Das ist wohl
Ausdruck von Eradzes Bestrebungen, auf dem westeuropäischen
Circusmarkt weiter Fuß zu fassen. Obwohl er sowohl Regie führt
als auch den Mitveranstalter Rosgoscirc vertritt, nehmen seine
Nummern mitnichten außer Konkurrenz teil. Vielmehr werden sie
von der international besetzten Jury unter dem Vorsitz von
Mirella Iuliano mit einem neuen, über Gold stehenden „Platinum
Grand Prix“ ausgezeichnet. Das kann man entweder grotesk oder
geradezu genial finden. Denn auf diese Weise kann Eradze sich
als Hauptgewinner fühlen, ohne dass die Vergabe der
klassischen Gold-, Silber- und Bronze-Preise davon beeinflusst
wird. Eine irgendwie salomonische Lösung. Bei seiner Nummer „The
Veda“ steht ein männliches Quartett um Semen Marayshin mit
Flügen am kreisrunden Reck im Mittelpunkt. Über ihnen schwebt
eine Antipodistin auf einer Plattform, und in der Manege
tanzen dazu die hübschen Ballettmädchen mit
Blumenkränzen-Hüten – quasi ein „Drei-Manegen-Schauspiel“ in
einen Roten Ring komprimiert. „Goldfish“ ist Eradze-Act Nummer
zwei tituliert. Über einer Waterbowl schwebt ein Segelschiff.
Daran zeigen Polina Rusinova und ihre Partnerin Netzakrobatik.
Wenn das Schiff Richtung Boden schwebt, tauchen sie
zwischendurch immer wieder für akrobatische Übungen ins Wasser
ein. Das riesige Schiffsrequisit und die fantasievoll
kostümierten „Meeresbewohner“, welche die Manege bevölkern,
lenken mit so viel Schauwert ab, dass die Akrobatik zur
Nebensache wird. Erst nach Minuten kommt mir in den Sinn,
überhaupt darauf zu achten.
"Goldfish" und "The
Veda" von Gia Eradze
Mein
Eradze-Favorit ist die Fasttrack-Trampolin-Nummer „Flags“. Mit
ihr wird das multikulturelle Leben im Circus gefeiert. Die
Akrobaten um Andrey Demyanenko und ihre Partnerin tragen
Kostüme, auf denen jeweils die Flaggen mehreren Staaten zu
sehen sind – und darüber Capes mit den Logos von Festivals,
bei denen Eradze bereits vertreten war. Mitreißende Musik,
zahlreiche Ballettgirls und viele Sprünge und Salti machen das
Vergnügen perfekt. Während Eradze sich über Platin freuen
darf, muss auch sonst keiner leer ausgehen, denn
auch bei diesem Festival übersteigt bereits die Zahl der
Sonderpreise die Zahl der Wettbewerbsbeiträge. Langjährige
Besucher sind übereinstimmend der Meinung, dass dieses Latina-Programm das schwächste seit vielen Ausgaben ist.
Offenbar mussten die Veranstalter im Vorfeld die Absage
mehrerer geplanter Großattraktionen verkraften und kurzfristig
umplanen. Das schlägt sich letztlich auch in der Preisvergabe
nieder, bei der sich die Jury diesmal auf ein einziges „Gold“
beschränkt.
Marcello und
Mario Spindler, Zhang Fan, Truppe Gerlings
Dieses geht an
Zhang Fan. Sein Können auf dem Schlappseil – mit
Kopfüber-Fahrt auf dem Einrad oder Balancen auf dem bedrohlich
weit schwingenden Seil – ist unerreicht. Ganz außergewöhnlich
für einen chinesischen Künstler ist der offensive, mitreißende
Verkauf. In der Kombination ist die Nummer Gold-würdig,
freilich eher in der Kategorie „Lebenswerk“ denn „spannender
Newcomer“. Silber ist der Lohn für die Jockeyreiterei der
Familie Spindler. Die neunköpfige
Truppe mit Marcello, Marlon, Alessandro, Mario jun., James und
Chiara Spindler sowie Jastin Renz, Marlen Weisheit und Sarah
Sperlich könnte zwar an der Leichtigkeit der Präsentation und
der Ausstrahlung noch arbeiten. Dafür wagen die jungen
Artisten sich erfolgreich an Höchstschwierigkeiten wie einen
Rückwärtssalto mit Schraube aus dem Zwei-Mann hoch oder den
Flic Flac mit direkt anschließendem Rückwärtssalto – jeweils
von Pferd zu Pferd. Gerechtfertigt ist auch der Silberne Preis für
die Truppe Gerlings (Kolumbien) auf dem Hochseil. Douglas
Gerling hat unter seinem Namen schon einige Formationen an den
Start geschickt. Diese dürfte eine der am sichersten
agierenden sein. Zu den Highlights im Repertoire gehören die
Pyramide mit drei Fahrrädern und natürlich die große
Sieben-Personen-Pyramide.
