CHPITEAU.DE

42. Festival Mondial
du Cirque de Demain 2023

www.cirquededemain.com ; 151 Fotos Show A ; 165 Fotos Show B

Paris, 26.-29. Januar 2023: Mit einem sehr starken Programm meldet sich das Festival Mondial du Cirque de Demain in Paris nach zwei Jahren Pandemie-bedingter Unterbrechung zurück. Ganz vieles von dem, was hier gezeigt wird, ist mitnichten nur für „zeitgenössische“ Circusproduktionen geeignet, sondern würde jedem Programm in klassischerem Rahmen gut zu Gesicht stehen – mit großartigen akrobatischen Leistungen, innovativen Ideen und frischen Gesichtern. Und im Übrigen mit einem nur wohldosierten Maß an Schwermut, das manchmal mit dem „Cirque Nouveau“ leider untrennbar verbunden scheint.

Die Veranstaltung findet wie gewohnt im gewaltigen Chapiteau des Cirque Phénix auf der Pelouse de Reuilly statt – mit außen liegenden Masten, rechteckiger Bühne, festlichem Ambiente und großem Orchester unter der Leitung von Francois Morel. Erfreulicherweise spielen die Musikerinnen und Musiker nicht nur zu den Komplimenten; vielmehr lassen sich diesmal einige Nummern mit Livemusik begleiten. Alain M. Pacherie ist in Personalunion Direktor des Cirque Phénix und Festivalpräsident. Die Moderation liegt wiederum in den Händen von Calixte de Nigremont. Sein exzentrisches Auftreten mit weiß geschminktem Gesicht und barockem Kostüm hat er beibehalten, doch erfreulicherweise sind seine Ansagen prägnanter geworden.


Flaggenparade, Calixte de Nigremont

Die Ecole Nationale des Arts du Cirque de Rosny-sous-Bois hat unter dem Motto „Ein Ball“ ein Charivari mit verschiedenen artistischen Disziplinen zusammengestellt, das am Beginn jeder Vorstellung gezeigt wird, gefolgt von der mitreißenden Flaggenparade mit sämtlichen Festivalteilnehmern aus aller Welt. Zwei verschiedene Wettbewerbsprogramme gibt es, aus denen die zehnköpfige Jury mit Präsident Lucas Dragone letztlich die Preisträger auswählt. Programm A und Programm B werden jeweils zwei Mal aufgeführt, gefolgt von der Preisträgergala am Sonntagnachmittag.


Cie Soralino

Zu den Wettbewerbssiegern und Publikumslieblingen beim Cirque de Demain 2019 gehörte das Bronze-prämierte Duo „Cie Soralino“ (Frankreich/Italien). Es ist nun mit drei verschiedenen Darbietungen Gast beim aktuellen Festival – außer Konkurrenz, aber auf dem Plakatmotiv. In Show B jonglieren die zwei Herren in Trenchcoats mit Keulen, fangen diese in ihren markanten Pappkartons und beziehen auch Gäste in den Logen und auf der Tribüne in ihr heiteres Spiel ein. In Show A türmen sie Pappkartons aufeinander, und dies von der freistehenden Leiter aus und eingangs mit Hilfe eines Jungen aus dem Publikum, der die Leiter hält. In beiden Vorstellungen gezeigt wird ihre Hauptnummer, in der sie große Pappkartons in schier unglaubliche Höhe aufeinanderstapeln, ohne dass der Turm in sich zusammenfällt. Die beiden Komiker nach dem Jenga-Prinzip wären eine Zierde beispielsweise auch für jedes Weihnachtscircus-Programm, sofern ein Zelt mit eindrucksvoll hoher Kuppel zur Verfügung steht.


