Seit 25 Jahren zeigen Viktor und Ferenc Rippel ihre Kraftakrobatik
auf dem gesamten Globus. Fünf Jahre wird in diesem Jahr ihre
Rippel-Akademie alt, in der sie in erster Linie Kinder und
Jugendliche trainieren. Die muss es nicht einmal in den Zirkus
ziehen. Kommen darf jeder, der sich bewegen will. „Aber wir haben
auch etwa 40 junge Leute dabei, die wirklich Akrobat werden wollen
und mit denen auch öffentliche Auftritte durchgeführt werden“, sagt
Feri. Es war seine Idee, dass wir das Interview ans Ende verlegen.
Vorher sollte ich selbst erfahren, wie es sich anfühlt, wie ein
Akrobat zu trainieren.

Herausforderung Luftakrobatik:
Es schneidet in den Kniekehlen
Die
„Rippel Brothers Akademie“ ist ein Begriff, der in der Turnhalle
eines Gymnasiums im Norden Budapests Form gewinnt. Hier finden
mehrmals wöchentlich die Übungsstunden statt, geleitet von acht
Trainern, darunter den Rippel-Brüdern selbst. Mit der Luftakrobatik
geht es los. Links und rechts von mir klettern die jungen Mädchen,
elegant der Decke entgegen, nutzen das Tuch als Leiter, um dann
wieder, federngleich, dem Boden entgegenzuschweben. Mein Tuch
schneidet mir bislang nur in die Kniekehlen. Zumindest schaffe ich
es, irgendwann auf einem Knoten zu stehen, solide wie von einem
Seemann gemacht, mich fallen zu lassen und wieder hochzuschwingen.
Es hat etwas vom Reck aus dem Schulsportunterricht. Nur das war
stabiler.

Herausforderung
Hängematte: Das Luftnetz baumelt wie ein Galgen von der Decke
Zur
Herausforderung wird die Übung in der überdimensionierten
Hängematte, die wie ein Galgen von der Decke baumelt. Der erste
Erfolg ist es, überhaupt reinzukommen und sich so zu positionieren,
als läge man in einem Kokon. Aber das Ding ist widerspenstig. Die
Füße verheddern sich, die Hände rutschen durch die Öffnungen. Feri
wird ungeduldig. Minuten später liege ich richtig genug, um von ihm
angestoßen zu werden. Schön um die eigene Achse, mit ordentlich
Tempo. Die Deckenlichter vermengen sich zu einem Brei und ich
schließe die Augen. „Und jetzt die Beine anziehen“, schreit Feri.
Ich will es nicht, weil ich ahne, was dann passiert. Aber ich will
auch kein Feigling sein und gebe mir so noch etwas zusätzlichen
Speed. Als die Hängematte wieder steht und ich zur Seite taumele,
bin ich ziemlich grün im Gesicht. Die Pause, die nach knapp einer
Stunde in der Rippel-Akademie für alle Teilnehmer ansteht, ist ein
Geschenk.

Viktor und Ferenc
Rippel: In 25 Jahren traten sie weltweit auf
Ferenc und Viktor, Jahrgang 1971 und 1973, stammen aus einer
Artistenfamilie. Nach der Geburt der Kinder konzentrieren sie sich
auf deren Ausbildung. Gern wird die Legende erzählt, dass die Brüder
schon Salti auf einem Trampolin schlagen konnten, bevor sie laufen
lernten. In den vergangenen 25 Jahren traten sie weltweit auf,
entwickelten in jedem Jahr neue Produktionen. Das müssen sie auch.
„Als wir angefangen haben, gab es vielleicht fünf ähnliche
Produktionen, jetzt sind es 5000“, beschreibt Ferenc die
Konkurrenzsituation. Die Rippel Brothers haben sich ihren Status
erarbeitet, waren Teil der Ringling Bros. Barnum and Bailey Show,
verdienten sich zahlreiche Zirkuspreise, zeigten ihre Akrobatik in
den Shows von Jay Leno und Rosie O'Donnell, begeisterten im Moulin
Rouge in Paris, im Chamäleon oder im Wintergarten in Berlin. Durch
ihre Engagements in Deutschland spricht Ferenc ein ausgezeichnetes
Deutsch. Ferenc Rippel ist so etwas wie der Sprecher der beiden, er
ist derjenige, der auch bei den Darbietungen in die Lüfte geht.
Bruder Viktor sorgt für die Stabilität. Sie haben in ihrem Leben nie
etwas anderes gelernt, wissen, dass sie nur ihre Körper haben, beide
1,80 Meter groß und 90 Kilogramm schwer. An ihnen hängen Triumph
oder Tragödie. Die Tragödie geschieht, als vor einigen Jahren bei
einer Übung Viktors Bizeps reißt und einige Zentimeter nach oben
springt. Der Arzt renkt es wieder ein – und erklärt die Karriere der
Rippel-Brüder für beendet. „Zack, das war's, nie wieder
Rippel-Brüder“, erinnert sich Ferenc an diesen Tiefpunkt ihrer
Karriere. Nach zwei Monaten Zwangspause haben sich wieder
rangekämpft, die Belastungen auf Viktors anderen Arm verlagert und
immer wieder gezeigt, was sie aus ihren Körpern rausholen können.
Die Weltrekordversuche der Rippel-Brüder sieht man bei YouTube: Die
Rippel-Brüder auf einer Plattform, die von einem Helikopter hängt.
Die Rippel-Brüder auf der Tragfläche eines Lkw bei 75 km/h.
  
