Trotzdem
ist die Show wieder mehr dem klassischen Circus zugewandt als
dies zuletzt der Fall war. Die erste Hälfte wird auf Holzboden
und Sägemehl gespielt, die zweite auf einer leicht erhöhten
LED-Bühne. Das recht sperrige Herein- und Herausfahren eines
großen Podiums während der laufenden Vorstellung bleibt der
Technikcrew (und dem Publikum) erspart. Die Kinetic Lights
hängen während der gesamten Show unter der Kuppel und werden für
ihre Einsätze herabgelassen sowie in Bewegung versetzt.

Szene
aus dem Opening mit Maycol Knie junior
So etwa
gleich beim Opening. Maycol Knie junior betritt im Outfit eines
„Greatest Showman“ die Manege und begibt sich zwischen diese
beleuchteten Kugeln, die an Fäden hängen. Daraufhin schickt er
sie wieder nach oben, wo sie – wie von magischer Hand gesteuert
– verschiedene, dynamische Ornamente, ja Kunstwerke bilden. Dazu
wabert am Boden Kunstnebel, Lasereffekte unterstützen die
fantastische Atmosphäre. Vom Artisteneingang nähern sich die
Bingo-Artisten und -Tänzer. In einem wahren Rausch in Gold und
Weiß zeigen sie ihre energiegeladenen Moves sowie akrobatischen
Fähigkeiten. Ein weibliches Quartett fliegt an Bungeeseilen
durch die Luft und lenkt so die Blicke wieder auf die Kinetic
Lights. Myacol junior erhält Gesellschaft von der Sängerin und
Clown Chistirrin. Priscilla Errani zeigt einen kurzen Ausschnitt
aus ihrer Hula-Hoop-Nummer. Die Jungs von der Urban Crew
komplettieren das Bild. Letztendlich erleben wir eine Art
Charivari, in dem sich ein guter Teil des Ensembles vorstellt.
Dies in aufeinander abgestimmten, traumhaften Kostümen. Ein
Auftakt, der einen komplett aus dem Alltag reißt und
unweigerlich in die Welt des Circus entführt. Die viel zitierten
Glücksgefühle sind von Anfang an da. Beeindruckend auch die
Anzahl der Mitwirkenden. In Summe spricht das Programmheft von
63 Artistinnen und Artisten aus 13 Ländern.
  
Hng
Thean Leong, Mike Müller
Einer
davon ist Hng Thean Leong, dem sodann das Scheinwerferlicht –
und damit die Aufmerksamkeit des Publikums – ganz alleine
gehört. Mit seinen außergewöhnlichen Diabolo-Jonglagen gewann er
Gold beim Salieri Circus Award, bei Young Stage und beim Cirque
de Demain. Zumeist arbeitet der Meisterartist aus Malaysia mit
zwei Sets aus Handstäben mit Schnur dazwischen gleichzeitig.
Zunächst schickt er damit eine Doppelspule auf nie gesehene
Flugbahnen. Diese nimmt ihren Weg durch die Luft, um auf
wunderbare Weise wieder zu Hng Thean Leong zurückzufinden. Das
Ganze ungeheuer dynamisch und schwer zu beschreiben. Man muss es
einfach mit eigenen Augen sehen. Am Ende hält er drei Diabolos
gleichzeitig in der Luft. Entschleunigung bringt der erste
Auftritt von Mike Müller. Wir kennen den Komiker noch aus dem
Jubiläumsjahr 2019, wo er gemeinsam mit Viktor Giacobbo zu
erleben war. Letzterer ist nur in ausgewählten Städten dabei,
Müller in allen Abendshows. Darin hat er insgesamt vier
Auftritte. Zwei davon als Landwirt. In dieser Rolle spricht er
über Hof, Tiere und Job. Einem kleinen Hund hat er Kunststücke
beigebracht, die dieser gegen Belohnung in Form von Würstchen
gerne zeigt. Thematisch ist auch ein kleiner Ausflug in die
Politik dabei. Vor der Pause animiert Mike Müller im Anzug das
Publikum zum Mitmachen. Am meisten überzeugen uns aber die
Szenen zu Beginn von Teil zwei. Als farbenfroh gekleidete Dame
mit Luftballon in der Hand betritt er das Chapiteau und wähnt
sich in einer Überraschungsparty zu Ehren seines Geburtstags.
Hinreißend gespielt und mit einem Feuerwerk an Gags, die man
auch ohne Kenntnis des Schweizer Tagesgeschehens versteht. Da
werden Familiengeschichten aufgetischt und alte Bekannte unter
den Zuschauern herzlich begrüßt. Wunderbarer Humor sorgt für
befreiendes Lachen. Mithilfe eines Blumenstraußes komplimentiert
Ivan Frédéric Knie die Dame nach draußen.
  
