Die
Veranstaltung findet wie gewohnt im gewaltigen Chapiteau des
Cirque Phénix auf der Pelouse de Reuilly statt – mit außen
liegenden Masten, rechteckiger Bühne, festlichem Ambiente und
großem Orchester unter der Leitung von Francois Morel.
Erfreulicherweise spielen die Musikerinnen und Musiker nicht
nur zu den Komplimenten; vielmehr lassen sich diesmal einige Nummern
mit Livemusik begleiten. Alain M. Pacherie ist in
Personalunion Direktor des Cirque Phénix und
Festivalpräsident. Die Moderation liegt wiederum in den
Händen von Calixte de Nigremont. Sein exzentrisches Auftreten
mit weiß geschminktem Gesicht und barockem Kostüm hat er
beibehalten, doch erfreulicherweise sind seine Ansagen
prägnanter geworden.
 
Flaggenparade, Calixte de Nigremont
Die Ecole
Nationale des Arts du Cirque de Rosny-sous-Bois hat unter dem
Motto „Ein Ball“ ein Charivari mit verschiedenen artistischen
Disziplinen zusammengestellt, das am Beginn jeder Vorstellung
gezeigt wird, gefolgt von der mitreißenden Flaggenparade mit
sämtlichen Festivalteilnehmern aus aller Welt. Zwei
verschiedene Wettbewerbsprogramme gibt es, aus denen die
zehnköpfige Jury mit Präsident Lucas Dragone letztlich die
Preisträger auswählt. Programm A und Programm B werden jeweils
zwei Mal aufgeführt, gefolgt von der Preisträgergala am
Sonntagnachmittag.
  
Cie
Soralino
Zu den
Wettbewerbssiegern und Publikumslieblingen beim Cirque de
Demain 2019 gehörte das Bronze-prämierte Duo „Cie Soralino“
(Frankreich/Italien). Es ist nun mit drei verschiedenen
Darbietungen Gast beim aktuellen Festival – außer Konkurrenz,
aber auf dem Plakatmotiv. In Show B jonglieren die zwei Herren
in Trenchcoats mit Keulen, fangen diese in ihren markanten
Pappkartons und beziehen auch Gäste in den Logen und auf der
Tribüne in ihr heiteres Spiel ein. In Show A türmen sie
Pappkartons aufeinander, und dies von der freistehenden Leiter
aus und eingangs mit Hilfe eines Jungen aus dem Publikum, der
die Leiter hält. In beiden Vorstellungen gezeigt wird ihre
Hauptnummer, in der sie große Pappkartons in schier
unglaubliche Höhe aufeinanderstapeln, ohne dass der Turm in
sich zusammenfällt. Die beiden Komiker nach dem Jenga-Prinzip
wären eine Zierde beispielsweise auch für jedes
Weihnachtscircus-Programm, sofern ein Zelt mit eindrucksvoll
hoher Kuppel zur Verfügung steht.
  
La
Tangente du Bras Tendu, Hng Thean Loeong, Truppe Kolfe
Beim 40.
Festival im Jahr 2019 wurde erstmals der über Gold stehende
„Grand Prix“ vergeben, diese Besonderheit wird seitdem
beibehalten. Diesmal widerfährt dem großen Flugtrapez „La
Tangente du Bras Tendu“ diese Ehre, ergänzt um die
Sonderpreise „Circus Talk“ und „Club du Cirque“. Gestartet
wird klassisch in weißen Kostümen mit gestrecktem Doppelsalto
und Dreifachem. Dann beginnt das eigentliche Luftschauspiel
der achtköpfigen Formation aus Frankreich, ein wahres Festival der Flugkunst,
nunmehr in grauen Outfits. Die Kombination aus Plattform,
Trapez und Fänger an einer festen Schaukel wird nun ergänzt um
weitere Fänger über der Schaukel und, ebenfalls auf erhöhter
Ebene, in der Mitte der Anlage. An dieser Stelle ist eine Frau
Fängerin! So lassen sich die Fliegerin und die Flieger
spektakulär über die verschiedenen Stationen „durchreichen“,
zu Salti, Pirouetten und Passagen. Weil wir im
zeitgenössischen Circus sind, gibt es mit einem Flugblattregen
aus der Kuppel eine bedeutungsschwere Untermalung des
Geschehens zum Thema „Widerstand“, die jedenfalls effektvoll
aussieht. Zweiter großer Gewinner dieser Festivalausgabe ist
sicher die achtköpfige äthiopische Truppe Kolfe, die sowohl
Jury-Gold als auch den Publikumspreis gewinnt – und dies,
obwohl oder weil die Nummer im ganz traditionellen Circusstil
arbeitet, übrigens zu Livemusik. Die Truppe präsentiert ein
Genre, das wir zuletzt vor vielen Jahren bei chinesischen
Akrobaten sahen. Dabei wird ein herkömmliches Schleuderbrett
um eine Trinka auf seiner Mittelachse ergänzt. So kann die
Disziplin um ikarische Spiele erweitert werden, so können die
Akteure mit dem Brett in die Luft katapultiert und vom
Ikarier-Untermann mit den Füßen gefangen und wieder in die
Luft gestoßen werden. Das ermöglicht schon sehr spektakuläre
Abläufe, auch wenn es in der besuchten Vorstellung zu sehr
unschönen Stürzen kommt und auch offenbar sehr jungen Artisten
sehr viel abverlangt wird. Eine Folge von 30
Rückwärts-Überschlägen mit verbundenen Augen bildet den
Abschluss. Das Publikum applaudiert in der Auswahlvorstellung
am Samstag geschlossen im Stehen, ebenso wie für den
malaysischen Diabolospieler Hng Thean Loeong, der das zweite
Jury-Gold erhält. Der Schwierigkeitsgrad seiner Darbietung ist
wirklich unglaublich hoch. So lässt er letztlich drei Diabolos
auf zwei verschiedenen Seilen tanzen, die er jeweils mit einer
Hand hält – und lässt die Requisiten mehrfach ihre Plätze auf den
beiden Seilen tauschen.
  