La Tangente du Bras Tendu, Hng Thean Loeong, Truppe Kolfe

Beim 40. Festival im Jahr 2019 wurde erstmals der über Gold stehende „Grand Prix“ vergeben, diese Besonderheit wird seitdem beibehalten. Diesmal widerfährt dem großen Flugtrapez „La Tangente du Bras Tendu“ diese Ehre, ergänzt um die Sonderpreise „Circus Talk“ und „Club du Cirque“. Gestartet wird klassisch in weißen Kostümen mit gestrecktem Doppelsalto und Dreifachem. Dann beginnt das eigentliche Luftschauspiel der achtköpfigen Formation aus Frankreich, ein wahres Festival der Flugkunst, nunmehr in grauen Outfits. Die Kombination aus Plattform, Trapez und Fänger an einer festen Schaukel wird nun ergänzt um weitere Fänger über der Schaukel und, ebenfalls auf erhöhter Ebene, in der Mitte der Anlage. An dieser Stelle ist eine Frau Fängerin! So lassen sich die Fliegerin und die Flieger spektakulär über die verschiedenen Stationen „durchreichen“, zu Salti, Pirouetten und Passagen. Weil wir im zeitgenössischen Circus sind, gibt es mit einem Flugblattregen aus der Kuppel eine bedeutungsschwere Untermalung des Geschehens zum Thema „Widerstand“, die jedenfalls effektvoll aussieht. Zweiter großer Gewinner dieser Festivalausgabe ist sicher die achtköpfige äthiopische Truppe Kolfe, die sowohl Jury-Gold als auch den Publikumspreis gewinnt – und dies, obwohl oder weil die Nummer im ganz traditionellen Circusstil arbeitet, übrigens zu Livemusik. Die Truppe präsentiert ein Genre, das wir zuletzt vor vielen Jahren bei chinesischen Akrobaten sahen. Dabei wird ein herkömmliches Schleuderbrett um eine Trinka auf seiner Mittelachse ergänzt. So kann die Disziplin um ikarische Spiele erweitert werden, so können die Akteure mit dem Brett in die Luft katapultiert und vom Ikarier-Untermann mit den Füßen gefangen und wieder in die Luft gestoßen werden. Das ermöglicht schon sehr spektakuläre Abläufe, auch wenn es in der besuchten Vorstellung zu sehr unschönen Stürzen kommt und auch offenbar sehr jungen Artisten sehr viel abverlangt wird. Eine Folge von 30 Rückwärts-Überschlägen mit verbundenen Augen bildet den Abschluss. Das Publikum applaudiert in der Auswahlvorstellung am Samstag geschlossen im Stehen, ebenso wie für den malaysischen Diabolospieler Hng Thean Loeong, der das zweite Jury-Gold erhält. Der Schwierigkeitsgrad seiner Darbietung ist wirklich unglaublich hoch. So lässt er letztlich drei Diabolos auf zwei verschiedenen Seilen tanzen, die er jeweils mit einer Hand hält – und lässt die Requisiten mehrfach ihre Plätze auf den beiden Seilen tauschen.


Polina Makarova, Quentin Signori, Gustavo und Nerea

Silber vergibt die Jury für die Handstände der Mexikanerin Polina Makarova, die besonders mit ihren rhythmisch-dynamischen Arm- und Beinbewegungen und großer Ausdrucksstärke auffällt. Zum Bewegungswunder passt natürlich der Sonderpreis der Mongolian Contortion Association. Auf ihren Auftritt folgt in der Auswahlvorstellung A direkt im Anschluss Quentin Signori an den Strapaten. Auch der Franzose erhält Silber sowie Standing Ovations von Teilen des Publikums, hier in Kombination mit dem Sonderpreis der Compagnie Altitude. Er beginnt mit Akrobatik an zwei Strapatenbändern, bis eines nur scheinbar unabsichtlich zu Boden fällt und er am verbliebenen weiterarbeitet – mit Posen, Kreiseln und sehr starken, ausdauernden Schwüngen an einem Arm. Mehr als „nur“ Bronze (und den Sonderpreis des Cirque Imagine) verdient gehabt hätten aus unserer Sicht die Spanier Gustavo und Nerea, die mit ihren starken Flugpassagen in dichter Abfolge am Trapez begeistern. Die Kostümierung und die Livemusik mit Gesang sorgen für sinnliche Stimmung.