Vincent
Vignaud, Chistirrin, Duo Acero
1978
verzauberten Lee Pee Ville & the Magic Company die Gäste des
Circus Knie. Nun sorgt Vincent Vignaud mit seinen Girls für das
große Staunen. Quasi aus dem Nichts erscheint der Franzose auf
einem Motorrad. Wir sehen einen rundum verglasten Käfig. Eben
noch war er leer, Vorhang zu, Vorhang auf – und schon stehen
vier Frauen darin. Das Verschwinden aus einer unter die Kuppel
gezogenen Kiste hat man schon zig mal gesehen. Aber nicht so.
Nicht so spektakulär, nicht so aufwendig, nicht so originell.
Auch hier gilt: man muss es selbst erleben. Vincent Vignauds
Großillusionen gehören zum Besten, was man derzeit in diesem
Genre in einer Manege sehen kann. Zu den genialen Tricks kommen
wunderschöne Kostüme und ein professionelles Auftreten, das bei
aller dramatischen Inszenierung ungeheuer sympathisch wirkt. Die
Sympathien des Publikums erobert natürlich auch Chistirrin im
Sturm. Nach bislang kürzeren Gastspielen bei Knie darf der Clown
aus Mexiko 2025 die gesamte Tournee (bis auf Luzern) für Lachen
sorgen. In den Abendvorstellungen bleibt es bei einem größeren
Auftritt. Die Saxofonistin ist seine strenge Gegenspielerin, bis
die beiden am Ende ein Duo auf diesem Instrument wagen. Doch
auch die Titanic-Interpretation nimmt ihre ganz eigene Wendung.
Dazwischen gibt es Jonglage, Slapstick und Chistirrin als
Muskelkerl. Wunderbar kindlich-extrovertiert gespielt.
Nachmittags, wenn Mike Müller nicht im Programm ist, bekommt
Chistirrin mehr Raum. Aus Brasilien und Kolumbien stammt das Duo
Acero. Giselle Souza und Edison Acero sehen blendend aus und
verstehen es, ihre Kunst äußerst gewinnend zu verkaufen. Dafür
benötigen sie einen Chinesischen Mast, den sie mit großer
Leichtigkeit erklimmen und noch entspannter wieder
hinunterkommen. Kern ihrer Kür sind aber die faszinierenden
Haltefiguren. Edison hält sich kopfüber mit den Oberschenkeln an
der Stange fest, während Giselle auf seinen Armen einen
Handstand vollführt. Einen Handstand zeigt sie ebenfalls auf dem
Oberkörper ihres Partners, während sich dieser im rechten Winkel
vom Pole abdrückt. Für einen Trick übernimmt auch Giselle den
tragenden Part. Starke Akrobatik wird mit südamerikanischer
Lebensfreude präsentiert.
 