Polina
Makarova, Quentin Signori, Gustavo und Nerea
Silber vergibt
die Jury für die Handstände der Mexikanerin Polina Makarova,
die besonders mit ihren rhythmisch-dynamischen Arm- und
Beinbewegungen und großer Ausdrucksstärke auffällt. Zum
Bewegungswunder passt natürlich der Sonderpreis der Mongolian
Contortion Association. Auf ihren Auftritt folgt in der
Auswahlvorstellung A direkt im Anschluss Quentin Signori an
den Strapaten. Auch der Franzose erhält Silber sowie Standing
Ovations von Teilen des Publikums, hier in Kombination mit dem
Sonderpreis der Compagnie Altitude. Er beginnt mit Akrobatik
an zwei Strapatenbändern, bis eines nur scheinbar
unabsichtlich zu Boden fällt und er am verbliebenen
weiterarbeitet – mit Posen, Kreiseln und sehr starken,
ausdauernden Schwüngen an einem Arm. Mehr als „nur“ Bronze
(und den Sonderpreis des Cirque Imagine) verdient gehabt
hätten aus unserer Sicht die Spanier Gustavo und Nerea, die mit ihren
starken Flugpassagen in dichter Abfolge am Trapez begeistern.
Die Kostümierung und die Livemusik mit Gesang sorgen für
sinnliche Stimmung.
  
Duo
Ma-MäO Compagnie, Titos Tsai, Duo Gemini
Und auch für das
Duo Ma-MäO Compagnie aus Brasilien wäre vielleicht noch mehr
drin gewesen als Bronze. Drei weitere Sonderpreise (Moulin
Rouge, 7 Doigts de la Main, Annie Fratellini) mögen Beleg
genug dafür sein. Ihre Darbietung vereint Musik – er spielt
Gitarre, sie singt –, Comedy und Hand-auf-Hand- sowie
Wurfakrobatik zu einem äußerst unterhaltsamen Ganzen, das zu
manchem Raunen unterm Chapiteau führt und auch Teile des Publikums
im Stehen applaudieren lässt. Ebenso Bronze und dazu den
Sonderpreis des Cirque du Soleil gibt es für Titos Tsai
(Taiwan), der bis zu vier lange Schwerter über seinen kahl
geschorenen Kopf, den nackten Oberkörper, Rücken und Arme
kreisen lässt und sich dabei um sich selbst dreht – eine
ungewöhnliche, von fernöstlicher Kampfkunst inspirierte und
starke Performance mit ruhiger Klavierbegleitung. Das vierte
Gold geht an das Duo Gemini. Die beiden
Ukrainerinnen rotieren gemeinsam um ihren Flying Pole, äußerst
kraftvoll und doch in tänzerischer Schwerelosigkeit. Begleitet
werden sie von live gespielter, dramatisch-pompöser Musik.
  
