Für Salti und
spektakuläre Pirouetten. Oftmals von drei
Akteuren synchron gedreht. Es ist ein Feuerwerk der eleganten
Sprünge, eine Präzisions-Maschinerie, eine beeindruckend
dichte Abfolge von Tricks. Sie wird angetrieben von
mitreißender Musik. Als sich die Akteure zwischendurch zum
Kompliment versammeln, reißt es das Publikum von den Sitzen.
Tausende stehen auf wie ein Mann. Schreien. Toben.
Scandinavian
Boards
Doch die Nummer
ist nicht zu Ende, es folgen weitere Höhepunkte der Flugkunst.
Dann nochmal komplette Standing Ovations. Und ein Preis von
der Jury, den es in 39 Ausgaben dieses hoch renommierten
Festivals noch nicht gegeben hat: einen Grand Prix, über Gold
stehend. Und fast selbstredend den Publikumspreis dazu. Die
Artisten aus Schweden, Finnland, Deutschland, den
Niederlanden und der Schweiz haben Festivalgeschichte
geschrieben. Ausgebildet wurden sie an der Circusschule DOCH
in Stockholm. Dabei bewegt sich das Programm des 40.
„Weltfestival des Circus von Morgen“ durchweg auf einem
erfreulich hohen Niveau. Während zur gleichen Zeit der
traditionelle Circus in Monte Carlo die Stars der „New
Generation“ prämiert, hat man sich hier konsequent dem Cirque
Nouevau verschrieben. Dementsprechend gehören Roncalli, Soleil
und GOP zu den Partnern und schicken ihre Scouts auf
Einkaufstour. Jedoch könnten auch Vertreter traditionellerer
Unternehmen durchaus fündig werden. Die 22 teilnehmenden
Nummern in zwei verschiedenen Auswahlprogrammen böten dazu
reichlich Gelegenheit.
Arthur Morel van
Hyfte, Troupe Acrobatique de Dalian, Alexey Ishmaev und Pavel
Mayer
Und so wäre
beispielsweise die Kunst der Gold-Preisträger aus China eine
Zierde für jedes klassische Programm. Die sechs Chinesen der Troupe Acrobatique de Dalian sind alle cool in schwarz-weiß
gekleidet, in der Variationsbreite von Sportswear bis Hose,
Hemd und Weste. Ihre Jonglage mit Meteoren – lange Seile mit
Schalen an beiden Enden – kombinieren sie mit zahlreichen
Salti. Von den Händen der Partner geht es für einen der
Akteure mit Salti zunächst auf die Schultern seiner Kollegen.
Und von dort in eine Position im Drei-Mann-Hoch. Auch für sie
wird stehend applaudiert. Viel typischer „Cirque Nouveau“ ist
die zweite mit Gold prämierte Darbietung, die von Arthur Morel
van Hyfte am Tanztrapez. Hier ist das Requisit so aufgehängt,
dass es sich frei drehen kann. Daran zelebriert der Franzose,
passend zur Bezeichnung des Genres, tatsächlich einen
schwerelosen Tanz. Er vereint große Kraft mit fließender
Beweglichkeit, introvertiert zu Klaviermusik und nur in eine
schwarze Spitzen-Unterhose gekleidet. Offensichtlich ist es
gerade en vogue, sich bei Luftnummern am Ende nach oben in die
Dunkelheit zu verabschieden. Wir erleben es im Laufe des
Festivals bei van Hyfte und weiteren Künstlern. Gold hätten
wir darüber hinaus auch Alexey Ishmaev und Pavel Mayer aus
Russland gegönnt. Ihre Strapaten-Nummer erzählt eine
Geschichte. Das tun andere im Festivalprogramm auch, doch hier
wird sie nicht in einem schier endlosen Prolog zur
eigentlichen Nummer ausgewalzt und ist klar nachzuvollziehen.
Es geht um eine Begegnung von „Bettler und Businessmann“, die
um einen Koffer voller Geld kämpfen. Am Ende hat der Arme die
Jacke und den Koffer des Reichen erobert, nur um die
bedeutungslosen Geldscheine in die Tiefe flattern zu lassen.
