CHPITEAU.DE

Friedrichsbau-Varieté - "20"
www.friedrichsbau.de - 75 Showfotos

Stuttgart, 31. Januar 2014: Das ist ein bisschen paradox: Seit Jahren setzt das Friedrichsbau-Varieté eigentlich auf durchkomponierte Themenshows. Ausgerechnet das Programm zum 20-jährigen Bestehen hat Regisseur Ralph Sun jedoch als Nummernrevue angelegt, in der nicht einmal der Geburtstag intensiv thematisiert wird. Neue und bekannte Gesichter werden von wechselnden Conférenciers angekündigt. Bis 30. März singt und tanzt Diva Tomasz – einige Tage mit Unterstützung von Rosemie –; danach werden bis 20. April Max Nix und Willi Widder Nix für gute Laune sorgen.

In der aktuellen Version – mit dem deutsch-polnischen Travestiekünstler Diva Tomasz – ist immerhin das Erotisch-Frivole eine Art Grundmotiv dieses Programms. In ihrer Begrüßung macht Diva Tomasz deutlich, dass in den vergangenen 20 Jahren im Friedrichsbau mehr als 1700 Künstler in 103 verschiedenen Shows aufgetreten sind und von insgesamt mehr als zwei Millionen Besuchern bejubelt wurden. Es grenzt dabei fast schon an ein Wunder, dass die Geschichte weitergeht. Nach dem überraschenden Rückzug des Hauptsponsors L-Bank und kurz darauf der Muttergesellschaft DEAG schien das Friedrichsbau-Varieté zuletzt monatelang vor dem Aus. Doch das Team um die beiden Geschäftsführer Gabriele Frenzel und neuerdings Timo Steinhauer hat hartnäckig gekämpft, eine gemeinnützige GmbH gegründet und zieht bis September in eine neue Spielstätte am Stuttgarter Pragsattel – die ganze Geschichte gibt’s ausführlich in den News von Chapiteau.de sowie in der Februar-Ausgabe der Circus-Zeitung.


Miss Honey Lulu, Diva Tomasz, Anatoli Akermann

Doch bleiben wir beim Erotisch-Frivolen. Dies verkörpert also zunächst Diva Tomasz, die mit ganz großem Gepäck angereist ist und bei jedem Auftritt in einer neuen, mondänen Robe erscheint. Die Diva singt à la Hildegard Knef und Zarah Leander, sie macht schlüpfrige Scherze übers Stiefellecken („aus Wildleder“) im Fetisch-Club, sie flirtet heftig mit einigen Herren im Publikum – vor allem aber begeistert sie, wie schon bei ihrem letzten Friedrichsbau-Engagement im Herbst 2008, mit einem furiosen Bauchtanz, der das Publikum begeistert mitklatschen und auf offener Szene applaudieren lässt. Noch mehr Erotik gibt es mit Miss Honey Lulu, der Burlesque-Tänzerin. Mit dem Thema „New Burlesque“ hatte Hausregisseur Ralph Sun wohl seinen größten Erfolg am Friedrichsbau. Da ist es nur folgerichtig, dass der kunstvoll-augenzwinkernde Striptease, bei dem die letzten Hüllen nicht fallen, auch in der Geburtstagsshow vertreten ist. Neben einem Fächertanz, der am Vorpremierenabend – pardon! – merkwürdig unbeholfen wirkt, zelebriert Miss Honey Lulu ihre Performance in der Teetasse. Nicht ohne sich am Ende lasziv mit Milch aus der großen Kanne zu übergießen. Das motiviert auch den schrägen Komiker Anatoli Akermann mit seiner wirren Zauselmähne und dem wulstig ausgestopften Unterleib, sich – nach seinen spärlich vorhandenen Möglichkeiten – erotisch zu produzieren. Wie er dann aber einem Zuschauer Schuh und Socke auszog (was diesem sichtlich missfiel), das war uns doch zu rüde. Besser gefielen Akermanns Kistenjonglage, sein Streit ums Musizieren mit der Diva (Darf er Gitarre spielen oder sie singen?) und die bizarre Szene, in den ihn Geburtstagsgeschenke des Ensembles von Selbstmordplänen abbrachten.


