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41. Festival Mondial
du Cirque de Demain 2020

www.cirquededemain.com ; 92 Showfotos

Paris, 30. Januar bis 2. Februar 2020: Keine Diskussion, für diese Darbietung hätte es Gold geben müssen. Schließlich ist Valeriia Davydenkos Auftritt, bei dem sich die Equilibristin durchgängig auf einer Hand hält, an purer Ästhetik und Eleganz nur schwer zu überbieten. Hinzu kommt das herausragende technische Können der erst 15-jährigen Ukrainerin. Unverständlich also, dass sie sich wie schon vor zwei Jahren in Wiesbaden nur mit Silber begnügen musste – setzt Davydenko doch eines der wenigen Ausrufezeichen bei der diesjährigen 41. Ausgabe des Festival Mondial du Cirque de Demain in Paris.

Es ist ehrlich gesagt ohnehin nur ein bedingt denkwürdiger Jahrgang des nach wie vor wichtigsten Nachwuchsfestivals der Circuswelt. So gehen entgegen der Praxis vieler anderer Festivals einige der insgesamt 24 teilnehmenden Nummern nicht ohne Grund gänzlich ohne Prämierung nach Hause. Leider spricht das weniger für strenge Kriterien der Jury unter dem Vorsatz von Maxim Nikulin – der auffälligerweise keine Darbietung aus seiner Heimat Russland zu bewerten hatte – als vielmehr für ein allgemein ausbaubares Niveau der akrobatischen Leistungen und fehlende Ideen. Wenn die als Gäste eingeladenen Gewinner früherer Ausgaben, heuer das fantastische Hand-auf-Hand-Duo MainTenant (Silber 2010) oder die in einem der Wettbewerbesprogramme gar als Schlussnummer arbeitenden Alexey Ishmaev und Pavel Mayer an den Strapaten (Silber 2019), ihren Nachfolgern mitunter den Rang ablaufen, dann stimmt das nachdenklich.


Duo MainTenant, Valeriia Davydenko, Troupe de Guangzhou 

So gesehen muss man der Jury konstatieren, in Gänze gesehen auch heuer die richtigen Nummern gekürt zu haben; wenngleich man über die vergebenen Medaillenfarben wie immer bestens streiten kann. Kontroversen um Entscheidungen gehören ja beinahe schon zur DNA von Festivals. Der diesjährige Cirque de Demain – bei dem es gleich in der ersten Auswahlvorstellung zu einem Unfall beim aussichtsreichen Trio Tribarre (Kanada) auf dem russischen Barren kam – bildet da keine Ausnahme. Beispielsweise erscheint die Ehrung eines offenbar austauschbaren, weil namenlos bleibenden Akteurs aus der Troupe de Guangzhou (China) mit dem "Grand Prix" doch zu hoch, insbesondere im Vergleich mit der traumhaften Schleuderbrett-Symphonie im letzten Jahr, für die eigens dieser Preis erfunden wurde. Eine Auszeichnung in Gold wäre sicher ausreichend gewesen für das außer Frage stehende Können auf dem Schlappseil. Begleitet von gleich vier Assistenten und einer Instrumentalistin, bietet der Artist das auf diesem Requisit von seinen Landsleuten bekannte Repertoire in Perfektion, während das Seil dabei immer wieder in die Höhe gezogen wird.

 
Sara Knauer & Holland Lohse, Marinich Foundation,  Francesca Hyde & Laura Stokes 

Mit Gold geehrt werden indes zwei andere Darbietungen. Célien Pinon und Nicolas Allard (Frankreich) haben sich im letzten Jahr ihrer Ausbildung an der École Nationale de Cirque in Montreal zusammengetan. Nachdem sie sich von einer Femme Fatale mit roter Farbe bemalen lassen, folgt eine trickstarke und vor allem äußert synchrone Arbeit an zwei Schwungtrapezen. Johannes Holm Veje und Martin Richard (Dänemark/Frankreich) bauen als "1.2.3. Marichnich Foundation" zwischen ihren Voltigen am stehenden Fangstuhl absurde Zwischenspiele ein. Das Duo, welches im letzten Jahr die französische Circusschule CNAC beendete, lässt es beispielsweise aus der Kuppel regnen, um dann unter anderem einen doppelten Salto zu zeigen. Dass es dafür auch den Zuschauerpreis gibt, zeigt, dass heuer vor allem Nummern mit eigenwilligen und meist auch humorvollen Aufmachungen bei Jury und auch Publikum punkteten. Zumindest lässt sich nur so erklären, warum Sara Knauer und Holland Lohse (USA) als starkes, aber recht klassisch arbeitendes Duo an den Strapaten nur mit Bronze bedacht werden, während die Brüder Enriquez (Frankreich) für die wilde Aneinandereihung einfacher Tricks verschiedener Disziplinen Silber bekommen. Interessanter und anspruchsvoller fällt die ebenfalls mit Silber prämierte Zopfhang-Variante von Francesca Hyde und Laura Stokes (Irland/Deutschland) aus, schließlich dienen beide einander als Gegenwicht. Warum sich die beiden bei DOCH in Stockholm ausgebildeten Artistinnen abschließend ihrer Kleider entledigen, bleibt aber ihr Geheimnis.


