Es ist ehrlich
gesagt ohnehin nur ein bedingt denkwürdiger Jahrgang
des nach wie vor wichtigsten Nachwuchsfestivals der
Circuswelt. So gehen entgegen der Praxis vieler anderer
Festivals einige der insgesamt 24 teilnehmenden Nummern nicht
ohne Grund gänzlich ohne Prämierung nach Hause. Leider spricht
das weniger für strenge Kriterien der Jury unter dem Vorsatz
von Maxim Nikulin – der auffälligerweise keine Darbietung aus
seiner Heimat Russland zu bewerten hatte – als vielmehr für
ein allgemein ausbaubares Niveau der akrobatischen Leistungen
und fehlende Ideen. Wenn die als Gäste eingeladenen Gewinner
früherer Ausgaben, heuer das fantastische Hand-auf-Hand-Duo
MainTenant (Silber 2010) oder die in einem der
Wettbewerbesprogramme gar als Schlussnummer arbeitenden Alexey
Ishmaev und Pavel Mayer an den Strapaten (Silber 2019), ihren
Nachfolgern mitunter den Rang ablaufen, dann stimmt das
nachdenklich.
  
Duo MainTenant,
Valeriia Davydenko, Troupe de Guangzhou
So gesehen muss
man der Jury konstatieren, in Gänze gesehen auch heuer die
richtigen Nummern gekürt zu haben; wenngleich man über die
vergebenen Medaillenfarben wie immer bestens streiten kann.
Kontroversen um Entscheidungen gehören ja beinahe schon zur
DNA von Festivals. Der diesjährige Cirque de Demain – bei dem
es gleich in der ersten Auswahlvorstellung zu einem Unfall
beim aussichtsreichen Trio Tribarre (Kanada) auf dem
russischen Barren kam – bildet da keine Ausnahme.
Beispielsweise erscheint die Ehrung eines offenbar
austauschbaren, weil namenlos bleibenden Akteurs aus der
Troupe de Guangzhou (China) mit dem "Grand Prix" doch zu hoch,
insbesondere im Vergleich mit der traumhaften
Schleuderbrett-Symphonie im letzten Jahr, für die eigens
dieser Preis erfunden wurde. Eine Auszeichnung in Gold wäre
sicher ausreichend gewesen für das außer Frage stehende Können
auf dem Schlappseil. Begleitet von gleich vier Assistenten und
einer Instrumentalistin, bietet der Artist das auf diesem
Requisit von seinen Landsleuten bekannte Repertoire in
Perfektion, während das Seil dabei immer wieder in die Höhe
gezogen wird.
  
Sara
Knauer & Holland Lohse, Marinich Foundation, Francesca Hyde &
Laura Stokes
Mit Gold geehrt
werden indes zwei andere Darbietungen. Célien Pinon und
Nicolas Allard (Frankreich) haben sich im letzten Jahr ihrer
Ausbildung an der École Nationale de Cirque in Montreal
zusammengetan. Nachdem sie sich von einer Femme Fatale mit
roter Farbe bemalen lassen, folgt eine trickstarke und vor
allem äußert synchrone Arbeit an zwei Schwungtrapezen.
Johannes Holm Veje und Martin Richard (Dänemark/Frankreich)
bauen als "1.2.3. Marichnich Foundation" zwischen ihren
Voltigen am stehenden Fangstuhl absurde Zwischenspiele ein.
Das Duo, welches im letzten Jahr die französische Circusschule
CNAC beendete, lässt es beispielsweise aus der Kuppel regnen,
um dann unter anderem einen doppelten Salto zu zeigen. Dass es
dafür auch den Zuschauerpreis gibt, zeigt, dass heuer vor
allem Nummern mit eigenwilligen und meist auch humorvollen
Aufmachungen bei Jury und auch Publikum punkteten. Zumindest
lässt sich nur so erklären, warum Sara Knauer und Holland
Lohse (USA) als starkes, aber recht klassisch arbeitendes Duo
an den Strapaten nur mit Bronze bedacht werden, während die
Brüder Enriquez (Frankreich) für die wilde Aneinandereihung
einfacher Tricks verschiedener Disziplinen Silber bekommen.
Interessanter und anspruchsvoller fällt die ebenfalls mit
Silber prämierte Zopfhang-Variante von Francesca Hyde und
Laura Stokes (Irland/Deutschland) aus, schließlich dienen
beide einander als Gegenwicht. Warum sich die beiden bei DOCH
in Stockholm ausgebildeten Artistinnen abschließend ihrer
Kleider entledigen, bleibt aber ihr Geheimnis.
  
