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Die allermeisten
Darbietungen dieses Programms wären eine Zierde für nahezu
jedes Circus- oder Varietéprogramm, es wurde sozusagen
markttauglich gecastet. Und so wundert es nicht, dass
jedenfalls gefühlt deutlich mehr Agenten und Direktionen vor
Ort vertreten sind als in früheren Jahren. Das weitläufige
Foyer bietet ihnen viel Gelegenheit für gute Gespräche, das
innen mastenfreie Chapiteau mit seiner riesigen, rechteckigen
Bühne besten Blick auf das Geschehen. Erfreulich viele
Darbietungen lassen sich von der formidablen Livemusik des
neunköpfigen Orchesters unter der Leitung von Francois Morel
begleiten, das Licht ist gewohnt feudal. Für die wortreichen,
eloquenten Moderationen sorgt auch in diesem Jahr der
exzentrisch-barock auftretende Calixte de Nigremont.
Festivalpräsident ist der Gründer und Direktor des Cirque
Phénix, Alain M. Pacherie.
  
Opening
mit Machine du Cirque, Flaggenparade, Gaststars "Les
Acrostiches"
Beiden
Auswahlprogrammen ist das gleiche Opening vorangestellt,
welches die kanadische Formation „Machine du Cirque“
gestaltet. Fünf Untermänner, eine Fliegerin und ein Flieger
demonstrieren starkes Können am Russischen Barren, unter
anderem mit Doppelsalti in verschiedenen Variationen oder
Sprüngen von der Stange zum Drei-Personen-Hoch. Daran schließt
sich jeweils die rasante Flaggenparade des gesamten Ensembles
an, das zu mitreißender Musik durchs Publikum stürmt. Für
verschiedene, zugleich akrobatische wie humorvolle
Zwischenspiele neben den Wettbewerbsnummern sorgt die Truppe
„Les Acrostiches“, die in früheren Jahren zu den
Festivalgewinnern gehörte. In den Auftritten der drei Herren
und einer Dame geht es im wesentlich um humorvoll verkaufte
„Kunstradfahrten“ auf elektrischen Einrädern, wobei hier
Formationen zum Zwei- und sogar Drei-Personen-Hoch gebildet
werden.
  
Grand Prix:
Xie Zongbin und Zhang Jiyai; Gold: X-Board und Hakuna
Matata
Längst setzen
chinesische Artisten nicht mehr nur auf akrobatische
Höchstleistungen, auch auf die Gestaltung ihrer Darbietungen
wird höchster Wert gelegt. Und so reißen Xie Zongbin und Zhang
Jiyai von der Truppe aus Guangzhou das Publikum förmlich von
den Sitzen. Im Tangorhythmus kombinieren sie Partnerakrobatik
und Antipodenspiele. So steht sie mit dem linken Fuß auf
seinem Kopf und streckt das rechte Bein gleichzeitig
kerzengerade in die Höhe, auf dem Fuß einen Teppich kreisen
lassend. Während „Hand auf Hand“ gearbeitet wird, drehen sich
gleichzeitig zwei Teppiche auf ihren Füßen. Eine schön in
Szene gesetzte Spitzenleistung, die mit dem über Gold
stehenden Grand Prix die höchste Auszeichnung erfährt und noch
dazu den Preis des Präsidenten der Republik zugesprochen
bekommt. Eines der weiteren Ausrufezeichen im Festivalprogramm
setzt die sechsköpfige Truppe X-Board aus Dänemark mit zwei
über Kreuz angeordneten Koreanischen Wippen. Diese
Konstellation ermöglicht spektakuläre Sprünge, Pirouetten und
Salti sowie natürlich Positionswechsel und wird von den Herren
in roten Hosen und weißen Hemden äußerst temperamentvoll
verkauft. Im Grunde überraschend klassisch ist die
Rola-Rola-Nummer des Quartetts „Hakuna Matata“ aus Tansania,
angefangen bei den Kostümen im traditionellen Circusstil. Auch
hier spielt das Orchester live, unterstützt von Gesang. „I’m a
survivor“ ist der Titel. Dazu gibt es bärenstarke Tricks. So
wird beispielsweise auf der Rola Kopf-auf-Kopf balanciert,
während gleichzeitig ein dritter Artist im Reifenspringer-Stil
zwischen den Beinen des Untermannes hindurchhechtet.
Eindrucksvoll ist ebenso die Pyramide aller vier Akteure auf
dem wackeligen Untergrund. Für den Schlusstrick kommt ein
Requisit zum Einsatz, das aus einer halbrunden Wippe mit zwei
Leitern links und rechts besteht. Diese steigt einer der
Artisten hinauf, einen Partner Kopf-auf-Kopf tragend. Die
beiden weiteren Kompagnons halten sich außen an den Leitern,
die Füße weit weg vom Boden. Das Publikum applaudiert stehend,
wie auch für die anderen Grand-Prix- und Gold-Gewinner. Als
Zugabe erhalten die vier Männer den Preis des Moulin Rouge.
  
