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European Youth Circus 2016
Bericht ; Preisträger ; 181 Showfotos

Wiesbaden, 13.-16. Oktober 2016: Dieses Wochenende macht Mut. Der artistische Nachwuchs steht voller Motivation in den Startlöchern, um die Manegen und Bühnen dieser Welt zu erobern. Dabei zeigt der European Youth Circus 2016 die gesamte Bandbreite auf. Der Schwerpunkt liegt nach wie vor auf durchgestylten Nummern der diversen Artistenschulen. Sie eignen sich vor allen Dingen für die immer zahlreicher werdenden Varieté-Theater. Hinzu kommen Darbietungen, die sofort in jedes Programm eines klassischen Circus integriert werden könnten.

Bei einigen davon kann man den Konjunktiv weglassen. Sie haben bereits erfolgreich den Sprung in die Manegen der großen Unternehmen geschafft. Auch das macht den besonderen Charme aus. In Wiesbaden treffen jugendliche „Routiniers“ auf Artisten, deren Karrieren hier gestartet werden sollen. Nichtsdestotrotz sind alle Nummern „fertig“ und auf einem beeindruckenden Niveau. Das ist nicht zuletzt deshalb wichtig, da ein solches Festival natürlich immer die Gelegenheit ist, sich der Fachwelt zu präsentieren und das ein oder andere Engagement zu vereinbaren.


Jury und Moderatorin Natascha Berg

Trotz des weitgehend parallel stattfindenden Festivals im italienischen Latina sind viele potentielle Arbeitgeber unter dem roten Sarrasani-Chapiteau auf dem Dern'schen Gelände unterwegs. Insbesondere in der Jury sitzen mit Johnny Klinke (Tigerpalast) und Heinrich Gasser (Cirque Starlight) zwei Direktoren. Hinzu kommen Aurelia Cats (Luftartistin sowie Managerin einer Produktions- und Talentagentur), Liz Arratoon (Circuskorrespondentin), Oleg Izossimov (Handstandartist), Teresa Ricou (Artistin und Förderin von Jugendarbeit über Circus) und EYC-Gewinnerin Lisa Rinne (Trapez). Weitere Auftrittsmöglichkeiten bieten die mit einem Engagement verbundenen Preise. Etwa der des Neuen Theaters Höchst.


Opening

Bei allem wirtschaftlichen Hintergrund darf natürlich der Spaß, gerade bei dieser besonders unterhaltsamen Form der Arbeit, nicht zu kurz kommen. Und diese Freude an ihrem (zukünftigen) Beruf dürfen die Akteure nicht nur in ihren eigentlichen Darbietungen verbreiten, sondern auch in den Ensembleszenen. Jeweils zu Beginn der Shows, vor der Pause und zum Finale wird getanzt. Mal Solo, mal paarweise, dann wieder in der ganzen Gruppe. Immer sehr stimmungsvoll, meistens mitreißend. Die von Sebstiano Toma (Regie) und Sonia Bartucelli (Choreographie) gestalteten Abläufe transportieren eine positive Energie ins Publikum, die einfach ansteckt. Beim Finale dürfen die Zuschauer dann sogar in der Manege gemeinsam mit den Artisten tanzen. Gradin und Manege finden auch physisch zusammen. Natascha Berg ist wiederum die Idealbesetzung für die Moderation. Das perfekt aussehende Multitalent führt charmant durch den Wettbewerb. Sie redet nie zu lang. Daher und dank der flotten Umbauten haben die Shows ein hohes Tempo. Vor und nach den eigentlichen Nummern darf sich das hervorragende Orchester präsentieren. Das siebenköpfige Ensemble spielt wunderbare Musik, dennoch verlassen sich die meisten Artisten lieber auf vorproduzierte Sounds. Noch zu erwähnen ist der Artisteneingang, auf den bewegte, gezeichnete Bilder projiziert werden. Der optische Effekt ist beeindruckend.


