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40. Festival Mondial
du Cirque de Demain 2019

www.cirquededemain.com ; 92 Fotos Show A ; 123 Fotos Show B

Paris, 31. Januar bis 3. Februar 2019: Diese Nummer ist die große Sensation des 40. Festival Mondial du Cirque de Demain. Sieben junge Männer bilden die Formation „Scandinavian Boards“; drei Koreanische Wippen stehen auf der Bühne nebeneinander. Die Requisiten bieten somit sechs Positionen, von denen sich die Akteure in die Luft katapultieren lassen oder auf denen sie landen können. Und diese Möglichkeiten werden reichlich genutzt. Für spektakuläre Platzwechsel, zur gegenüber liegenden Seite einer Wippe oder zu einem anderen Board.

Für Salti und spektakuläre Pirouetten. Oftmals von drei Akteuren synchron gedreht. Es ist ein Feuerwerk der eleganten Sprünge, eine Präzisions-Maschinerie, eine beeindruckend dichte Abfolge von Tricks. Sie wird angetrieben von mitreißender Musik. Als sich die Akteure zwischendurch zum Kompliment versammeln, reißt es das Publikum von den Sitzen. Tausende stehen auf wie ein Mann. Schreien. Toben.


Scandinavian Boards 

Doch die Nummer ist nicht zu Ende, es folgen weitere Höhepunkte der Flugkunst. Dann nochmal komplette Standing Ovations. Und ein Preis von der Jury, den es in 39 Ausgaben dieses hoch renommierten Festivals noch nicht gegeben hat: einen Grand Prix, über Gold stehend. Und fast selbstredend den Publikumspreis dazu. Die Artisten aus Schweden, Finnland, Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz haben Festivalgeschichte geschrieben. Ausgebildet wurden sie an der Circusschule DOCH in Stockholm. Dabei bewegt sich das Programm des 40. „Weltfestival des Circus von Morgen“ durchweg auf einem erfreulich hohen Niveau. Während zur gleichen Zeit der traditionelle Circus in Monte Carlo die Stars der „New Generation“ prämiert, hat man sich hier konsequent dem Cirque Nouevau verschrieben. Dementsprechend gehören Roncalli, Soleil und GOP zu den Partnern und schicken ihre Scouts auf Einkaufstour. Jedoch könnten auch Vertreter traditionellerer Unternehmen durchaus fündig werden. Die 22 teilnehmenden Nummern in zwei verschiedenen Auswahlprogrammen böten dazu reichlich Gelegenheit.


Arthur Morel van Hyfte, Troupe Acrobatique de Dalian, Alexey Ishmaev und Pavel Mayer 

Und so wäre beispielsweise die Kunst der Gold-Preisträger aus China eine Zierde für jedes klassische Programm. Die sechs Chinesen der Troupe Acrobatique de Dalian sind alle cool in schwarz-weiß gekleidet, in der Variationsbreite von Sportswear bis Hose, Hemd und Weste. Ihre Jonglage mit Meteoren – lange Seile mit Schalen an beiden Enden – kombinieren sie mit zahlreichen Salti. Von den Händen der Partner geht es für einen der Akteure mit Salti zunächst auf die Schultern seiner Kollegen. Und von dort in eine Position im Drei-Mann-Hoch. Auch für sie wird stehend applaudiert. Viel typischer „Cirque Nouveau“ ist die zweite mit Gold prämierte Darbietung, die von Arthur Morel van Hyfte am Tanztrapez. Hier ist das Requisit so aufgehängt, dass es sich frei drehen kann. Daran zelebriert der Franzose, passend zur Bezeichnung des Genres, tatsächlich einen schwerelosen Tanz. Er vereint große Kraft mit fließender Beweglichkeit, introvertiert zu Klaviermusik und nur in eine schwarze Spitzen-Unterhose gekleidet. Offensichtlich ist es gerade en vogue, sich bei Luftnummern am Ende nach oben in die Dunkelheit zu verabschieden. Wir erleben es im Laufe des Festivals bei van Hyfte und weiteren Künstlern. Gold hätten wir darüber hinaus auch Alexey Ishmaev und Pavel Mayer aus Russland gegönnt. Ihre Strapaten-Nummer erzählt eine Geschichte. Das tun andere im Festivalprogramm auch, doch hier wird sie nicht in einem schier endlosen Prolog zur eigentlichen Nummer ausgewalzt und ist klar nachzuvollziehen. Es geht um eine Begegnung von „Bettler und Businessmann“, die um einen Koffer voller Geld kämpfen. Am Ende hat der Arme die Jacke und den Koffer des Reichen erobert, nur um die bedeutungslosen Geldscheine in die Tiefe flattern zu lassen. Dazu gibt es viele schwierige Tricks mit so noch nicht gesehenen Figuren. Die klassische Tanzausbildung der beiden ist klar erkennbar; die eindringliche Musik ist mit Zitaten unter anderem von Martin Luther King durchwirkt. Die Silbermedaille und Standing Ovations sind der Lohn.