Silber: Danil Lysenlo und Delaney Bayles, Artist des Trios
Fly, Toy Toy Toy
Speziell für den
Cirque de Demain zusammengetan haben sich Jongleur Danil
Lysenko (Ukraine) und seine Genre-Kollegin Delaney Bayles
(USA) – zwei der ganz wenigen Wettbewerbsteilnehmer, die wir
vor dem Festival schon live erlebt hatten, dies dank ihrer
Engagements bei Roncalli bzw. Monti. Beide sind Spitzenkönner
ihres Fachs und vermögen mit einer großen Zahl von
Gegenständen zu jonglieren. Bei ihm steht die Arbeit mit
Ringen im Fokus, bei ihr mit Keulen. Außer anspruchsvollen
Solo-Passagen und parallel ausgeführten Touren haben sich die
beiden auch gemeinsame Aktionen sowohl mit den einen als auch
mit den anderen Requisiten bzw. sogar mit Ringen und Keulen
gleichzeitig erarbeitet. Dafür gibt es Silber. Die beiden
weiteren Preise dieser Kategorie gehen an männliche
Formationen aus Asien, die mit „Kinderspielzeugen“ arbeiten:
Aus Taiwan/China kommt das Trio Fly, das bei seinen tollen
Interaktionen mit Diabolos begeistert. Da wird ein Diabolo
nach einem Salto in der Luft gefangen, da werden gemeinsam
sechs Diabolos auf die Reise geschickt und werden die
Doppelkegel auf sehr langen Schnüren bewegt. Standing Ovations
in der besuchten Auswahlvorstellung und einer der beiden
Publikumspreise runden das Glück der drei jungen Männer ab.
Für Japan sind die zwei Jungs von Toy Toy Toy dabei – in
coolen Outfits mit Shorts, T-Shirt und Sakko, dazu Sneaker mit
Tennissocken. Sicher und schnell lassen beide jeweils zwei
Jo-Jos auf komplizierten Bahnen fliegen, begleitet von
Livemusik. Auch sie müssen die Bühne nicht ohne Standing
Ovations verlassen.
  
Bronze: Micaela und Matias, Nicolas Teusa, Franco
Pelizzari del Valle
Auch Bronze wird
drei Mal vergeben. Absolut spektakulär wirkt die
Fangstuhlnummer von Fliegerin Micaela und Fänger Matias aus
Argentinen/Österreich und Chile/Kroatien. Die starken
Flugpassagen mit Pirouetten, Hand-Fuß-Wechseln und zahlreichen
komplizierten Salti beeindrucken ebenso wie ein
Kopfüber-Sprung in die Tiefe, bei dem die Partnerin an den
Füßen gefangen wird. Der Eindruck wird auch von zwei Stürzen
in der Auswahlvorstellung nicht geschmälert. Die Darbietung
von Nicolas Teusa (Kolumbien) gehört zu den spannendsten des
Festivals. Er präsentiert das Genre Reifenspringen, das vor
allem von Truppendarbietungen bekannt ist, im Solo. Bei seinen
teils hohen Sprüngen durch und über den Ring, der schaukelnd
und sich drehend über der Bühne hängt, wird er von Livemusik
und Gesang im spanischen Stil begleitet. Er darf sich zudem
über den Prix Blackz de L‘Innovation Technique sowie die
Trophäe des Cirque du Soleil freuen. Für richtig gute Laune
sorgt Franco Pelizzari del Valle (Argentininen) mit seinem „Acro-Théâtre“.
Bei seiner witzig gestalteten Nummer zwängt er seinen Körper
unter anderem im Klischnigg-Stil durch die Öffnung zwischen
Sitzfläche und Lehne eines einfachen Klappstuhls. Auch bei
weiteren artistischen Kabinettstückchen beweist der junge Mann
mit blond gefärbter Wuschelfrisur und dickem, gelbem
Rollkragenpullover hohe Beweglichkeit. Eine weitere Ehrung
widerfährt ihm mit der Trophäe Annie Fratellini.
  