Michael Ferreri, Emma Laule, Anastasiia Mazur

Kommen wir jetzt aber zu denen, um die es beim European Youth Circus geht: die Artisten. Strahlender Sieger des Festivals ist Michael Ferreri. Er verkörpert auf phänomenale Weise das, was die Jury immer wieder sucht. Die Verbindung aus hohem artistischen Können und Persönlichkeit. Mit sehr viel Ausstrahlung jongliert der Deutsch-Spanier bis zu neun weiße Bälle. Er ist schon jetzt ein großartiger Showman mit reichlich Erfahrung. So setzt er sich gegen Darbietungen durch, die ausgefeilt choreographiert sind, eine Botschaft verkörpern wollen. Michael Ferreri jongliert einfach (auf höchstem Niveau) und versprüht den Spaß, den er dabei hat. Der zweite Preis in der Altersgruppe von 18 bis 25 Jahren geht an Emma Laule. Die gebürtige Berlinerin machte die ersten circensischen Schritte in ihrer Heimatstadt. Dann studierte sie vier Jahre lang an der Academy for Circus and Performance Art in Tilburg. Dort entstand ihre Nummer „It's Ours“. Zu Klaviermusik zeigt sie eine herrliche Kür am Vertikalseil mit vielen Abfallern. Der dritte Preis in dieser Kategorie wird gleich zweimal vergeben. Anastasiia Mazur tritt, wie Emma Laule, zu Klaviermusik auf. Die Russin hat einen extrem biegsamen Körper. So bezaubert sie mit einer anspruchsvollen Kontorsions-Nummer, die aktuell bei Flic Flac zu sehen ist. Alena Ershova kann ihren Körper ebenfalls auf außergewöhnliche Weise verbiegen. Das tut die introvertiert auftretende Russin bevorzugt im Handstand. Als Clou hält sie dabei mit den Füßen ihre Hula Hoop-Reifen in Bewegung.


High 5, Steven Ferreri, Andrea Matousek

Den ersten Preis in der Altersgruppe von zwölf bis 17 Jahren holen sich fünf junge Artisten aus Ungarn. Als High 5 wirbeln sie über das Trampolin. Die Musik aus „Men in black“ gibt Outfits, Choreographie und Tempo vor. Die vier Jungs und ihre Komplizin bringen ein enormes Tempo und gewagte Sprünge auf den federnden Untergrund. Besonderheit ihres Apparats sind eine Plattform für die Absprünge sowie der Fangstuhl auf der gegenüberliegenden Seite, an dem ein Fänger die Dame sowie die Herren in schwarz in Empfang nimmt. Zudem gewinnt das Quintett den Publikumspreis. Auf dem zweiten Platz dann Steven Ferreri, der jüngere Bruder von Michael. Wie Vater Miguel hat er sich dem Seiltanz verschrieben. Seine Nummer erlebte vor kurzem mit einigen Auftritten beim dänischen Cirkus Trapeze ihre Weltpremiere. Zu spanischer Musik zeigt Steven Ferreri ein umfangreiches Repertoire. Höhepunkt ist der Rückwärtssalto. In der ersten Show in Wiesbaden steht er ihn in zwei Versuchen nicht, bei der zweiten Show dafür gleich im ersten Anlauf. Die Freude darüber steht ihm ins Gesicht geschrieben. In der Gala der Preisträger gelingt ihm dieser Trick erneut. Der dritte Preis geht in die Schweiz. Andrea Matousek hat das selten zu sehende Tanztrapez für sich entdeckt. Es ist frei drehend aufgehängt. Seit drei Jahren studiert sie an der Staatlichen Artistenschule in Berlin. Hier hat sie sich eine fließende Kür am Trapez erarbeitet, die sie ungeheuer sympathisch vorführt. Die quirlige Artistin zeigt dabei eine beeindruckende Körperbeherrschung.


Kalle Pikkuharju, Monalaura, Duo Sienna

Die beiden Sonderpreise der Jury gehen an Kalle Pikkuharju und die Formation von der Sakiai Circus School. Der Finne verfügt über eine unglaubliche Biegsamkeit seines Körpers. Und so erleben wir ihn in der Disziplin der Kontorsion, die zumeist von Frauen beherrscht wird. Pikkuharju zeigt eine ruhige Abfolge schwierigster Tricks, die er sehr ansprechend serviert. Die Gruppe aus Litauen ist vielleicht die größte Überraschung des Festivals, arbeitet sie doch in folkloristischer Aufmachung. Schon dadurch sticht sie aus dem Teilnehmerfeld heraus. Die elf Akteure vollführen Seilspringen so variantenreich, wie man es sich nur vorstellen kann und überzeugen damit auf ganzer Linie. In diesem Jahr schlossen Simona Tesch und Laura Borkowski die Staatliche Artistenschule in Berlin ab. In Wiesbaden gehören die beiden Hamburgerinnen als Duo Monalaura zu den Preisträgerinnen. Ihre Choreographie an Tüchern hält neben traumhaften Bildern auch artistische Leckerbissen bereit. Auf ein Engagement im Neuen Theater Höchst freuen dürfen sich Sina Brunner und Vienna Holz freuen. Sie haben ihren Künstlernamen ebenfalls aus den Vornamen gebildet. Ebenso sind sie Absolventinnen der Berliner Artistenschule. Ihre Akrobatik am Masten nennt das Duo Sienna „Evolution“. Sinnlich spielen sie miteinander, zeigen anspruchsvolle Figuren und kreieren so wunderschöne, neuartige Sequenzen. Aus der russischen Stadt Perm kommen die Akrobatinnen vom Circus Grazie. In neonfarbigen Kostümen bringen sie spannende, quicklebendige Figuren in die Manege, die ebenfalls hohes artistisches Können verraten. Zumeist ist das Sextett dabei auf den Händen unterwegs. Den Reigen der Preisträger komplettiert Stepan Melnyk. Zu Rockmusik arbeitet der Ukrainer eine kraftvolle Darbietung an den Strapaten. Darin hat der wiederholte Teilnehmer des Europaen Youth Circus viele Drehungen eingebaut.


