CHPITEAU.DE

European Youth Circus 2014
Bericht ; Preisträger ; 95 Showfotos Preisträgergala

Wiesbaden, 16.-19. Oktober 2014: „Wer schon den Vornamen des größten Jongleurs aller Zeiten trägt…“ – mehr Worte brauchte Tigerpalast-Chef und Jurysprecher Johnny Klinke gar nicht über den Gewinner des diesjährigen European Youth Circus in Wiesbaden sagen. Längst war allen Zuschauern klar, wer hier gemeint ist: Enrico Annaev, 23-jähriger Bouncing-Jongleur aus Russland, konnte die Gunst der Jury und damit den Hauptpreis des Festivals für sich gewinnen. Als braver Büro-Nerd zweckentfremdet er die Einrichtung kurzerhand in kreativer Weise für seine Bodenjonglage.

Dabei hält er variantenreich bis zu sieben Bälle in Bewegung und wartet noch dazu mit Ausstrahlung und starker Bühnenpräsenz auf. Somit vereint er alle Wertungskriterien des Festivals vorzüglich. Annaev setzt damit seine Erfolgsgeschichte weiter fort: 2011 gehörte er mit seiner Darbietung „Office Time“ beim SolyCirco auf Sylt zu den Preisträgern, ein Jahr später folgte eine Prämierung beim Young Stage in Basel. Im Februar errang er den Bronze Junior in Monte Carlo, nun also Gold in Wiesbaden.

 
Bronze, Siber, Gold bei den Älteren: Viktoria Gnatiuk, Lucas Bergandi, Enrico Annaev

Auch Lucas Bergandi hat bereits Festival-Erfahrung. In Basel und beim Cirque de Demain in Paris gab es im Frühjahr Sonderpreise für den 23-jährigen Franzosen, jetzt zeichnete ihn die Jury für seine Balancen und Sprünge auf dem Drahtseil – unter anderem Vorwärts- und Rückwärtssalto – mit Silber aus. Bergandi erhielt zudem den Preis „Varieté der Zukunft“, verbunden mit einem Engagement im Tigerpalast Frankfurt. Bronze und der Preis der Grimailo Studios gingen an die 22-jährige Viktoria Gnatiuk aus der Ukraine. Im Handstand, meist dazu einarmig, stapelt sie bunte Klötzchen übereinander und gibt so ihrer Darbietung eine spielerische Note. Sie hat diese an der renommierten Zirkus-Schule in Kiew erarbeitet und auch schon in den GOP Varieté-Theatern präsentiert.

 
Preisträger bei den Jüngeren: Vioris Zoppis (Silber), Trio "Cats" (Bronze), Anton Mikheev (Gold) 

Der European Youth Circus bewies aber auch und vor allem ziemlich beeindruckend, dass guter Nachwuchs heute nicht zwingend aus modernen Artistik-Schulen kommen muss. Denn neben Enrico Annaev stammen auch der Gold- sowie der Silber-Gewinner in der Wertungsgruppe der 12- bis 17-Jährigen aus Zirkusdynastien. Der 15-jährige Anton Mikheev aus Russland kombinierte schwierigste Tricks an den Strapaten mit einem Ball, den er zumeist auf seiner Fingerspitze rotieren lies. Vioris Zoppis, der neben Silber auch den Preis der Gesellschaft der Circusfreunde e.V. entgegen nehmen konnte, glänzte ebenfalls mit Leistung an den Strapaten und viel italienischem Charme. Mit 13 Jahren gehörte er zu den jüngsten Teilnehmern. Jünger war nur die Ukrainerin Olga Kamyshanska, nämlich zwölf Jahre, die mit ihren Partnerinnen Anastasiia Slipchenko und Yuliia Zuluska, beide 17 Jahre alt, zu Melodien des Musicals „Cats“ perfekt choreografierte, im Leistungssport erprobte Partnerakrobatik und Handvoltigen präsentierte. Für sie gab es Bronze bei den Jüngeren.

 
Circus Helsinki, Cap Crew 

Auch das Publikum durfte wieder ihren Favoriten wählen und den „Preis der Herzen“ vergeben. In der Gunst der Zuschauer vorne war dabei das Duo CapCrew aus Ungarn. Im coolen Street-Look überzeugten Gábor Lövei (17) und Zoltán Mikó (18) mit Sprüngen bis zum dreifachen Salto auf dem Schleuderbrett. Sie wurden professionell an der Budapester Circusschule Imre Baross ausgebildet; anders hingegen die neun Mitglieder des Circus Helsinki, einer Amateur-Kinder-Gruppe aus Finnland, die dennoch mit viel Witz und ansprechenden Sprüngen ebenfalls am Schleuderbrett zu gefallen wusste. Für sie gab es einen Spezialpreis der Jury. Ebenfalls aus dem Bereich der Kinder- und Jugendzirkusse bzw. Schul-AGs stammt der 13-jährige Justin Elbel aus Deutschland mit seinen Diabolos, der wie Circus Helsinki zuletzt bereits am Waldoni Circus Festival teilgenommen hat.


