Das
Messegelände von Colmar ist eine der letzten Stationen dieser
Jubiläumstournee. Hier ist das schneeweiße Chapiteau
aufgeschlagen, das in genialer Weise den Zuschauerraum, die
Restauration und den Backstagebereich unter einer lang
gestreckten Konstruktion von den Ausmaßen eines Achtmasters
vereint. Manege und Tribüne jedoch liegen unter außen liegenden
Stahlgittermasten, so dass beste Sicht von allen Plätzen
garantiert ist. Dies gilt erst recht dank des kompakten
Innenraums mit seinen ansteigenden Sitzreihen bereits in den
Parkettlogen und edel beleuchteten, umlaufenden Balkonlogen. Man
sitzt auf komfortablen Klappsitzen der neuesten Generation.
Alles ist vom Feinsten, und das gilt natürlich auch für Licht
und Ton. Das große Orchester begleitet das Geschehen.
 
Bild von Madame Arlette Gruss im Prolog, Opening
Im Prolog
gehen wir dank eines Videos, das auf einer Leinwand im
Artisteneingang gezeigt wird, auf eine bilderstarke Reise durch
die 40 Jahre währende Geschichte des Unternehmens. Natürlich
sehen wir auch Madame Arlette Gruss, die 2006 im Alter von 75
Jahren verstorbene Namensgeberin und Gründerin des Unternehmens.
Heute wird es von ihrem Sohn Gilbert geführt, dies
gemeinsam mit Ehefrau Linda Biasini Gruss und der älteren
Tochter Laura Maria. Die beiden jüngeren Kinder, Sohn Eros und
Tochter Alexis, sind bereits hervorragende Artisten und wichtige
Stützen des Programms. Gilberts ältester Sohn Kevin und dessen
Ehefrau Julia dagegen sind seit 2024 mit dem Zirkus Charles Knie
in Deutschland unterwegs. In der Manege sehen wir nun, wie ein
junger Mann sich in einem Bett schlafen legt und in einen Traum
über die Geschichte des Cirque Arlette Gruss fällt. Es
erscheinen ihm zahlreiche, farbenfroh gekleidete Fantasiefiguren
– das Ensemble der Produktion, das uns in einem großen Opening
mit Tanz und Gesang begrüßt. Die starke Stimme gehört der
bildhübschen Eva Poirieux.
  
Karina
Believa, Arthur Huard Vereano, Uliana Plotnikova
Das
Eröffnungsbild geht direkt über in die erste Darbietung. Karina
Believa dreht sich hier im Cyrrad, markanterweise nicht durch
die gesamte Manege, sondern auf dem eng begrenzten Raum einer
runden Holzplatte in deren Mitte. So sind quasi nur Figuren in
aufrechter Position möglich, bei denen sie sich mal nur an zwei
Händen, mal zusätzlich in einer Art Standspagat hält. Begleitet
wird sie von intensivem Gesang. Der Mann im Schlafanzug hat
diesen inzwischen gegen ein festliches rotes Livree getauscht
und stellt sich als der neue Monsieur Loyal Arthur Huard Vereano
heraus. Bereits seit einigen Jahren mit Arlette Gruss unterwegs,
wurde ihm nun diese Aufgabe übertragen. Eine gute Wahl, denn er
setzt nicht nur die Worte wohl, sondern sieht dazu auch blendend
aus. Er führt uns zur nächsten Solistin, Uliana Plotnikova mit
ihren anspruchsvollen Jonglagen. Sie hält größere Bälle in der
Luft, erst drei, dann vier und dann für kurze Zeit auch fünf –
dies, während sie in ihrem an eine Ballerina erinnernden Kleid
auf einer großen Kugel balanciert, von mitreißenden Klängen
begleitet. In poetischer Weise rollt ein kleiner Ball
währenddessen ferngesteuert durch die Manege und kommt
schließlich auf sie zu. Wie bereits in der Vorsaison sorgt der
sympathische Francesco Fratellini für die amüsanten Momente der
Show. Diesmal nicht mehr in Begleitung von Pieric. In seiner
ersten Reprise hat er mit einem imaginären Bumerang zu kämpfen,
von dem er getroffen wird.
 