Duo Ma-MäO Compagnie, Titos Tsai, Duo Gemini

Und auch für das Duo Ma-MäO Compagnie aus Brasilien wäre vielleicht noch mehr drin gewesen als Bronze. Drei weitere Sonderpreise (Moulin Rouge, 7 Doigts de la Main, Annie Fratellini) mögen Beleg genug dafür sein. Ihre Darbietung vereint Musik – er spielt Gitarre, sie singt –, Comedy und Hand-auf-Hand- sowie Wurfakrobatik zu einem äußerst unterhaltsamen Ganzen, das zu manchem Raunen unterm Chapiteau führt und auch Teile des Publikums im Stehen applaudieren lässt. Ebenso Bronze und dazu den Sonderpreis des Cirque du Soleil gibt es für Titos Tsai (Taiwan), der bis zu vier lange Schwerter über seinen kahl geschorenen Kopf, den nackten Oberkörper, Rücken und Arme kreisen lässt und sich dabei um sich selbst dreht – eine ungewöhnliche, von fernöstlicher Kampfkunst inspirierte und starke Performance mit ruhiger Klavierbegleitung. Das vierte Gold geht an das Duo Gemini. Die beiden Ukrainerinnen rotieren gemeinsam um ihren Flying Pole, äußerst kraftvoll und doch in tänzerischer Schwerelosigkeit. Begleitet werden sie von live gespielter, dramatisch-pompöser Musik.


Trio Tête-Bêche, Cie Nicanor de Elia, Duo One Two One

Zwei der Darbietungen, die zu unseren Favoriten gehören, dürfen sich letztlich über einen Sonderpreis der Jury freuen, darunter das deutsch-niederländische Trio Tête-Bêche. Hier erleben wir zwei Männer im Widerstreit um eine Frau. Hand-auf-Hand und Handvoltigen sind ihre Ausdrucksmittel. Zum spektakulären Abschluss stapeln sie sich zum Drei-Personen-Hoch, die Oberfrau im Handstand. Der mittlere Partner springt heraus, der Untermann fängt die Partnerin – die letztlich alleine auf der Bühne steht, von den um sie buhlenden Männern zurückgelassen. Eine für uns neue Kombination bietet das ebenfalls mit dem Jury-Preis prämierte Duo One Two One aus Brasilien. Der männliche Partner startet hoch oben in der Kuppel mit Akrobatik am Vertikalseil. Bald klinkt sich seine Partnerin am Ende des Seils für einen Zopfhang ein. Er ist mit den Beinen im Seil verschlungen und hält es mit den Händen; sie hält sich daran mit ihrem Zopf und einem Bein – nie gesehene Figuren. Sehr beeindruckend sind später auch die Parts, in denen er auf dem Bühnenboden steht und die im Zopfhang rotierende Partnerin in höchster Geschwindigkeit ausdreht. Freilich muss man bei einem Festival des zeitgenössischen Circus nicht alles verstehen. So nutzt das südamerikanisch-europäische Quintett „Cie Nicanor de Elia“ seine weißen Ringe weniger fürs Jonglieren, sondern verformt die flexiblen Requisiten lieber zu Tierfiguren, die man sich auf den Kopf setzt oder „fesselt“ einen der Artistenkollegen damit. Der Jury ist es einen Innovationspreis Wert – aus unserer Sicht eine Innovation, die die Welt nicht braucht, auch nicht die spezielle Welt des Cirque Nouveau.