Truppe
Skokov, Duo Disar
In einem
Aufgang des Gradins lässt es Vincent Vignaud schneien und
ermöglicht einer Partnerin in Windeseile einen Kostümwechsel.
Eine Treppe weiter will Chistirrin es ihm gleich tun. Mithilfe
eines Zuschauers entsteht hier eine ganz eigene Magie. In der
Manege wurde derweil eine doppelte Russische Schaukel aufgebaut.
Daran zeigen sieben Damen in langen blauen Kleidern traumhafte
Flüge. Ihre in eine fantastische Choreografie eingebundenen
Sprünge landen sie auf einer Matte oder auf der
gegenüberliegenden Schaukel. 2018 war die Truppe Skokov
erstmalig beim Schweizer National-Circus. Schön, diese
einzigartige Darbietung hier noch einmal erleben zu können.
Natürlich ist auch wieder der Sprung „über Kreuz“ zu sehen. Ab
dem Gastspiel in Solothurn wird eine andere Formation aus dem
gleichen Genre in der Show sein. Während des folgenden Umbaus
ziehen Menschen in Kutten und mit großen Kerzen durch das
Chapiteau. Es sind unwahrscheinlich viele Personen, sodass sich
ein imposantes Bild ergibt. Wirklich extrem beeindruckend. Sie
treffen sich auf der Spielfläche, bilden einen Kreis, stellen
die Kerzen auf der Piste ab und verabschieden sich durch den
Artisteneingang. Welch ein Intro! Es ist das Intro für das Duo
Disar, welches in seiner Luftnummer an den Strapaten Zahn- und
Zopfhang in bislang nicht gekannter Weise kombiniert. Gleich in
der ersten Sequenz hält er sie mit den Zähnen fest, während sie
selbst mit dem Gebiss an einem kleinen Verbindungsstück hängt.
Beim Schlusstrick übernimmt sie dann die obere Position. Im
Zopfhang schwebt sie unter der Kuppel, an einer Schlaufe an
einem ihrer Füße hält sich ihr Partner mit den Zähnen fest. 2024
gab es für das Paar aus Usbekistan einen Silbernen Clown in
Monte Carlo. Abgerundet wird diese dramatische Liebesgeschichte
durch ein traumhaftes Licht und das von der Sängerin intonierte
Lied „It's all coming back to me now“.
  
Chanel
Marie Knie, Maycol Knie junior, Ivan Frédéric Knie
Chistirrin
treibt seine Späße im Zuschauerraum und schon ist der Holzboden
in der Manege verschwunden. Das nun freigegebene Sägemehl wird
für das große Tableau der achten Generation der Familie Knie
benötigt. Es beginnt Chanel Marie. Auf Schimmel Laureus reitet
die junge Dame eine Hohe Schule. Das tut sie für ihre 14 Jahre
beeindruckend gekonnt, stilvoll und souverän. Die
verschiedensten Schrittfolgen präsentiert sie in einem
harmonischen Ablauf, als wäre es ganz einfach. Natürlich steckt
dahinter ein aufwendiges Training. Die Kinetic Lights werden
eingesetzt und sorgen für wunderschöne Effekte. Auf zwei Friesen
stehend kommt Ivan Frédéric herein, nach gemeinsamen Runden
verlässt Chanel Marie die Szenerie und Ivan beginnt seine
Stehendreiterei. Zunächst lässt er einen dritten Friesen unter
sich hindurchlaufen, dann als Überraschung seinen Bruder Maycol
junior, der auf einem Pony reitet. Der jüngste Sohn von
Géraldine Knie und Maycol Errani erobert so die Herzen der
Zuschauer im Handumdrehen. Es folgt die eigentliche Ungarische
Post, bei der Ivan am Ende 15 Vorauspferde an langen Bändern
hält, die er zuvor einzeln aufgenommen hat. In der Mitte
dirigiert Wioris Errani das rasante Geschehen. Frenetischer
Applaus, stehende Ovationen, als sich das Geschwistertrio
anschließend gemeinsam verabschiedet. Nach einer Einlage von
Mike Müller geht es in de Pause.
  