Cie Soralino, Truppe Efimov, Laurence Tremblay-Vu 

Über Silber freuen darf sich auch Laurence Tremblay-Vu (Kanada), der dem Hochseil neue Seiten abgewinnt. Beispielsweise wenn er kopfüber und in den Kniekehlen an der Balancierstange hängt, die er über das Seil gelegt hat. Oder wenn er im Schneidersitz das Gleichgewicht hält. Kommen wir zu den vier Bronze-Preisträgern. Mitten in die Herzen der Zuschauer schafft es das männliche Komiker-Duo Cie Soralino (Frankreich/Italien), die mit Pappkisten jonglieren und sie auf dem Kopf stapeln. Wie bei einer Partie „Jenga“ türmen sie schließlich zahllose Kisten aufeinander, bis unters Dach des gewaltigen Bogenmast-Chapiteaus. Eine heitere Note hat auch die Nummer der russischen Truppe Efimov mit Handvoltigen sowie mit Sprüngen und Salti auf Fasttrack und Trampolin. Hier erleben wir eine fröhliche Hochzeitsgesellschaft mit Brautpaar und sechs männlichen „Brautjungfern“ in rosafarbenen Anzügen.


Mizuki Shinagawa, Christopher und Milena, Diego Salles 

Die Japanerin Mizuki Shinagawa hat eine besondere Form der Tücherakrobatik kreiert. Sie ist durch ein Seil mit ihrer Partnerin verbunden, die immer wieder einen enorm hohen Gittermast hinauf- und hinunterklettert. So ergibt sich ein menschliches „Pendel“, wird Shinagawa in die Höhe gezogen oder saust zurück gen Boden. Auch der vierte Bronze-Preis geht an einen Luftakrobaten, den Brasilianer Diego Salles. Er erscheint auf der Bühne mit einem Stoffbündel über dem Kopf, das an einem Seil hängt, und lässt sich daran unter die Kuppel ziehen, ohne Gebrauch von Armen und Beine. Wie es funktioniert, erkennen wir nicht. Zurück am Boden geriert er sich als Model auf dem Catwalk. Erst spät wird klar, welchem Genre er sich eigentlich widmet: wenn das Bündel zu langen Tüchern ausgerollt wird, an denen er dynamische Bewegungen zeigt. Insgesamt hat die zehnköpfige Jury unter der Präsidentschaft von Anny Duperey gute Entscheidungen getroffen. Und freilich bietet das Festivalprogramm auch über die mit „Grand Prix“ und Edelmetall ausgezeichneten Darbietungen hinaus viele großartige Momente. Zum Beispiel wenn Christopher und Milena aus Deutschland an zwei Trapezen arbeiten, die im 90-Grad-Winkel zueinander hängen. Mehrfach wechseln sie von einem Requisit zum anderen, um ihre Voltigen bis hin zum Salto zu präsentieren.


Winston, Guillaume Paquin und Nicole Faubert, Ellie Rossi 

Zu live gespielter, dynamischer Musik präsentiert die US-Amerikanerin Ellie Rossi mit Ver- und Entwicklungen sowie Abfallern eine sehr starke Arbeit am Vertikalseil, die fast schon als klassisch durchgehen könnte – wäre da nicht die Kostümierung in Hotpants und T-Shirt, passend zur „Umkleide“-Rahmenhandlung. Winston aus Venezuela überrascht mit einer technisch hervorragenden Kartenmanipulation. Sein Muskelshirt bietet dabei kaum Möglichkeiten, die Spielkarten zu verbergen. Zahllose von ihnen zaubert er herbei und versucht verzweifelt, diese loszuwerden. So wird die Geschichte vom Kampf gegen eine Zigarettensucht bebildert. Beeindruckend, wie Nicolas Monte de Oca (Mexiko) aus dem Stand auf den Füßen in den Handstand und zurück wechselt und die Handstandpositionen wechselt. Denn er tut dies nicht auf einem starren Requisit, sondern auf einer rasant rotierenden Tischplatte. Guillaume Paquin und Nicole Faubert (Kanada, USA) umschlingen einander sinnlich an den Strapaten, kreisen in außergewöhnlichen Figuren durch die Luft. Das könnte so schön sein, wenn nicht die Musikbegleitung derart spartanisch wäre.


