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Paris, 29. bis 31.
Januar 2010:
Wenn das, was
beim Cirque de Demain in Paris als Circus von Morgen gefeiert wird,
wirklich die Zukunft des Circus ist, dann werden wir Freunde des
klassischen Circus wohl in Bälde noch wehmütiger in die
Vergangenheit blicken. Denn dann würde der Noveau Cirque, der
Theatercircus französisch, kanadischer Prägung, die Oberhand
gewinnen. Doch es gibt Hoffnung: Denn auch bei der aktuellen, 31.
Auflage des Nachwuchsfestivals, die erneut von Calixte de Nigremont
moderiert wurde, gehörten gerade die traditionell
gearbeiteten Nummern zu den Darbietung, die beim Publikum die stärksten
Reaktionen hervorriefen. |
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Compania Havana
Nehmen wir zum
Beispiel das achtköpfige Flugtrapez aus Kuba: Zu temperamentvoller
Livemusik arbeitend rockten die karibischen Artisten das Zelt. Dabei
war ihr Trumpf nicht die Leistungsstärke, sondern Ausstrahlung,
Enthusiasmus und sichtliche Freude an ihrem Tun. Fakt ist aber auch,
dass sich der Cirque de Demain mittlerweile zu einem Treffen der
alternativen Circusszene entwickelt hat: Junge Menschen mit
Dreadlocks, tief hängenden Hosen und Schlabberpullis bestimmen das
Bild. Nicht, dass mich jemand falsch versteht: Ich habe überhaupt
nichts gegen diese Szene. Im Gegenteil: ich finde es sogar klasse,
dass der Cirque Noveau für viele junge Leute zu einer Art
Lebenseinstellung geworden ist. Meinen Geschmack, und den vieler
anderer Circusfreunde, trifft ihre „verkopfte Artistik“ allerdings
nicht immer. |
Dennoch: Das
Festival Modial du Cirque de Demain hat auch in diesem Jahr
großen Spaß gemacht. Dafür gibt es viele Gründe. Der wichtigste:
In Paris treten Jahr für Jahr eine große Anzahl von Darbietungen
an, die selbst der weitgereiste Circusfreund noch nie gesehen
hat. Für den Cirque de demain sprechen aber auch das
begeisterungsfähige Publikum, die mitreißende Artistenparade vor
jeder Show und natürlich die sensationelle Kapelle, die
insbesondere im Finale zur großen Form aufläuft, wenn sie die
großartigste Finalemusik überhaupt intoniert. |
Truppe aus Wuqiao und
Fuyong, Darkan
Kommen wir nun zur
Preisvergabe: Die hochkarätig besetzte Jury (u.a. Madona Bouglione,
Valerie Fratellini, Jocelyne Gasser, Maxim Nikouline), hat zwei Mal
Gold, drei Mal Silber und fünf Mal Bronze vergeben. Die getroffenen
Entscheidungen gehen dabei insgesamt – von wenigen Ausnahmen
abgesehen - in Ordnung. Außer Zweifel stand zum Beispiel, dass es
für die Kombination aus Diabolo- und Ikarischen Spielen einer
neunköpfigen chinesischen Truppe nur Gold geben konnte. Zu
sensationell waren ihre Tricks, die in eine strenge aber doch
mitreißende Choreographie eingebettet waren: Die Mädchen der Truppen
jonglierten mit ihren Diabolos während sie von den Jungs der Truppe
durch die Luft gewirbelt wurden. Konsens herrschte offenbar auch bei
der Goldmedaille für den kasachischen Strapaten-Artist Darkan.
Meinen Geschmack traf die von Alexander Grimailo choreographierte
und mit zahlreichen Höchstschwierigkeiten (Spagat mit vor der Brust
verschränkten Armen) gespickte Darbietung dagegen nicht. Der Verkauf
in komplett schwarzem Kostüm, zu südamerikanischen Gitarrenklängen
war mir schlicht zu reduziert. Objektiv betrachtet geht Gold aber
wohl doch in Ordnung. |
Nicolas Besnard
und Ludivine Furnon |
Eine objektive Jury
hätte meines Erachtens aber auch den beiden, in punkto Trickstärke
und Choreographie ebenbürtigen Handstand-Duos „Maintenant“ (Nicolas
Besnard und Ludivine Furnon) und „You and Me“ (Igor Gavva und Iulia
Palii) den gleichen Preis wie Darkan zuweisen müssen. Letztlich
erhielten beide Duos „nur“ eine Silbermedaille. Unverständlich wohl
auch für das Publikum. Denn sowohl „Maintenant“, die ihre Darbeitung
erotisch knisternd präsentierten als auch „You and Me“, deren
sinnliche Nummer mit einer Fülle neuer, kreativer Tricks gespickt
war, lagen am Applaus gemessen weit vorne. Nie gesehen zum Beispiel
der Trick, in dem Igor auf dem Becken seiner in einer Brücke
stehenden Partnerin einen Handstand drückt und diese dann sogar die
Hände vom Boden nimmt. |
Igor Gavva und
Iulia Palii |
Eike von Stuckenbrok, Lunga, Yann
und Greg
Die
dritte Silbermedaille ging überraschenderweise an das Diabolo-Duo
Eric Longequel & Antonin Hartz, das vor allem mit kreativen Tricks
auf einem zwei Meter hohen Gestell überzeugt.