Laura
Maria und Linda Gruss
Die
Kavallerie wird traditionell von Linda Biasini Gruss und Tochter
Laura Maria vorgestellt. Ganz im Stil des Hauses leiten sechs
Ballettdamen in eleganten roten Kleidern und mit passenden
Hüten, letztere mit effektvoller LED-Beleuchtung, diesen Part
der Vorstellung ein. Jede von ihnen dreht sich mit einem der
Friesen, die zunächst von Laura Maria Gruss vorgestellt werden.
Die sechs schwarzen Rösser formen sich zum Stern um die
Vorführerin und steigen in der Gruppe. Nun übernimmt Linda
Biasini Gruss, die Pferdegruppe wird mit drei Schimmeln zum
Neunerzug erweitert, unter anderem im Gegenlauf. Dabei leuchten
auch die Geschirre in der abgedunkelten Manege. Es folgen
Steiger-Variationen – zunächst mit den drei Schimmeln, dann ein
schwarz-weißes Quartett, schließlich ein einzelner Rundsteiger.
 
Eros
und Alexis Gruss sowie Elea Broger, Clio Togni
Nachdem
Francesco Fratellini einige Logengäste mit einem Staubwedel,
Sprühflasche und Abzieher „gereinigt“ hat, geht es ganz
ernsthaft am Trapez weiter. Eros Gruss, seine Schwester Alexis
und seine Lebensgefährtin Elea Broger haben sich diese
Darbietung gemeinsam erarbeitet, die von sphärischem Livegesang
begleitet wird. Eros ist der Porteur, die beiden jungen Frauen
wechseln sich als Voltigeusen ab. Darüber hinaus sind mehrere
männliche Figuranten eingebunden, die am Boden dezent
Hilfestellung geben. Verschiedene Haltefiguren, aber auch
dynamische Hand- und Fußwechsel bin hin zum Salto, ausgeführt
von Alexis Gruss, gehören zum Repertoire. Nochmal schmunzeln wir
mit Francesco Fratellini, der nun mit einer Zuschauerin flirtet
und ihr immer größere Kuscheltiere präsentiert. Akrobatische
Nummern in und über einer wassergefüllten Plexiglas-Schale gibt
es einige, aber Clio Togni wird man als eine der führenden
Vertreterinnen ihres Faches bezeichnen dürfen. Sie präsentiert
alternierend Equilibristik auf einem und auf zwei Handstäben –
links bzw. rechts der Waterbowl – sowie Evolutionen am Luftring,
an dem sie bis weit oben in die Circuskuppel gezogen wird. Wenn
sie vom Ring ins Wasser springt, wenn sie durch das Becken
taucht und beim Auftauchen sinnlich Wassertropfen sprühen lässt,
ist für wunderbare Effekte gesorgt. Verstärkt werden diese von
einem Oktett, gekleidet in Kostümen à la Karneval in Venedig,
das mit Lampions in die Manege einzieht. Diese Objekte können
nicht nur leuchten, sondern auch Fontänen Richtung Wasserkugel
senden. Der Applaus für diesen Auftritt ist riesig.
 
Compania Havana, Virtuoso 5
Doch noch
ist die Pause nicht erreicht. Vielmehr wird die Manege nochmals
umgebaut und in dieser Zeit das große Orchester vorgestellt,
begleitet von energiegeladenem Gesang. In einem Zwischenspiel
mit einer großen Torte gehen Francesco Fratellini und Arthur
Huard Vereano auf den „Geburtstag“ des Unternehmens ein. Nun ist
alles vorbereitet für die doppelte Fangstuhlnummer der
fünfköpfigen „Compania Havana“. Zwischen den zwei Fängern und
über einem Trampolin wagen die Fliegerin und die beiden Flieger
abwechslungsreiche Sprünge und Salti bis zur Passage. Eine
Tänzerin im roten Flamencokleid gibt dem Auftritt spanisches
Flair. In der Pause wird ein weiteres großes Requisit errichtet,
das dem doppelten Fangstuhl gar nicht unähnlich sieht. Es
besteht aus zwei festen Leitern links und rechts und einer
Schaukel dazwischen. Mit diesen lässt sich von der einen Leiter
zur anderen schwingen, aber natürlich auf besondere Weise. So
steht die Oberfrau dabei auf nur einem Bein oder im Handstand
auf dem Kopf des Untermannes. Auch im Drei-Personen-Hoch sowie
am oberen Ende einer Stirnperche gelingt dieses Kunststück.
Jeweils zwei Partnerinnen oder Partner fungieren bei den
einzelnen Tricks als „lebende Gewichte“ unterhalb der
schwingenden Plattform. Dargeboten wird dies alles von der
Formation „Virtuoso 5“ von Vladimir Plotnikov. Die Artistinnen
mit Jonglage auf der Kugel und im Cyrrad vom Beginn des
Programms gehören diesem Quintett an.
  