Dazu gibt es viele schwierige Tricks mit so noch nicht
gesehenen Figuren. Die klassische Tanzausbildung der beiden
ist klar erkennbar; die eindringliche Musik ist mit Zitaten
unter anderem von Martin Luther King durchwirkt. Die
Silbermedaille und Standing Ovations sind der Lohn.
Cie Soralino,
Truppe Efimov, Laurence Tremblay-Vu
Über Silber
freuen darf sich auch Laurence Tremblay-Vu (Kanada), der dem
Hochseil neue Seiten abgewinnt. Beispielsweise wenn er
kopfüber und in den Kniekehlen an der Balancierstange hängt,
die er über das Seil gelegt hat. Oder wenn er im Schneidersitz
das Gleichgewicht hält. Kommen wir zu den vier
Bronze-Preisträgern. Mitten in die Herzen der Zuschauer
schafft es das männliche Komiker-Duo Cie Soralino
(Frankreich/Italien), die mit Pappkisten jonglieren und sie auf dem Kopf stapeln. Wie bei einer Partie
„Jenga“ türmen sie schließlich zahllose Kisten aufeinander,
bis unters Dach des gewaltigen Bogenmast-Chapiteaus. Eine
heitere Note hat auch die Nummer der russischen Truppe Efimov
mit Handvoltigen sowie mit Sprüngen und Salti auf Fasttrack
und Trampolin. Hier erleben wir eine fröhliche
Hochzeitsgesellschaft mit Brautpaar und sechs männlichen
„Brautjungfern“ in rosafarbenen Anzügen.
Mizuki Shinagawa,
Christopher und Milena, Diego Salles
Die Japanerin
Mizuki Shinagawa hat eine besondere Form der Tücherakrobatik
kreiert. Sie ist durch ein Seil mit ihrer Partnerin verbunden,
die immer wieder einen enorm hohen Gittermast hinauf- und
hinunterklettert. So ergibt sich ein menschliches „Pendel“,
wird Shinagawa in die Höhe gezogen oder saust zurück gen
Boden. Auch der vierte Bronze-Preis geht an einen
Luftakrobaten, den Brasilianer Diego Salles. Er erscheint auf
der Bühne mit einem Stoffbündel über dem Kopf, das an einem
Seil hängt, und lässt sich daran unter die Kuppel ziehen, ohne
Gebrauch von Armen und Beine. Wie es funktioniert, erkennen
wir nicht. Zurück am Boden geriert er sich als Model auf dem
Catwalk. Erst spät wird klar, welchem Genre er sich eigentlich
widmet: wenn das Bündel zu langen Tüchern ausgerollt wird, an
denen er dynamische Bewegungen zeigt. Insgesamt hat die
zehnköpfige Jury unter der Präsidentschaft von Anny Duperey
gute Entscheidungen getroffen. Und freilich bietet das
Festivalprogramm auch über die mit „Grand Prix“ und Edelmetall
ausgezeichneten Darbietungen hinaus viele großartige Momente.
Zum Beispiel wenn Christopher und Milena aus Deutschland an
zwei Trapezen arbeiten, die im 90-Grad-Winkel zueinander
hängen. Mehrfach wechseln sie von einem Requisit zum anderen,
um ihre Voltigen bis hin zum Salto zu präsentieren.
Winston,
Guillaume Paquin und Nicole Faubert, Ellie Rossi
Zu live
gespielter, dynamischer Musik präsentiert die US-Amerikanerin
Ellie Rossi mit Ver- und Entwicklungen sowie Abfallern eine
sehr starke Arbeit am Vertikalseil, die fast schon als
klassisch durchgehen könnte – wäre da nicht die Kostümierung
in Hotpants und T-Shirt, passend zur „Umkleide“-Rahmenhandlung.
Winston aus Venezuela überrascht mit einer technisch
hervorragenden Kartenmanipulation. Sein Muskelshirt bietet
dabei kaum Möglichkeiten, die Spielkarten zu verbergen.