Nicht in Gänze vorhersehbar war dann auch die Vergabe der
Bronzemedaille. Größte Überraschung hierbei: Eike von Stuckenbrok.
Der junge Artist aus Berlin drückte seine Handstände
originellerweise auf einer Schaufensterpuppe, zeigte dabei aber auch
leichte Unsicherheiten. Nicht unbedingt für Bronze vorgesehen hatte
man auch die südafrikanische Kontorsionistin Lunga, die mit ihrer
sympathischen Ausstrahlung aber offenbar nicht nur das Publikum für
sich eingenommen hat. Etwas überraschend auch die Berücksichtigung
von Maxime Pythoud, der auf dem Roue Cyr, eine Art „Rhönrad“ aus nur
einem Reifen, zwar mit anspruchsvollen, einarmigen Tricks
überzeugte, aber sonst keinen bleibenden Eindruck hinterließ.
Selbigen hinterließen Yann und Greg durchaus – wenn auch nicht
unbedingt einen positiven. Hatten die beiden
Bronzemedaillen-Gewinner ihre Hand-auf-Hand-Tricks doch in eine
höchst „verkopfte“ Geschichte über einen Schriftsteller mit
Schreibblockade und seinen Schutzengel gepackt. Etwas mehr als
Bronze hätte man dagegen dem ebenfalls in Berlin trainierenden Remi
Martin am chinesischen Mast gegönnt: Seine Arbeit strotzte nicht nur
vor Kraft und geschmeidigen Bewegungsabläufen, sondern wusste auch
mit ihrer Inszenierung – inklusive Kunstschnee – zu gefallen. |
Duo Vector,
Leilani und Sancho, Polinde
Lediglich mit
einem Spezialpreis der Jury, der immerhin mit einem Auftritt in
der Preisträger-Gala verbunden war, wurden Johan Wellton
(Jongleur mit Entertainerqualitäten), Melaku Lissanu
(Boden-Jongleur mit Exotenbonus) und das Duo Polinde (Traumhaft
sichere Flüge am Fangstuhl) geehrt. Mindestens einen Auftritt in
der Preisträgergala hätte man sich zudem für Leilani und Sancho
gewünscht, die die simple Geschichte „Kontorsionistin liebt
Breakdancer“ wunderbar gefühlvoll darboten und lediglich einen
unbedeutenden Ehrenpreis erhielten. Einen Preis verdient gehabt,
ich hatte auf Silber getippt, hätte ohne Frage auch das
polnische Hand-auf-Hand-Duo Vector. Offenbar waren die
kraftvollen, ganz im Stil der Alexis Brothers gearbeiteten
Tricks der Jury nicht originell genug.
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Truppe aus Deyang |
Immerhin den Innovationspreis des
Cirque du Soleil – und das völlig zu Recht – erhielten Les
Philebulistes. In einer martialischen Konstruktion aus zwei zirka
fünf Meter hohen Rädern, an deren Verbindungsachse ein Fangstuhl
fixiert war, rollten die beiden Franzosen über die Bühne und zeigten
einige Voltigen. Gleich zwei Ehrenpreise (Telemondis, Cirque Eloize)
erhielt Clown Mick Holsbeke, der das Publikum vor allem mit seinem
Kugellauf zum Lachen brachte. Gänzlich ohne Preis gingen dagegen der
Footbag-Jongleur Jorden Moir, Vanessa Pahud am Schwungtrapez,
Handstandartist Florian Zumkehr, und Francois Gravel, der mit seinem
Trapez tanzte, sowie das das Strapatenduo
Vanessa Outreville
und Yoann Benhamou
nach Hause. Etwas überraschend aber doch einwandfrei war auch die
Entscheidung der Jury der zweiten chinesischen Truppe keinen Preis
zu geben. In ihren Tricks – zwei an der Zahl - kombinierte sie auf
durchaus sensationelle Weise die Genres „Rola Rola“ und „Pagoda of
Bowls“. Beim Schlusstrick etwa kapultierte sich ein Artist auf der
Rola Rola mittels des verlängerten Rola-Bretts Becher und einen
Löffel auf den Kopf. Wohlgemerkt während er auf einem weiteren
Artisten stand, der ebenfalls auf einer Rola balancierte. Die Nummer
krankte allerdings daran, dass ihre Tricks eher an völlig
durchgeknallte Stunts – wie man sie aus „Wetten, dass…?“ kennt – als
an eine artistische Darbietung erinnerten. |
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Text und Fotos: Sven Rindfleisch
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