M. Lillies und Cortes Young, Anna Abrams 

Das Jonglage-Duo M. Lillies und Cortes Young (alias Thomas Dürrfeld und Marie Seeberger aus Deutschland) eröffnet den artistischen Reigen mit Bällen und beschließt ihn mit Keulen. Leider patzten die beiden bei der Vorpremiere häufig und blieben eher blass. Originell ist ihr Auftakt, bei dem die beiden in einem  Mantel stecken und so „wie ein Mann“ gemeinsam mit jeweils einer Hand jonglieren. Ebenfalls aus Deutschland kommt Anna Abrams, die 2013 mit dem Schweizer Cirque Starlight auf Tournee war. In ihrer Vertikalseilnummer wechseln sich kreative Bewegungen und interessante Verstrickungen mit gewagten Abfallern ab – begleitet von Klaviermusik. Bei dieser Darbietung geht so manches Raunen durchs Publikum.


Andrey Ivakhnenko, Darren Burl, Matthieu Bolillo

Matthieu Bolillo war erst vor einem Jahr mit seiner „Cirkolution“-Nummer im Friedrichsbau zu sehen und kehrte nun mit einer ganz neuen, ebenso innovativen Darbietung zurück. Zwischen den bogenförmigen Holmen seines Recks steht ein Trampolin. Reck- und Trampolin-Artistik im fliegenden Wechsel werden von dem Muskelpaket und langjährigen Soleil-Artisten mit Handständen zu einem kreativen Ganzen kombiniert. Andrey Ivakhnenko, bereits 1995 mit Bronze beim Cirque de Demain ausgezeichnet, dürfte einer der bekanntesten Künstler in diesem Programm sein, war er doch u.a. schon bei Roncalli zu sehen. Noch immer ist Ivakhnenko in seinem bizarren Stachelkostüm der rote Harlekin auf dem Schlappseil, der von irrlichternder Musik begleitet wird. Das exzentrische Auftreten paart sich mit artistischem Können, u.a. bei der Jonglage mit fünf Ringen, während eine Leiter auf dem Kopf balanciert wird. Als Schlusstrick balanciert er auf der Leiter selbst. Bekanntes Roncalli-Gesicht? Das gilt natürlich noch mehr für den amerikanischen Seifenblasen-Künstler Darren Burl, der dort von 2008 bis 2010 zu erleben war. Er braucht nach wie vor keinen Pustering, sondern erzeugt seine Seifenblasen nur mit der geheimnisvollen Seifen-Mixtur und bloßen Händen, zwischen seinen Fingern hindurch. Als ob das nicht zauberhaft genug wäre, lässt er kleine in großen Seifenblasen schweben, füllt sie mithilfe eines geheimnisvollen Apparates mit Rauch oder lässt einen kleinen Plastikfisch in einer Seifenblase schweben. Grenzenloses Staunen.

Während die Form dieser Geburtstagsshow – als Nummernrevue mit traditioneller Conférence – eher klassisch ist, sind es die artistischen Darbietungen gerade nicht. Vielmehr lassen sie sich durchweg der Strömung des Cirque Nouveau zuzurechnen. Noch so ein – wohl ebenso gewolltes – Paradoxon, welche die letzte große Produktion am alten Standort des Friedrichsbaus prägt. Ende April folgt dann noch für kurze Zeit die Newcomer-Show „Stars & Talents“, ehe am 17. Mai der letzte Vorhang fällt. Im September soll es dann im neuen Domizil weitergehen. Wir freuen uns darauf und sind gespannt auf neue Kreationen zwischen Tradition und Innovation.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Erber