Trio
Tête-Bêche, Cie Nicanor de Elia, Duo One Two One
Zwei der
Darbietungen, die zu unseren Favoriten gehören, dürfen sich
letztlich über einen Sonderpreis der Jury freuen, darunter das
deutsch-niederländische Trio Tête-Bêche. Hier erleben wir zwei
Männer im Widerstreit um eine Frau. Hand-auf-Hand und
Handvoltigen sind ihre Ausdrucksmittel. Zum spektakulären
Abschluss stapeln sie sich zum Drei-Personen-Hoch, die
Oberfrau im Handstand. Der mittlere Partner springt heraus,
der Untermann fängt die Partnerin – die letztlich alleine auf
der Bühne steht, von den um sie buhlenden Männern
zurückgelassen. Eine für uns neue Kombination bietet das
ebenfalls mit dem Jury-Preis prämierte Duo One Two One aus
Brasilien. Der männliche Partner startet hoch oben in der
Kuppel mit Akrobatik am Vertikalseil. Bald klinkt sich seine
Partnerin am Ende des Seils für einen Zopfhang ein. Er ist mit
den Beinen im Seil verschlungen und hält es mit den Händen;
sie hält sich daran mit ihrem Zopf und einem Bein – nie
gesehene Figuren. Sehr beeindruckend sind später auch die
Parts, in denen er auf dem Bühnenboden steht und die im
Zopfhang rotierende Partnerin in höchster Geschwindigkeit
ausdreht. Freilich muss man bei einem Festival des
zeitgenössischen Circus nicht alles verstehen. So nutzt das
südamerikanisch-europäische Quintett „Cie Nicanor de Elia“
seine weißen Ringe weniger fürs Jonglieren, sondern verformt
die flexiblen Requisiten lieber zu Tierfiguren, die man sich
auf den Kopf setzt oder „fesselt“ einen der Artistenkollegen
damit. Der Jury ist es einen Innovationspreis Wert – aus
unserer Sicht eine Innovation, die die Welt nicht braucht,
auch nicht die spezielle Welt des Cirque Nouveau.
  
Antoine
Boisserau, Roxana Küwen, Andy Jordan
Immerhin zwei
Sonderpreise (Circusbau Budapest, Bretagne Circus) erhält
Antoine Boisserau aus Frankreich, der an den weißen Seidentüchern einen
Genickhang beherrscht und sich im kreisenden Flug auf- und
abwickelt. Der Mexikaner Agustín Rodríguez Beltrán stellt zu
einschmeichelnder, live gespielter Musik in großer Höhe seine
Kraft und Beweglichkeit an den Strapaten unter Beweis. Dafür
enthält er den Preis der Stadt Paris, ebenso wie die
Deutsch-Iranerin Roxana Küwen. Sie präsentiert eine
interessante Jonglage-Nummer zu Livemusik, bei der sie die
meiste Zeit auf dem Rücken liegt, während sie bis zu fünf
kleine Bälle mit Händen und Füßen jongliert. Einziger weiterer
Solist aus dem deutschsprachigen Raum ist der Österreicher
Andy Jordan, der zu schwungvoller Livemusik mit Ringen
jongliert, dies in klassischer Aufmachung mit
Anzug-Kombination und zunächst auf einem Stuhl sitzend. Im
Stehen schickt er bis zu sieben Ringe nicht nur in die Luft,
sondern lässt sie auch gegen den Boden springen. Er wird mit
dem Sonderpreis des Cirque Phénix belohnt. Bei seinem
Kontorsions-Tanz, ausgezeichnet mit der Trophäe Dragone, hängt
Arthur Cadre (Frankreich) in fast völliger Dunkelheit an einem Seil, knapp
über dem Boden. So werden ansonsten unmögliche Bewegungen
scheinbar möglich.
  
Peng
Chan, FootStyle, Pei Pei
Die weiteren
Teilnehmer gehen vollkommen leer aus und fahren ohne Preis
nach Hause. Am überraschendsten ist das vielleicht beim
taiwanesischen Diabolospieler Peng Chan, der im Programm A als
Pausennummer platziert ist. Zwar lässt er seine Diabolos von
seinen drei Assistentinnen ins Spiel einwerfen, aber immerhin
gelingt es ihm auf diese Weise doch, fünf der Doppelkegel
durch die Luft rotieren zu lassen. Das französische Quartett „FootStyle“
zeigt, welche akrobatischen Kunststücke mit Fußbällen möglich
sind. Die beliebteste Ballsportart in eine Circusdisziplin zu
verwandeln, ist sicher eine spannende Idee, doch letztlich
mangelt es der Darbietung an Stärke. Pei Pei aus China
jongliert auf dem Rücken liegend eine Art Rhönrad mit den
Füßen – dies erfordert offenbar großen Einsatz, ist aber wenig
wirkungsvoll, da sich das Rad nur recht langsam bewegt.
Emmanuel Garcia (Mexiko) arbeitet an einer Kombination aus einem Flying
Pole und einer Seilschlaufe, dies zunächst mit verbundenen
Augen. Der Italiener Carlo Gerato lässt seine filigranen
Origami-Objekte in einer Zeitlupen-Jonglage sachte fliegen.
Ein Flugobjekt im Miniaturformat wird nur durch den Luftzug
eines mit der Hand bewegten Bilderrahmens in der Schwebe
gehalten. Schließlich komplettiert Evgeny Kurkin (USA) mit
seiner klassischen Arbeit am Chinesischen Mast, ebenfalls zu
live gespielter Musik, das Festivalprogramm. Eine Bratschistin
sitzt dabei direkt neben seinem Requisit auf der Bühne und
begleitet ihn. Schlussendlich rutscht er am Mast kopfüber in
die Tiefe und stoppt kurz vor dem Boden. |