Annika und Iitu, Darya Bashkova, Tobias Baesch

Mit der Auswahl der Gewinner haben die Jury und die Stifter der Preis insgesamt eine gute Wahl getroffen. Über einzelne Entscheidungen kann man natürlich immer streiten. Und so finden sich im weiteren Wettbewerbsfeld noch etliche sehenswerte Beiträge. Annika und Iitu aus Finnland etwa, die am Trapez in fröhlicher Aufmachung starke Tricks, wie etwa riskante Handvoltigen, präsentieren. Oder der französische Jongleur Antoine Jacot. Innovativ arbeitet er nur mit weißen Keulen, an denen er teilweise weiße Bänder befestigt hat. Sein Auftritt ist dramatisch inszeniert, seine Touren zeugen von großem Geschick. Zu folkloristischem Synthi-Pop balanciert Darya Bashkova auf vielen übereinander gestapelten Rollen. Was ihre ohnehin schon starke Artistik auf der Rola Rola zu etwas ganz Besonderem macht, ist die Verknüpfung mit Hula Hoop-Akrobatik. Eine gänzlich anders gelagerte Arbeit auf der Rola Rola hat sich Tobias Baesch aufgebaut. Der 23-jährige Deutsche spielte offensichtlich als Kind gerne mit Bauklötzen. Noch immer stapelt er große weiße Würfel, um auf ihnen sowie Walzen zu balancieren. Dies tut er bevorzugt im Handstand.


Evgeny Slepukhin, Emma Stones, Scott Bovelander

Als Schlafwandler auf dem Schlappseil erleben wir Evgeny Slepukhin. Behutsam zeigt er seine Tricks wie den Handstand auf dem Seil. Spektakulär ist das Finale, in dem er mit Hilfe von vier Seilen immer wieder um die eigene Achse rotiert. Emma Stones ist eine der wenigen Teilnehmerinnen, die das Angebot an Livemusik nutzt. Zu wunderbaren Klängen von einer Gitarre lässt sie das Publikum bei ihren gewagten Sprüngen am Schwungtrapez mitfiebern. Der eingebaute Flirt mit ihrem Longenführer zeigt, dass sie gut abgesichert ist. Sofort in jedes Circus- oder Varietéprogramm zu integrieren wären die Bouncing-Jonglagen von Scott Bovelander. Der Niederländer tritt in klassischer Manier auf und hat sogar eine Assistentin an seiner Seite. Für ihn spricht zudem sein sympathisch-extrovertierter Verkauf. Kurzfristig ins Programm genommen wurde das Duo Minja. Obwohl aus Finnland, zelebrieren Pinja Seppälä und Milla Peijari ihre Partnerakrobatik zu spanischen Rhythmen. Rund um eine Kiste arbeiten sie bekannte, vor allen Dingen aber neuartige Figuren, bei denen sie Handstandakrobatik und Kontorsion verschmelzen lassen. Eine nette Choreographie und letztendlich etwas wenig Akrobatik bringt das männliche Trio vom Darmstädter Circus Waldoni mit nach Wiesbaden. Sprungakrobatik und eben Tanz sind die Hauptelemente ihres Beitrags.

Insgesamt nehmen wir viele spannende Eindrücke mit von diesem European Youth Circus 2016. Hier wurde wieder die gesamte Palette der artistischen Präsentationsformen aufgezeigt, ja gefeiert. Es hat riesig Spaß gemacht, den motivierten jugendlichen Stars der Manegen zuzuschauen, mit ihnen zu fiebern. Bei diesen Artisten muss einem um den Nachwuchs nicht bange sein. Viele von ihnen werden wir sicher bald wieder sehen. In den Varietés und Circussen dieser Welt. Wir freuen uns drauf, ihren weiteren Weg beobachten zu dürfen.

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Text und Fotos: Stefan Gierisch