La Testa Maestra, Hyperhook, Kostiantyn Korosteylenko 

Die Herren der deutsch-türkischen Dreier-Formation „Hyperhook“ beherrschen Salti und Sprünge zu atmosphärischer Musik und mit Regenschirmen in der Hand: ein toller, cooler, moderner Ansatz, wobei die abschließenden Höhepunkte fehlen. Mit Bällen jongliert wird gleich drei Mal: Am besten gefällt das Duo „La Testa Maestra“ aus Spanien und Kolumbien, bei dem Partner und Partnerin vierhändig die Requisiten in der Luft halten und gegen den Boden springen lassen. Dabei stehen sie mal vor- und mal nebeneinander und später sich gegenüber. Kostiantyn Korosteylenko aus der Ukraine bewegt eine große Zahl Bälle, wobei es offenbar zum Konzept der Darbietung gehört, am Ende der Jongliermuster bewusst nicht alle aufzufangen. In ähnlicher Weise lässt Julian Saether (Norwegen) aus seinen Wurfmustern immer wieder Bälle herausfallen, um mit weniger Requisiten weiter zu jonglieren. Mikail Karahan aus Deutschland regt mit seinen absurden Bewegungen im Cyrrad zum Schmunzeln an; zum Gruseln sind dagegen Troy James und seine androgyn wirkende Partnerin Ess Hödlmoser. Sie geben sich bei ihren Kontorsionen als einander bekämpfende Spinnen. Johan Santiago-Aponte aus Puerto Rico kombiniert den Luftring mit zusätzlichen Tuchschlaufen darüber und leider auch unangenehm hohen Begleitklängen. Nicht so recht ins Festivalprogramm passen mag die Sanddorn-Balance von Marula Eugster Rigolo: Das ist nicht „Circus von Morgen“, sondern eine seit vielen Jahren bestens etablierte Darbietung. Sie wurde einst vom Vater der Artistin kreiert und im Prinzip vollkommen unverändert von mehreren Künstlern in einer Art zirzensischen Franchise-System aufgeführt.


Enkhtsetseg Lodoi, Projet PDF, Dima Shine 

Das 40. Festival findet wiederum in den gewaltigen Zeltanlagen des Cirque Phénix auf der Pelouse de Reuilly statt. Das Licht ist pompös, das Festivalorchester unter der Leitung von Francois Morel spielt grandios, vereinzelt auch während den Darbietungen und natürlich zur mitreißenden Flaggenparade. Das weibliche Ensemble Projet pdf („portés de femmes“ / getragen von Frauen) bietet ein stimmungsvolles Opening in den einzelnen Vorstellungen mit Akrobatik inmitten der Zuschauer und einer Art Persiflage auf chinesische „Massen-Ikarier-Nummern“ auf der Bühne. Durchs Programm führt wortreich Calixte de Nigremont. Für tolle Stimmung sorgen auf den Rängen vor allem Schüler von europäischen Artistenschulen. Neben den Wettbewerbsteilnehmern wurden vier Gold-Gewinner vergangener Jahre als Gaststars eingeladen: der taiwanesische Diabolospieler ChiHan Chao (Gold 2017), Aimé Morales als „Waldschrat im Cyrrad“ (2014) sowie Dima Shine (2007) mit seiner extrem leistungsstarken Equilibristik am Mast. Die Gewinnerin von 1983, Enkhtsetseg Lodoi, feiert ihre 50-jährige Karriere als Kontorsionistin. Sie erhält vor dem stehend applaudierenden Publikum eine neue Goldmedaille aus den Händen von Phénix-Direktor und Festival-Präsident Alain M. Pacherie.

Was Monte Carlo für den traditionellen Circus, ist „Demain“ für die Vertreter des Cirque Nouveau: das wichtigste Branchentreffen und das größte Festival seiner Art weltweit. Beide Veranstaltungen wurden fast zur gleichen Zeit aus der Taufe gehoben. Vergleicht man Monte Carlo und Paris, dann wird einmal mehr die ungeheure Vielfalt und Bandbreite deutlich, die der Circus zu bieten hat. Gestern, heute und vor allem morgen.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Moll