Antoine Boisserau, Roxana Küwen, Andy Jordan

Immerhin zwei Sonderpreise (Circusbau Budapest, Bretagne Circus) erhält Antoine Boisserau aus Frankreich, der an den weißen Seidentüchern einen Genickhang beherrscht und sich im kreisenden Flug auf- und abwickelt. Der Mexikaner Agustín Rodríguez Beltrán stellt zu einschmeichelnder, live gespielter Musik in großer Höhe seine Kraft und Beweglichkeit an den Strapaten unter Beweis. Dafür enthält er den Preis der Stadt Paris, ebenso wie die Deutsch-Iranerin Roxana Küwen. Sie präsentiert eine interessante Jonglage-Nummer zu Livemusik, bei der sie die meiste Zeit auf dem Rücken liegt, während sie bis zu fünf kleine Bälle mit Händen und Füßen jongliert. Einziger weiterer Solist aus dem deutschsprachigen Raum ist der Österreicher Andy Jordan, der zu schwungvoller Livemusik mit Ringen jongliert, dies in klassischer Aufmachung mit Anzug-Kombination und zunächst auf einem Stuhl sitzend. Im Stehen schickt er bis zu sieben Ringe nicht nur in die Luft, sondern lässt sie auch gegen den Boden springen. Er wird mit dem Sonderpreis des Cirque Phénix belohnt. Bei seinem Kontorsions-Tanz, ausgezeichnet mit der Trophäe Dragone, hängt Arthur Cadre (Frankreich) in fast völliger Dunkelheit an einem Seil, knapp über dem Boden. So werden ansonsten unmögliche Bewegungen scheinbar möglich.


Peng Chan, FootStyle, Pei Pei

Die weiteren Teilnehmer gehen vollkommen leer aus und fahren ohne Preis nach Hause. Am überraschendsten ist das vielleicht beim taiwanesischen Diabolospieler Peng Chan, der im Programm A als Pausennummer platziert ist. Zwar lässt er seine Diabolos von seinen drei Assistentinnen ins Spiel einwerfen, aber immerhin gelingt es ihm auf diese Weise doch, fünf der Doppelkegel durch die Luft rotieren zu lassen. Das französische Quartett „FootStyle“ zeigt, welche akrobatischen Kunststücke mit Fußbällen möglich sind. Die beliebteste Ballsportart in eine Circusdisziplin zu verwandeln, ist sicher eine spannende Idee, doch letztlich mangelt es der Darbietung an Stärke. Pei Pei aus China jongliert auf dem Rücken liegend eine Art Rhönrad mit den Füßen – dies erfordert offenbar großen Einsatz, ist aber wenig wirkungsvoll, da sich das Rad nur recht langsam bewegt. Emmanuel Garcia (Mexiko) arbeitet an einer Kombination aus einem Flying Pole und einer Seilschlaufe, dies zunächst mit verbundenen Augen. Der Italiener Carlo Gerato lässt seine filigranen Origami-Objekte in einer Zeitlupen-Jonglage sachte fliegen. Ein Flugobjekt im Miniaturformat wird nur durch den Luftzug eines mit der Hand bewegten Bilderrahmens in der Schwebe gehalten. Schließlich komplettiert Evgeny Kurkin (USA) mit seiner klassischen Arbeit am Chinesischen Mast, ebenfalls zu live gespielter Musik, das Festivalprogramm. Eine Bratschistin sitzt dabei direkt neben seinem Requisit auf der Bühne und begleitet ihn. Schlussendlich rutscht er am Mast kopfüber in die Tiefe und stoppt kurz vor dem Boden.

Ob die Teilnehmer nun mit dem „Grand Prix“, Edelmetall, einem Sonderpreis oder mit leeren Händen ausgehen – sie alle dürfen sich freuen, Teil eines wunderbaren Festivals gewesen zu sein, das für den zeitgenössischen Circus das wichtigste der Welt ist, so wie das Festival in Monte Carlo für die traditionellere Manegenkunst. Sie alle dürfen sich einem ganz großen Publikum präsentieren, in dem Agenten, Casting-Verantwortliche und Direktionen gut vertreten sind, in dem Artistenkollegen mit ihnen fiebern und Gruppen aus verschiedensten Circusschulen Inspiration und Vorbilder finden. Für sie wird diese Festivalteilnahme unvergesslich sein – und auch wir werden, aufgrund dieses sehr starken Jahrgangs, noch sehr lange daran denken.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Moll