Benedikt Baumann, Anna Shvedkova & Saleh Yazdani, Tom Lacoste 

Der auch mit Silber ausgezeichnete Tom Lacoste (Frankreich) hat indes eine amüsante Nummer geschaffen, indem er sein Spiel mit den Diabolos passgenau mechanischen Quietschgeräuschen angepasst hat. Benedikt Baumann (Ungarn) komplettiert mit einer weiteren Bronze-Auszeichnung für sein feines Spiel mit einem Hula-Hoop-Reifen den Medaillenreigen, der wie üblich um viele Spezial- und Sonderpreise ergänzt ist. So können Anna Shvedkova und Saleh Yazdani (Deutschland) immerhin die wichtige Auszeichnung des Moulin Rouge entgegennehmen, obwohl man sie sich auch unter den Gewinnern der Hauptpreise durchaus hätte vorstellen können. Wie Baumann wurde dieses Duo an der Berliner Artistenschule ausgebildet und präsentiert nun in Paris eine wirklich gelungene Partnerakrobatik, in der sie als Unterfrau agiert.


National Taiwan College of Performing Arts, Luminous J, Filip Zahradnicky 

Bedenklich stimmen insbesondere die Jonglage-Darbietungen, werden doch weder hohe technische Leistungen noch besondere Ideen gebracht. Am besten gefällt noch Filip Zahradnicky (Tschechien), der neben den interessantesten Wurfmustern auch einen eigenen Ansatz bietet, wenn er aus seinen Ringen zuweilen "Vögel" bildet und so eine kleine Geschichte einbaut. Die gleichen Requisten hat Arttu Lahtinen (Finnland) gewählt, während sich die introvertierte Kateryna Nikiforova und Dima Bakhtin (beide Ukraine) auf Bälle konzentieren. Während er bis zu neun davon in der Luft hält, bounct sie die Kugeln in einem Gestell gen Boden, leider für die Tribünenseiten kaum sichtbar. Verschiendeste, sogar illuminierte Objekte händelt die Truppe Luminous J (Japan), alles jedoch ohne wirkliche Schwierigkeiten. Das reicht immerhin wie bei Zahradnicky für einen Spezialpreis der Jury, hat es doch zumindest Schauwert. Davon lebt auch der Auftritt des National Taiwan College of Performing Arts (Taiwan), deren Mitglieder in folkloristischen Löwenkostümen unter anderem eine Brücke überwinden. Da bekommt der Zirkus von Morgen gar einen gestrigen Touch.


Tjasa Dobravec, Erwan Tarlet, Elsa Hall 

Mit Ausnahme von Jannis Kölling (Deutschland), der mit seiner Mischung aus Pole-Akrobatik, Drehscheibe und Handständen offenbar zu viel gewollt hat, dominieren ansonsten die Luftnummern. Tjasa Dobravec (Slowenien) treiben die wilde Albträume an die Luftspirale, während Delphine Cézard (Kanada) erfolgreich auf eine eher melancholische Begleitung am Aerial Pole setzt. Schließlich erhält auch sie einen Spezialpreis der Jury. Elsa Hall (USA) arbeitet ziemlich klassisch an den Strapaten, Madisson Costello & Woody Fox (Australien) nutzen das Vertikalseil für ihre Voltigen, und Erwan Tarlet (Frankreich) hängt einfach da an seinen Bändern... und macht nichts, über Minuten, den ganzen Auftritt während der Auswahlvorstellung am Samstagabend lang. Die Gunst einer Live-Übertragung im Arte-Webchannel nutzend, macht er auf seine Botschaft aufmerksam: "demain?" steht in großen Lettern auf dem nackten Oberkörper. Die Reaktionen der Betrachter können unterschiedlicher nicht sein: Jubel und Buhrufe – und so manche Diskussion, wer oder was denn da jetzt gemeint sei. Der Artist selbst erklärt später, dass könne jeder selbst entscheiden, ihm jedoch gehe es um die Klimaproblematik.

Es bleibt bei diesem einen Fall von weltpolitischer Bedeutungsschwere; und doch hat das Thema unserer Zeit auch den Cirque de Demain erreicht, der wieder im gewohnt vornehmen Rahmen der gigantischen Phénix-Zeltanlage auf der Pelouse de Reuilly stattfindet, mit prächtigem Licht und einem grandiosen, wie so oft viel zu selten spielenden Orchester, mit Flaggenparade, einer in Teilen sehenswerten Eröffnung durch die Compagnie Lapsus – die besonders durch ihr Spiel mit Lenkdrachen gefällt – und mit dem stets wortgewandten Calixte de Nigremont.

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Text und Fotos: Benedikt Ricken