wenn er seine weißen Bälle
immer wieder Richtung Boden schickt. Als Requisit dient ihm eine
Plattform mit Treppe. Letztere läuft er locker herunter, während
er dabei jongliert. Auch einen Basketballkorb baut er in seine
Darbietung ein. Schlusstrick ist ein Salto während der Jonglage
mit fünf Bällen. Bunte Projektionen auf dem Boden sowie eine
rassige südamerikanische Choreographie mit Argendance und
Liudmila Vrinceanu leiten über zur Papageiendressur von Laura
Urunova. Diese kennen wir bereits aus dem letzten Programm, doch
ist es immer wieder schön, den prächtigen Vögeln bei ihren
Kunststücken zuzuschauen. Unter der Anleitung ihrer charmanten
Trainerin tanzen sie, nehmen in Liegestühlen Platz oder
überbringen eine Rose, um nur einen Ausschnitt aus dem
Repertoire zu nennen. Fantastisch sind die abschließenden Flüge
über den Köpfen der Zuschauer.
Michael Cadima, Duo
Stauberti, Lorenzo Bernardi
Dann hat Michael Cadima seinen
ersten Auftritt. Der Clown folgt auf Cesar Dias, der mehrere
Saisons beim Zirkus Charles Knie absolviert hat und zu einem
Publikumsliebling avanciert ist. Und an seinen portugiesischen
Landsmann erinnerte mich Cadima sehr stark, als ich ihn im
vergangenen Reutlinger Weihnachtscircus zum ersten Mal sah.
Mimik, Gestik, das Erzeugen von Geräuschen mit dem Mund, alles
sorgte für ein déjà-vu. Doch die Sorgen einer Dopplung erweist
sich als unbegründet. Die hier gezeigten Nummern sind geschickt
ausgewählt. Auch hat Cadima sein Spiel leicht angepasst. So
kommt er jugendlich, witzig, sympathisch und eben weitgehend
eigenständig rüber. In seiner ersten Geschichte geht er mit
einem imaginären Hund spazieren und spielt auf einem Schlagzeug,
welches ebenfalls unsichtbar ist. Hoch hinaus geht es mit dem
Duo Stauberti. Percheakrobatik ist bekanntlich das Metier von
Dimitri und seiner Nichte Nancy. Diesem gewinnen sie viele
spannende Varianten ab. Denn während der Untermann seine
Partnerin am Ende einer langen Stange auf der Stirn balanciert,
erklimmt er etwa ein Stufengestell oder fährt Einrad. Nancy
wiederum drückt oben einen einarmigen Handstand oder zeigt im
Kopfstand Antipodenspiele. Es folgt eine Modenschau mit
Argendance in exquisiten Kreationen. Dazu bringen die Akteure
beleuchtete Würfel mit auf die Bühne. Hintereinander aufgestellt
bilden sie den Catwalk für den nächsten Artisten. Lorenzo
Bernardi kam im Laufe der Saison 2022 zum Zirkus Charles Knie.
Der Kontorsionist faltet seinen Körper gleich zu Beginn so
zusammen, dass er ihn mühelos in einer vermeintlich viel zu
kleinen Box unterbringt. Dann verbiegt er sich auf ungewöhnliche
Weise und verbindet dies mit Handstandakrobatik. Beim
sympathischen Italiener wirkt das alles sehr ästhetisch. Zum
Abschluss zerschießt er einen Ballon mit Pfeil und Bogen. Die
Auslösung erfolgt mit den Füßen, während er sich im Zahnstand
im Gleichgewicht hält.
Julia & Kevin,
Wasserspiele, Argendance
Was man Witziges mit einem
Spazierstock anstellen kann, demonstriert sodann Michael Cadima.
Zu einem Traum in rot wird die Akrobatik an Tüchern von Julia
Friedrich und Kevin Gruss. Der Sohn von Gilbert Gruss, dem
Direktor des französischen Cirque Arlette Gruss, und seine
Partnerin verzaubern in dieser Saison das hiesige Publikum. Zur
starken Trickfolge kommt ein leidenschaftliches Spiel der beiden
miteinander. Mehrmals wagen sie in luftiger Höhe Flüge, Abroller,
vor allen Dingen aber Haltefiguren, die ein hohes Maß an
gegenseitigem Vertrauen erfordern. Dazu tanzen die Fontänen, das
Licht schafft wunderschöne Stimmungen und als musikalische
Begleitung gibt es „Je t'aime“ von Lara Fabian. Hier dargeboten
von Liudmila Vrinceanu im aufregenden roten Kleid mit zugehörigem Kopfschmuck. Ihre gesamte modische Kreation erinnert
an eine Koralle. Vor der Pause dann ein Spektakel aus Wasser,
Licht, Lasern und Musik. Ruslan Urunov lässt die von ihm gebaute
Wasserbühne zu Hochform auflaufen. In immer wieder neuen
Formationen schießen die Fontänen nach oben. Es ergeben sich
eindrucksvolle Bilder, die für Gesprächsstoff sorgen.