Rippel-Sportunterricht:
Jeder macht alles
Die
Pause ist vorbei. Kneifen ist nicht beim Rippel-Sportunterricht.
Jeder macht alles. Jede Gruppe wechselt ihre Position. Als nächstes
steht Balance an: Handstände in verschiedenen Ausführungen (geht
so), Pilates-Übungen (eine Wohltat!), Balancieren (reden wir nicht
davon). Bei der dritten Station, den Salti, die auf einer
langgezogenen Hüpfburg stattfinden, falle ich ziemlich dämlich auf
den Arm. Es sind 5-Jährige hier dabei, die können es besser. Was
hier gelehrt wird, sind die Grundübungen der Akrobatik, deren
Vergangenheit rosiger war als die Gegenwart. Die große Zeit des
Varietés in Ungarn, erzählt Ferenc, fällt in die 40er- bis 60er
Jahre. „Unsere Eltern hätten an einem Abend fünfmal auftreten
können, es war damals einfach schick, sich schön anzuziehen und zum
Abendessen in ein Varieté zu gehen.“ Wie auch in Deutschland sank ab
den 60er Jahren die Zahl der Varietés in Ungarn beständig.
„Endgültig vorbei war es dann zur Wendezeit, als aus den Varietés
Discos wurden, weil die mehr Geld versprachen.“ Geblieben ist nur
der Zirkus als Tradition. Der „Hauptstädtische Großzirkus“ im
Budapester Stadtwäldchen etwas existiert seit 115 Jahren. Natürlich
sind die Rippel-Brüder auch in diesem Zirkus aufgetreten, doch ihren
Lebensunterhalt verdienen sie durch Aufträge aus dem Ausland.

Das Ziel: "Die
Tradition am Leben erhalten"
Seit der Jahrtausendwende sind in Budapest die romkocsmák, die
Ruinenkneipen zu einem Anziehungspunkt für Einheimische wie
Touristen gleichermaßen geworden. Ferenc und Victor Rippel tragen
sich schon seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, selbst eine eigene
Institution zu schaffen, eine neue Tradition auf den Weg zu bringen:
ein eigenes Rippel-Varieté. Die Pläne sind, wie die Brüder es
ausdrücken, „halb-konkret“. Doch erst wollen sie abwarten, wie sich
die politische Lage weiter entwickelt. „Wir hassen das, aber in
Ungarn ist immer alles von der Politik abhängig.“
Bis ihr eigenes Varieté Wirklichkeit werden kann, stecken sie ihre
Energie und ihr Geld in ihre Akademie. „Unser Ziel ist es, die
nächste Tradition von Artisten auszubilden und die Tradition am
Leben zu erhalten.“ Ferenc und Viktor Rippel haben beide die 40
überschritten. Wie lange hält der Körper das aus? „Ich will nicht
darüber nachdenken, was in zehn Jahren ist“, meint Feri. Am liebsten
würde er auf der Bühne sterben. „Und wenn ich alt werde und die Haut
schlaff wird“, er klatscht sich gegen den Bizeps, „ziehe ich mir
eben was Langes an.“ |