Duo Cabaret, Deadly Games,
Mariia Shevchenko
„Deadly Games“
ist der treffende Titel für eine der spektakulärsten
Messerwurf- und Kunstschützennummern unserer Zeit. Alfredo
Silva (Brasilien), mit Irokesenschnitt und zahlreichen Tattoos,
zielt bewusst haarscharf an seiner rassigen, geheimnisvoll-schönen Verlobten Aleksandra Kiedrowicz (Polen)
vorbei. Wirft mit verbundenen Augen
Beile knapp an ihr vorbei, von ihrer Stimme gelenkt. Zielt mit der
Armbrust über die eigene Schulter, eine Smartphone-Kamera als
Spiegel nutzend. Und wirft Messer auf einen rasant kreisenden
Türrahmen, in dessen Mitte sie steht. Die Partnerin ist
außerdem in einer Solo-Nummer am Luftring zu erleben. Darin
beweist sie Wagemut und hohe Beweglichkeit. Ein weiterer
Silber-Preis geht etwas überraschend an Mariia Shevchenko (Ukraine) für ihre
Strapatennummer. Nicht nur das
rote Kostüm, auch die Trickfolge lehnt sich sehr deutlich an
die Arbeit von Anastasia Makeeva an. Hier wird deutlich, dass
es für eine Spitzennummer nicht ausreicht, akrobatisch das
Gleiche zu beherrschen, und sei es – wie bei Shevchenko – noch
so anspruchsvoll. Hinzu müssen eine choreographische
Raffinesse und grandiose Ausstrahlung kommen, die in diesem
Fall nur das Original hat. Zu den spannendsten Entdeckungen
des Festivals gehört das Duo Cabaret (Ukraine) mit seiner
luftakrobatischen Nummer an 30 Schnüren. Serhii und Polina
zelebrieren gefahrvolle Tricks, stimmungsvoll im
Burlesque-Stil verpackt. Hierfür gibt es Bronze.
Duo Olivares,
Fumagalli, Nicol Nicols
Bei den weiteren
Bronze-Preisen entscheidet die Jury sich für die bekanntesten,
etabliertesten Namen im noch nicht prämierten Feld. Nicol
Nicols (Spanien) beeindruckt einmal mehr mit Vorwärts- und
Rückwärtssalto auf dem Drahtseil. Seine Partnerin Havi Havi
begleitet ihn im Playback an der Violine. Nicols‘ Bruder
Michael Olivares zeigt mit seiner Manegenpartnerin und
Lebensgefährtin Helena Polach (Tschechien) Luftakrobatik an
Seidentüchern und Strapaten. Damit übernimmt sie vielfach den
tragenden Part. Diese Liebesgeschichte wirkt ein wenig
gekünstelt, die begleitende italienische Ballade etwas
monoton. Die Kritikerjury verleiht ihren Preis an Victor
Moiseev. Er jongliert in der Dunkelheit horizontal mit bis zu
neun fluoreszierenden Bällen. Sie hängen an Seilen. Mit
zahlreichen Fängen und viel Tempo ein eindrucksvolles
Spektakel, die Schaffung eines Planetensystems in der Manege.