Zahllose von ihnen zaubert er herbei und versucht verzweifelt,
diese loszuwerden. So wird die Geschichte vom Kampf gegen eine
Zigarettensucht bebildert. Beeindruckend, wie Nicolas Monte de
Oca (Mexiko) aus dem Stand auf den Füßen in den Handstand und
zurück wechselt und die Handstandpositionen wechselt. Denn er
tut dies nicht auf einem starren Requisit, sondern auf einer
rasant rotierenden Tischplatte. Guillaume Paquin und Nicole
Faubert (Kanada, USA) umschlingen einander sinnlich an den
Strapaten, kreisen in außergewöhnlichen Figuren durch die
Luft. Das könnte so schön sein, wenn nicht die Musikbegleitung
derart spartanisch wäre.
La Testa Maestra,
Hyperhook, Kostiantyn Korosteylenko
Die Herren der
deutsch-türkischen Dreier-Formation „Hyperhook“ beherrschen
Salti und Sprünge zu atmosphärischer Musik und mit
Regenschirmen in der Hand: ein toller, cooler, moderner
Ansatz, wobei die abschließenden Höhepunkte fehlen. Mit Bällen
jongliert wird gleich drei Mal: Am besten gefällt das Duo „La
Testa Maestra“ aus Spanien und Kolumbien, bei dem Partner und
Partnerin vierhändig die Requisiten in der Luft halten und
gegen den Boden springen lassen. Dabei stehen sie mal vor- und
mal nebeneinander und später sich gegenüber. Kostiantyn
Korosteylenko aus der Ukraine bewegt eine große Zahl Bälle,
wobei es offenbar zum Konzept der Darbietung gehört, am Ende
der Jongliermuster bewusst nicht alle aufzufangen. In
ähnlicher Weise lässt Julian Saether (Norwegen) aus seinen
Wurfmustern immer wieder Bälle herausfallen, um mit weniger
Requisiten weiter zu jonglieren. Mikail Karahan aus
Deutschland regt mit seinen absurden Bewegungen im Cyrrad zum
Schmunzeln an; zum Gruseln sind dagegen Troy James und seine
androgyn wirkende Partnerin Ess Hödlmoser. Sie geben sich bei
ihren Kontorsionen als einander bekämpfende Spinnen. Johan
Santiago-Aponte aus Puerto Rico kombiniert den Luftring mit
zusätzlichen Tuchschlaufen darüber und leider auch unangenehm
hohen Begleitklängen. Nicht so recht ins Festivalprogramm
passen mag die Sanddorn-Balance von Marula Eugster Rigolo: Das
ist nicht „Circus von Morgen“, sondern eine seit vielen Jahren
bestens etablierte Darbietung. Sie wurde einst vom Vater der
Artistin kreiert und im Prinzip vollkommen unverändert von
mehreren Künstlern in einer Art zirzensischen Franchise-System
aufgeführt.
Enkhtsetseg
Lodoi, Projet PDF, Dima Shine
Das 40. Festival
findet wiederum in den gewaltigen Zeltanlagen des Cirque
Phénix auf der Pelouse de Reuilly statt. Das Licht ist pompös,
das Festivalorchester unter der Leitung von Francois Morel
spielt grandios, vereinzelt auch während den Darbietungen und
natürlich zur mitreißenden Flaggenparade. Das weibliche
Ensemble Projet pdf („portés de femmes“ / getragen von Frauen)
bietet ein stimmungsvolles Opening in den einzelnen
Vorstellungen mit Akrobatik inmitten der Zuschauer und einer
Art Persiflage auf chinesische „Massen-Ikarier-Nummern“ auf
der Bühne. Durchs Programm führt wortreich Calixte de
Nigremont. Für tolle Stimmung sorgen auf den Rängen vor allem
Schüler von europäischen Artistenschulen. Neben den
Wettbewerbsteilnehmern wurden vier Gold-Gewinner vergangener
Jahre als Gaststars eingeladen: der taiwanesische
Diabolospieler ChiHan Chao (Gold 2017), Aimé Morales als
„Waldschrat im Cyrrad“ (2014) sowie Dima Shine (2007) mit
seiner extrem leistungsstarken Equilibristik am Mast. Die
Gewinnerin von 1983, Enkhtsetseg Lodoi, feiert ihre 50-jährige
Karriere als Kontorsionistin. Sie erhält vor dem stehend
applaudierenden Publikum eine neue Goldmedaille aus den Händen
von Phénix-Direktor und Festival-Präsident Alain M. Pacherie. |