Angekündigt wird die Unterbrechung von der Stimme aus dem Off,
die uns mit originellen, auf die Wasserproduktion abgestimmten
Texten durch den Nachmittag begleitet. Im Vorzelt gibt es eine
reichhaltige Restauration, die keine Wünsche offen lässt. Wer
ein entsprechendes Bedürfnis hat, kann den mit Beginn der Saison
in Betrieb genommenen, nagelneuen Toilettenwagen aufsuchen. Zum
Start des zweiten Teils dürfen sich die Akteure von Argendance
dann mit ihrer eigentlichen Kunst präsentieren. Mit Trommeln und
Bolaspielen legt das Oktett einen eindrucksvollen Auftritt hin,
für mich den prägnantesten der Show. Jedes Mitglied der Truppe
ist eine Persönlichkeit, die das Temperament ihrer
südamerikanischen Heimat authentisch repräsentiert. In immer
wieder neuen, präzisen Formationen tanzen sie über den auf der
Bühne ausgelegten Holzboden. Da sitzt jede Bewegung, jedes
Minenspiel. Beim treibenden Spiel auf den Trommeln ebenso wie
beim rasanten Rotieren der Bolas. Sie geben immer vollen Einsatz
und erreichen damit ohne Umwege jeden Zuschauer im Chapiteau.
Vermutlich gab es seit den Laribles beim Circus Krone in den
1980er-Jahren keine so große Truppe dieses Genres in einem
hiesigen Tourneeprogramm.
Devin de Bianchi, Laura
Urunova, Skating Ernestos
Michael Cadima holt einen Herrn
aus dem Publikum auf die Bühne und fordert ihn zum
Basketball-Duell. Bevor jedoch Körbe geworfen werden, ist
erstmal Aufwärmen angesagt. Der Gast muss die Übungen
nachmachen, die der Comedian vorgibt. Schon das sorgt für
ordentlich Spaß. Wenn dann die richtige Musik aus dem
Gettoblaster kommt, fliegen die (imaginären) Bälle durch die
Luft. Nach einem Jahr Pause ist Devin de Bianchi mit seiner
Equilibristik zum Zirkus Charles Knie zurückgekehrt. Wieder
arbeitet er auf einer antiken Säule, nun aber im Aufzug eines
Meeresgotts. Während er seine starken Handstandvariationen
zelebriert, tanzen um ihn herum die Fontänen. Ein weiteres
wunderschönes Bild dieser Wasserproduktion. Von Anbeginn dabei
war Laura Urunova, die ihre Hundedressur jetzt im flotten
Rock'n'Roll-Stil gestaltet. Vierbeiner verschiedener Rassen
brennen nur darauf, ihr Erlerntes vorzuführen. Mit großer Freude
drehen sie sich auf den Hinterneinen um die eigene Achse,
springen über Hürden und durch Reifen. Die Polonaise mit allen
Hunden darf jetzt ein Mädchen aus dem Publikum anführen.
Liudmila Vrinceanu und das Ballett präsentieren sich in
prachtvollen Barock-Kostümen. Ein höfischer Tanz und die
passende Musik leiten über zur Rollschuhartistik der Skating
Ernestos. Auf einer runden Plattform in der Bühnenmitte wagen
Veronika und Paolo rasante Fahrten, während um sie herum
Springbrunnen plätschern. Wir erleben durchaus riskante
Kunststücke auf kleinen Rollen, die hier so einfach aussehen und
zudem noch äußerst charmant dargeboten werden. Den Abschluss
bildet der Genickhangwirbel.
Michael Cadima, Truppe
Robles
Den Song „I'm still standing“
kennen wir von Elton John. Nun erleben wir die Variante von
Michael Cadima, bei welcher der Titel durchaus wörtlich zu
nehmen ist. Denn während seiner Performance gibt es etliche
Pannen, die natürlich exakt gespielt sind. Es ist wirklich ein
herrlicher Spaß, der einem die Lachtränen kullern lässt.
Anleihen an die Mayway-Nummer von Cesar Dias sind sowohl in der
Grundidee als auch bei einzelnen Gags – etwa dem Herunterrutsche
der Hose – zu sehen, dennoch gelingt Michael Cadima eine recht
persönliche Interpretation. Für den großen Nervenkitzel vor dem
Finale sorgen einmal mehr die Robles. Für mich die derzeit beste
Hochseiltruppe mit der Sieben-Personen-Pyramide im Repertoire,
welche sicher gelaufen wird. Zuvor begeistern uns die Artisten
etwa mit einer Dreier-Pyramide auf Fahrrädern oder dem
Überspringen von auf dem Seil sitzenden Partnern. Dabei beweisen
die Akteure, dass sie südamerikanisches Blut in den Adern haben,
es geht temperamentvoll zu. Disko-Glitzer beherrscht die
fulminanten Abschiedsszenen. Während die Fontänen tanzen, fährt
ein Podium im Zentrum der Bühne in die Höhe. Darauf eine
Glitter-Muschel, der Liudmila Vrinceanu entsteigt, um „Rhythm is
a Dancer“ zum Besten zu geben. Die 90er-Jahre Disco-Hymne bildet
den musikalischen Rahmen. In Glitzerkostümen und mit Diskokugeln
in der Hand kommen die Mitglieder von Argendance hinzu. Die
Artisten fluten den Gang zwischen Logen und den weiteren
Sitzreihen, um sich dort für den nicht enden wollenden Applaus
zu bedanken. An dieser Stelle nochmals ein großes Lob an Licht-
und Tonregie, die einen gewohnt grandiosen Job machen. |