Opening
Teil 2, Zhejiang Folk Art & Acrobatics General Troupe, Urban
Crew
Danach ist
die LED-Bühne aufgebaut. Sie bedeckt einen Großteil der Manege
und ist etwas höher als die Piste. Auf ihrer Oberfläche erleben
wir die Ausspielung animierter Grafiken. Es entstehen wahre
Kunstwerke, die als Untergrund für die jeweiligen Auftritte
dienen. Eindrucksvoll werden sie gleich beim Opening des zweiten
Teils eingesetzt. Es ist ein Traum in Weiß, bei dem die
Bingo-Formation Partnerakrobatik, Luftartistik und Tanz in einer
Choreografie vereint. Viele Details werden liebevoll integriert.
Danach lässt Vincent Vignaud eine Frau schweben. Es scheint
tatsächlich so, dass die Dame ohne jede Hilfe waagerecht im Raum
liegt. Ein Feuerreifen, mit dem der Magier ihren Körper
umschließt, verstärkt den Eindruck. Drei Paare aus dem
Bingo-Ensemble in historischen Kostümen mit Schirmen bilden den
ungemein stilvollen Rahmen für das Duo der Zhejiang Folk Art &
Acrobatics General Troupe. Die Hauptakteure verbinden
Hand-auf-Handakrobatik mit Antipodenspielen. Sprich, er
balanciert sie in akrobatischen Posen, während sie mit den Füßen
historische Schirme jongliert. Gleich fünf davon hält sie am
Ende gleichzeitig in Bewegung. Es sind extrem anspruchsvolle
Tricks, die das Auge des Publikums verwöhnen. Die LED-Bühne
rundet den Ausflug nach China ab. Noch zweimal geht es vor dem
Finale nach Asien. Direkt im Anschluss erleben wir die Urban
Crew von den Philippinen. Mehr Lebensfreude, mehr
Ausgelassenheit geht kaum. Die Jungs haben einen umwerfenden
Charme und eine nicht enden wollende Energie. Sie verbinden
Tanz, Akrobatik und Parkour. Ständig begeistern sie mit neuen
Aktionen, in die sie auch Reifen einbeziehen. Ihre Moves sind
elektrisierend, ihre Artistik richtig stark. Auch hier wieder
ein neuartiges Erlebnis für eine Circusshow. Eines, das
wahnsinnig viel Spaß macht. Zwischendurch erleben wir eine kurze
Lasershow.
 
Svyatoslav Rasshivkin, UniCircle Flow
Der Earth
Song von Michael Jackson bildet den Soundtrack für die Kür an
den Strapaten von Svyatoslav Rasshivkin. Wenngleich sich diese
natürlich zum größten Teil unter der Kuppel abspielt, nimmt der
jugendliche Artist ein Bad in den Kinetic Lights. Immer wieder
taucht er in dieses „schwebende Lichtermeer“ ab, welches sich in
immer neuen Gebilden präsentiert. Alleine schon dafür zu sorgen,
dass sich die Seile der Lichter und der Strapaten nicht
verheddern, muss eine anspruchsvolle Aufgabe sein. Natürlich
findet sie im Verborgenen statt. Das Publikum darf sich an
starker Akrobatik mit wundervollen Effekten erfreuen. Ganz cool
hält sich Svyatoslav Rasshivkin im Spagat in der Luft, seine
Füße in Schlaufen am Ende der Bänder, die Hände frei in der
Luft. Auch energiegeladene Umschwünge absolviert er, neben
vielen weiteren Tricks, mit scheinbarer Leichtigkeit. Mit
traumhaften Bildern verwöhnt uns auch die Schlussnummer. Unter
dem Titel UniCircle Flow kreisen acht Japanerinnen auf Einrädern
über die Bühne. Sie tun dies in roten Gewändern mit langen
Röcken. Schon dadurch wird eine wunderschöne Wirkung erzielt.
Ganz so, als würden sich Kreisel drehen. In immer wieder anderen
Formationen kreiert das Oktett ständig neue lebende Kunstwerke
voller Dynamik. Ständig sind die Artistinnen in Bewegung, immer
nehmen sie auf ihren Rädern gemeinsam neue Wege. Alles ist
minutiös abgestimmt, läuft wie am Schnürchen ab. Auch hier wird
die LED-Bühne wieder nutzenstiftend eingesetzt. Zum Finale
tragen die Bingo-Mitglieder und die philippinischen Tänzern neue
hinreißende Kostüme im Grundton Weiß. Die Artisten werden auf
einer dreistöckigen Bühne hereingefahren. Noch einmal geben alle
alles, es ist eine einzige Party. Es wird getanzt, es gibt
Zugaben, das Publikum spendiert minutenlange Standing Ovations.
Die Abschiedsworte spricht, begleitet von ihren Kindern,
Géraldine Knie. |