Außer Konkurrenz treten die „Special Guests“ Fumagalli mit
Daris und Niko Huesca sowie Redi Montico an. Fumagalli und
seine Partner werden für ihr Bienchen-Entree beim Heimspiel in
Italien in jeder Vorstellung mit Standing Ovations gefeiert. Die groß
angekündigte, neue Raubtiernummer von Redi Montico (Italien)
ist bis zum Festival leider noch nicht ausgereift, so dass
Löwenschaukel und schwarzer Panther nach der ersten
Auswahlvorstellung gleich wieder herausgenommen werden. Aber
doch wird deutlich, besonders in der zweiten besuchten Show,
dass die Dressur mit jeweils drei weißen Tigern und Löwen
(darunter ein männlicher) über großes Potenzial und dank der
tollen Requisiten in der Form antiker Säulen über ein
Alleinstellungsmerkmal verfügt. Gia Eradzes Ballett schafft
als „Gladiatoren“ den passenden Rahmen. Beide Special Guests
erhalten traditionsgemäß den Prix Giulio Montico.
Kimberley
Zavatta, Kenyel Rodriguez, Christopher und Milena
Dass einem
um den Nachwuchs im klassischen Circus nicht bange sein muss,
beweisen Holler und Kimberley Zavatta (Italien) mit ihrer
Rollschuh-Nummer. Die Eleven der Artistenschule von Verona
arbeiten zur Live-Musik des famos spielenden Orchesters.
Insgesamt könnte die viel beklatschte Nummer noch etwas mehr
Tempo vertragen, wenngleich der schnelle Genickhangwirbel
vollauf überzeugt. Für weitere Engagements empfiehlt sich
Kimberley Zavatta mit ihrer Zweitnummer, einem dynamischen
Strapaten-Act zu Michael Jacksons „Dirty Diana“. Eher dem
zeitgenössischen Circus zuzurechnen sind Christopher und
Milena aus Deutschland. Sie arbeiten an zwei Trapezen, die im
90-Grad-Winkel zueinander hängen. Mehrfach wechseln sie von
einem Requisit zum anderen, um ihre Voltigen bis hin zum Salto
zu präsentieren. Kenyel Rodriguez aus Kuba beschränkt sich auf
der Rola Rola auf lediglich vier, dafür umso stärkere Tricks.
Neu für uns ist, wie er – mit Fußschlaufen gesichert – auf dem
Brett balanciert, die darunter gestapelten Zylinder zur Seite
wegspringen lässt und auf dem untersten Zylinder landet.
Spektakulär die 360-Grad-Drehung auf einem Turm aus sechs
stehenden und zwei liegenden Zylindern. Vermissen lässt er
leider jegliche Ausstrahlung.
Duo Paradise,
Duo Unity, Duo Acrodream
Mit insgesamt acht Nummern liegt
ein Schwerpunkt des Festivals auf Duos aus Mann und Frau. Das
Duo Paradise (Ukraine) zelebriert seine Kombination aus
Kontorsionen und Hand-auf-Hand-Akrobatik voller Sinn und
Sinnlichkeit. Die erotische Nummer würde sich für eine
Produktion wie „Ohlala“ perfekt eignen. Um ganz große Gefühle
geht es auch beim kanadisch-deutschen Duo Unity. Im Cyrrad
rotieren Francis und Lea gemeinsam, rasant, ausdauernd, vor
Liebe und Glück strahlend. Die Bronze-Gewinner des Cirque de
Demain, 2017 und 2018 im Moulin Rouge verpflichtet, hätten
sich auch für einen der Hauptpreise empfohlen. Derzeit sind
sie bei Conelli zu erleben. Als Goldmenschen im römischen Stil
arbeitet das polnisch-spanische Duo Acrodreams, Tomasz und
Fatina, klassische Hand-auf-Hand-Akrobatik. Der Stuhltrick,
bei dem sich der Untermann aufrichtet und dabei die Partnerin
Hand-auf-Hand trägt, wird hier mit dem Bogenschuss kombiniert.
Walter Orfeo Nones Malachikhine, Enkel von Moira Orfei, drückt
eindrucksvolle Handstände, leider in einem total misslungenen
Kostüm. Das Für und Wider von Kindernummern lässt sich auch
bei diesem Festival leidenschaftlich diskutieren: Die
neunjährige Ukrainerin Sofia Tepla verbiegt sich bei ihren
Extrem-Kontorsionen auf einer Schatzkiste. Danylo Strakhov,
ein Muskelpaket mit zahlreichen Tätowierungen, zeigt
Hand-auf-Hand-Akrobatik nicht mehr mit seinem ebenbürtigen
Bruder Ilya, sondern als ungleiches Paar mit dem zehnjährigen
Sohn Oscar.
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