Sarah
Florees, Alexis und Eris Gruss, Duo Lyd
Mit einer
Variante des „verbotenen Musizierens“ – hier mit einem Radio,
das letztendlich in der Mülltonne landet – leiten Francesco
Fratellini und Arthur Huard Vereano als seriöser Part zur
Luftnetznummer von Sarah Florees über. Die Ehefrau von Francesco
Fratellini zeigt am und im Netz verschiedene kraftvolle Figuren,
Überschläge und einen gewagten Abwickler. Für einen der großen
Höhepunkte des Programms sorgen Alexis und Eros Gruss mit einer
Neuauflage ihrer ikarischen Spiele. Die Choreographie ist zu
Michael-Jackson-Songs gestaltet, die Geschwister erscheinen
zunächst tanzend in Kostümen in „Black or White“. Dann geht es
schnell richtig zur Sache, wenn Eros seine Schwester mit den
Füßen durch die Luft wirbelt, sie stehend auf seinem
ausgestreckten, linken Fuß landet, einen rasanten Doppelsalto
schlägt oder mit einer Serie von 17 federleichten
Rückwärts-Überschlägen begeistert. Dank ihrer
jugendlich-sympathischen Art fliegen den beiden die Herzen
ohnehin zu. Nun folgen wieder ruhigere Momente. Darien Fraga
Leyva und seine Partnerin Liss Mery Delgado Sanchez, besser
bekannt als Duo Lyd, sind seit einigen Jahren Hausartisten bei
Arlette Gruss, präsentieren immer wieder neue Disziplinen. Nun
haben sie sich für eine Nummer am Mast entschieden. Dieser ist
wie ein Garderobenständer gestaltet, der zunächst am Boden
steht, dann zum Flying Pole wird. Nach einer Ansage über die
Bedeutung der Liebe zelebrieren sie an diesem Requisit ihre
Lovestory – er in schwarzer Hose und Netzhemd, sie in einem
aufregenden roten Spitzenkleid. „I’ll never love again“
interpretiert Sängerin Eva Poirieux dazu. Kräftezehrende Figuren
werden geboten, unter anderem wenn Darien sich mit einer Hand
und den Beinen am Requisit hält, während er mit der anderen Hand
kurze Strapaten hält, an deren Ende sich Liss in einem Wirbel
dreht.
  
Francesco Fratellini, Pierre Marchand, Pinillos Globe of Speed
In seiner
nächsten Reprise kümmert sich Francesco Fratellini um ein „Baby“
in einem Kinderwagen, das unterhalten, beruhigt und mit der
Flasche gefüttert werden muss. Als „Lohn der Mühe“ wird er von
einem „Bäuerchen“ frontal getroffen. Nach drei Saisons zum
Cirque Arlette Gruss zurückgekehrt ist Diabolo-Artist Pierre
Marchand. Wie gewohnt steht bei ihm mehr der äußerst offensive
Verkauf als ein besonders raffiniertes Repertoire im Mittelpunkt
seines Tuns. Zudem hat er an Tag mit der Schwerkraft zu kämpfen
– mit Gesten macht er dafür die Lichtregie verantwortlich. Nun
denn. Neu für uns ist, wie er sich mit LED-beleuchteten Diabolos
effektvoll unter die abgedunkelte Kuppel ziehen lässt und mit
stiebenden Funken überrascht. Wie es eines Jubiläumsprogramm
würdig ist, trumpft der Cirque Arlette Gruss am Ende noch mit
einer ganz großen Attraktion auf, der Motorradkugel der Truppe
von José Pinillio – seit Jahren die führenden Vertreter dieses
Fachs. Erst drei, dann fünf Fahrer kreisen durch das
Stahlgitterkonstrukt. Dann die Sensation: Erstmals wird ein
„Splitting Globe“, eine sich öffnende Kugel, präsentiert,
während darin zehn Biker rotieren. Vier von ihnen in der
unteren, sechs in der oberen Hälfte. Mit einem Hauch
„Mentalmagie“ leiten Francesco Fratellini und Arthur Huard
Verenao zum Finale über, welches vom Ensemble in einheitlichen,
weiß-braunen Kostümen ausführlich zelebriert wird. Standing
Ovations sind der Lohn. In einem stimmungsvollen Epilog spielt
Francesco Fratellini auf einem Hubpodium seine Ziehharmonika,
umringt von dem auf der Piste sitzenden Ensemble. |