Benedikt
Baumann, Anna Shvedkova & Saleh Yazdani, Tom Lacoste
Der auch mit
Silber ausgezeichnete Tom Lacoste (Frankreich) hat indes eine
amüsante Nummer geschaffen, indem er sein Spiel mit den
Diabolos passgenau mechanischen Quietschgeräuschen angepasst
hat. Benedikt Baumann (Ungarn) komplettiert mit einer weiteren
Bronze-Auszeichnung für sein feines Spiel mit einem
Hula-Hoop-Reifen den Medaillenreigen, der wie üblich um viele
Spezial- und Sonderpreise ergänzt ist. So können Anna Shvedkova und Saleh Yazdani (Deutschland) immerhin die
wichtige Auszeichnung des Moulin Rouge entgegennehmen, obwohl
man sie sich auch unter den Gewinnern der Hauptpreise durchaus
hätte vorstellen können. Wie Baumann wurde dieses Duo an der
Berliner Artistenschule ausgebildet und präsentiert nun in
Paris eine wirklich gelungene Partnerakrobatik, in der sie als
Unterfrau agiert.
  
National Taiwan
College of Performing Arts, Luminous J, Filip Zahradnicky
Bedenklich
stimmen insbesondere die Jonglage-Darbietungen, werden doch
weder hohe technische Leistungen noch besondere Ideen
gebracht. Am besten gefällt noch Filip Zahradnicky
(Tschechien), der neben den interessantesten Wurfmustern auch
einen eigenen Ansatz bietet, wenn er aus seinen Ringen
zuweilen "Vögel" bildet und so eine kleine Geschichte einbaut.
Die gleichen Requisten hat Arttu Lahtinen (Finnland) gewählt,
während sich die introvertierte Kateryna Nikiforova und Dima
Bakhtin (beide Ukraine) auf Bälle konzentieren. Während er bis
zu neun davon in der Luft hält, bounct sie die Kugeln in einem
Gestell gen Boden, leider für die Tribünenseiten kaum
sichtbar. Verschiendeste, sogar illuminierte Objekte händelt
die Truppe Luminous J (Japan), alles jedoch ohne wirkliche
Schwierigkeiten. Das reicht immerhin wie bei Zahradnicky für
einen Spezialpreis der Jury, hat es doch zumindest Schauwert.
Davon lebt auch der Auftritt des National Taiwan College of
Performing Arts (Taiwan), deren Mitglieder in folkloristischen
Löwenkostümen unter anderem eine Brücke überwinden. Da bekommt
der Zirkus von Morgen gar einen gestrigen Touch.
  
Tjasa Dobravec,
Erwan Tarlet, Elsa Hall
Mit Ausnahme von
Jannis Kölling (Deutschland), der mit seiner Mischung aus
Pole-Akrobatik, Drehscheibe und Handständen offenbar zu viel
gewollt hat, dominieren ansonsten die Luftnummern. Tjasa
Dobravec (Slowenien) treiben die wilde Albträume an die
Luftspirale, während Delphine Cézard (Kanada) erfolgreich auf
eine eher melancholische Begleitung am Aerial Pole setzt.
Schließlich erhält auch sie einen Spezialpreis der Jury. Elsa
Hall (USA) arbeitet ziemlich klassisch an den Strapaten,
Madisson Costello & Woody Fox (Australien) nutzen das
Vertikalseil für ihre Voltigen, und Erwan Tarlet (Frankreich)
hängt einfach da an seinen Bändern... und macht nichts, über
Minuten, den ganzen Auftritt während der Auswahlvorstellung am
Samstagabend lang. Die Gunst einer Live-Übertragung im
Arte-Webchannel nutzend, macht er auf seine Botschaft
aufmerksam: "demain?" steht in großen Lettern auf dem nackten
Oberkörper. Die Reaktionen der Betrachter können
unterschiedlicher nicht sein: Jubel und Buhrufe – und so
manche Diskussion, wer oder was denn da jetzt gemeint sei. Der
Artist selbst erklärt später, dass könne jeder selbst
entscheiden, ihm jedoch gehe es um die Klimaproblematik. |