Solvejg Weyeneth

Die Wiesbadener Jury – in der neben Johnny Klinke diesmal die Artistin und Agentin Aurelia Cats (Frankreich), die EYC-Gewinnerin Julia Jahnke (Duo Elja, Deutschland), ECA-Beraterin Zsuzsanna Mata (Ungarn), Fachjournalistin Liz Arratoon (England), Jongleur Kristian Kristof (Ungarn) und Starlight-Direktor Heinrich Gasser (Schweiz) saßen – ist immer wieder für Überraschungen gut. Dies zeigte sich heuer anhand der zweiten Diabolo-Darbietung im Wettbewerb. Neben klassischen Tricks mit dem Diabolo hat die 24-jährige Schweizerin Solvejg Weyeneth zwei horizontale Stricke durch die Manege errichtet, auf dem sie ihr Requisit immer wieder laufen ließ, es zum Springen brachte oder das Diabolo effektvoll dagegen schleuderte, um es anschließend wieder aufzufangen. Mit Sicherheit die originellste Darbietung des Festivals! Für viele war sie nach den Auswahlvorstellungen ein klarer Anwärter auf einen der Hauptpreise, doch es reichte nicht. Leer ging sie dennoch nicht aus, der Verband Deutscher Varietétheater übereichte ihr den Ehrenpreis. Weyeneth studierte an der Zirkus-Akademie in Tilburg in den Niederlanden, die in letzten Jahren viele spannende und hochkarätige Darbietungen hervorgebracht hat. Auch das Akrobatik-Duo Non de Non, Thibaud Thevenet (23) und Flora Lacornerie (23), und die 23-jährige Trapez-Artistin Melusine Lavinet haben in Tilburg studiert, stammen aber aus Frankreich. Zusammen mit Weyeneth und weiteren Studenten haben sie „B-Side Company“ gegründet, mit der sie mit eigenen Shows bei Festivals und Outdoor-Veranstaltungen spielen.

 
Viktória Csordás, Santé Furtunato

Viktória Csórdas hat den Umgang mit dem Sprungseil nahezu zur Perfektion gebracht und verblüfft ob der zahlreichen Verwendungsmöglichkeiten. Für die temporeich ohne Pausen und mit einem sympathischen Lächeln garnierte Darbietung gab es den Preis der Schweizer Circus-, Varieté- und Artistenfreunde für die 25-jährige Ungarin. Auf ein Engagement im Varieté Neues Theater Höchst darf sich die Portugiesin Santé Fortunato (25) freuen, die Hula Hoop und Kontorsion in einer sehr eleganten Vorführung kombinierte. Wilder und mit (zu) vielen Tanzelementen präsentierte die 16-jährige Tatiana Samoilova aus Russland die zweite, doch recht klassische Hula Hoop-Nummer im Wettbewerb.

 
Pavel Stankevych, Beau Sargent, Charlie Wheeler 

Einer der bekanntesten Teilnehmer des Festivals war der 23-jährige Pavel Stankevych aus der Ukraine, der beispielsweise bereits in Paris zu den Preisträgern gehörte. Hier erhielt er den Preis der Wiesbadener Kirchen für seine kraftstrotzenden Handstände. Er gehört ebenso zum Ensemble „Raw Art“ wie Kateryna Nikiforova. Die 24-jährige Ukrainerin jongliert mit Bällen auf dem Boden, während sie sich dabei auf Inline Skates bewegt. Interessant, dass mit den beiden „Raw Art“-Nummern zwei Vertreter einer sehr modernen Ausrichtung auf Live-Musik der großartigen, sieben Mann starken Band setzten, während ansonsten wieder viele der jungen Akteure Musik von CD nutzten. Schade, denn die Musiker hätte man gerne noch öfter gehört. Das Cyrrad ist eines der gefragtesten Requisiten der letzten Jahre beim internationalen Artisten-Nachwuchs. Charlie Wheeler (22) aus England stellte seine leistungsstarke Interpretation vor und bekam dafür den Preis des Wiesbadener Kuriers. Auch der Preis der European Circus Association ging nach England, an den 20-jährigen Beau Sargent für seine Luftakrobatik im Netz.

 
Max Loos, Pavel Evsukevich, Lea Hinz 

Klassisch mit Ringen und Bällen jongliert Pavel Evsukevich. Hätte nicht die Nervosität bei dem 24-jährigen Weißrussen so sehr mitgespielt, auch er wäre ein Kandidat für die Preise gewesen. Die Lost Souls - Andrii Kalashnyk (25), Dmytro Bilogubets (24), Oleksander Orlov (24) und Bogdan Kalashnyk (20) - präsentieren starke Figuren der Partnerakrobatik und Handvoltigen, ähneln dabei aber zu deutlich vergleichbaren Gruppen. Die 13-jährige Russin Irina Novikova bot bereits jetzt ein beachtliches Repertoire auf dem Schlappseil, dennoch kam das Festival für sie noch zu früh. Drei deutsche Darbietungen rundeten die Auswahlvorstellungen ab: Die 25-jährige Lea Hinz überzeugte am Luftring mit schönen Tricks und guter Ausstrahlung, während Isabelle Schuster (24) in ihrer Tücher-Darbietung die Zeit thematisierte und es aus der Kuppel Sand regnen ließ. Ihr männlicher Kollege Max Loos (22) rockte zu Elvis-Musik am chinesischen Mast mit starken Posen und Abfallern.


Jury, Moderatorin Natascha Berg, Preisverleihung

Die Moderation lag erneut in den Händen von Natascha Berg. Sie stellte die einzelnen Akteure vor, während gleichzeitig auf dem Artisteneingang vorproduzierte Videosequenzen der Artisten zu sehen waren. Für die Regie war wie schon 2012 Sebastiano Toma mit seiner Assistentin Pegah Ghalambor verantwortlich; beim gemeinsamen Opening, in der Pauseneinleitung und im Finale agierten die Akteure zu tollen, stets passenden Choreografien von Sonia Bartuccelli, etwa zu Geräuschen eines Schiffwerkes. Die Zeltanlagen stellte wieder Sarrasani.

________________________________________________________________________
Text: Benedikt Ricken; Fotos: Tobias Erber (20), Alexander Leumann (3)