Spezialpreise der Jury: Malou Latrompette (und Partnerin
Alizé Poitreau), Cata und Jay, Agathe und Adrien
Neben dem Grand
Prix und Edelmetall werden gleich drei Darbietungen mit einem
Spezialpreis der Jury ausgezeichnet. Ihr Können an zwei mit
deutlichem Abstand nebeneinander hängenden Schwungtrapezen
demonstrieren Malou Latrompette und Alizé Poitreau aus
Frankreich. Es ist ein spektakuläres Bild, wie die zwei jungen
Frauen hoch oben Sprünge, Salti und Pirouetten wagen – aber
naturgemäß mehr ein Neben- als ein Miteinander. Dank des Prix
des Club du Cirque und der Trophäe des Cirque Raluy Legacy
dürfen sich die beiden Artistinnen über insgesamt zwei Preise
freuen. Für gute Laune sorgt das Duo Cata und Jay (Brasilien)
auf dem Einrad. Im ersten Teil ihrer Darbietung wird auf Musik
ganz verzichtet, später gibt es doch welche – live gespielt
und mit Gesang. Mit Augenzwinkern wird eine vermeintliche
„Ungeschicklichkeit“ zur Schau gestellt. Wenn sie auf seinem
Kopf sitzt, während er auf dem Einrad fährt und dann nach
einem gespielten Sturz in seinen Armen gefangen wird oder wenn
sie später im freien Stand auf seinem Kopf balanciert, dann
wird doch deutlich, dass hier großes Können erforderlich ist.
Den Preis des Cirque Imagine gibt es noch als Zugabe. Einen
bemerkenswerten Erfolg bei diesem Festival erzielen Agathe und
Adrien aus Kanada und Frankreich mit ihrer
Hand-auf-Hand-Nummer, denn neben dem Spezialpreis der Jury
erreichen sie einen der beiden Publikumspreise und den Preis
der Stadt Paris. Ihre Hand-auf-Hand Nummer ist humorvoll und
sympathisch gestaltet, einige Male übernimmt Agathe die
tragende Rolle. Beispielsweise, wenn Adrien auf ihrem Kopf
sitzt oder darauf steht. Auch einige Tricks aus dem Genre der
ikarischen Spiele werden geboten, wobei Adrien nicht auf einer
Trinka, sondern direkt auf dem Bühnenboden liegt und seine
Partnerin mit den Füßen durch die Luft wirbelt.
  
Sonderpreise: Ess Hödlmoser, David Trappes und Skip
Walker-Milne, Marceau Bidal
Zu den
ungewöhnlichsten Darbietungen des Festivals gehört sicher die
von Ess Hödlmoser (Kanada) – eine Reminiszenz an den
Travestiekünstler Barbette, der zu Anfang des 20. Jahrhunderts
große Erfolge feierte. Hödlmoser erscheint zunächst in einem
weiten, an ein Brautkleid erinnernden Reifrock, schwingt sich
damit an den Strapaten in die Luft. Erst gegen Ende der Arbeit
wird klar, dass es sich hier nicht um eine Dame, sondern um
einen muskulösen Mann handelt, der am Ende mit freiem
Oberkörper dasteht. Die Nummer wurde mit dem Preis des Cirque
Phenix und dem Prix de la Barrierè geehrt. Einen weiteren
Preis des Cirque Phenix erhalten David Trappes und Skip
Walker-Milne. Der baumstammgroße David Trappes und sein
deutlich kleinerer Partner Skip Walker-Milne widmen sich einem
selten gezeigten Genre, der hohen Perche, das hier auf
originelle Weise eingesetzt wird. Denn während Trappes die
Stange auf seiner Schulter trägt, zeigt Walker-Milane daran
ein Repertoire, wie man es von Darbietungen am Chinesischen
Mast kennt. Das gilt beispielsweise, wenn er sich wie eine
Flagge horizontal von der Stange abdrückt oder kopfüber daran
hinuntersaust. 2023 waren beide mit dem Circus Monti auf Tour.
Neben Sonderpreisen werden noch „Trophäen“ vergeben. Über zwei
von ihnen, die Trophäe Dragone und die Trophäe des African
Dream Circus darf sich Marceau Bidal (Frankreich) freuen.
Seine Arbeit an den Strapaten hat er in eine Geschichte
gekleidet. Sie zeigt ihn zunächst als grübelnden
Schriftsteller am Schreibtisch, zum Ende seiner Darbietung
dann in einem Sturm der Manuskriptblätter. Dazwischen gibt es
kraftvolle Posen, Schwünge und Überschläge zu bewundern.
   
Weitere Teilnehmer: Maksym Vakhnytskyi, Sergiy und Vlad,
Chen Tao, David Yemishian
Leer geht der
Ukrainer Maksym Vakhnytskyi aus, der zunächst mit einer
Gasmaske auftritt, die am Ende seines Vertikalseils befestigt
ist. Sein Metier sind interessante Pirouetten und Figuren
entlang des Seils, bis hin zum Vorwärtssalto das Seil
hinunter. Landsmänner von ihm sind Sergiy und Vlad mit ihrer
etwas kurzen Arbeit am doppelten Flyhing Pole, die von live
gespielter Musik und Gesang begleitet wird. Mal arbeiten die
Herren mit den freien Oberkörpern jeder an einer Polestange,
mal teilen sie sich eine. Wie die Grand-Prix-Preisträger mit
ihrem akrobatischen Tango kommt auch Chen Tao von der Truppe
von Guangzhou, muss die weite Heimreise nach China jedoch ohne
Preis antreten. Er hat eine Cyrrad-Nummer mitgebracht, bei dem
er im Stil eines asiatischen Kampfsportlers mit Drehungen und
Wendungen über die Spielfläche rotiert. Der ukrainische
Jongleur David Yemishian will nicht nur neun Ringe sicher in
der Luft halten, sondern sogar fünf Ringe und fünf Bälle
gleichzeitig jonglieren, wobei ihm sein Schlusstrick in der
besuchten Auswahlvorstellung auch im dritten Anlauf nicht
gelingt. |