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Wintergarten Berlin - "20 20"
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Berlin, 27. Juli 2021: Die 20er Jahre, das goldene Zeitalter des Varietés! Dieses Thema ist wie gemacht für die Inszenierung einer Varietéshow. Noch besser fügt sich solch eine Show in das Ambiente des Berliner Wintergartens ein. Dieser wurde zwar erst Anfang der 90er Jahre am heutigen Standort eröffnet, knüpft aber an die Tradition des im Krieg zerstörten alten Wintergartens an und versprüht im Inneren ein herrliches 20er-Jahre-Flair, wie man es in keinem anderen deutschen Varieté hat. Perfekt organisiert ist der Einlass. Neben dem Haupteingang stehen zwei Leute zum Kontrollieren der Test-, Impf- und Genesenen-Nachweise. Jeder kontrollierte Besucher bekommt ein Band ums Handgelenk, welches ihm den Zugang gewährt.

Durch diese Regelung ist es möglich, mehrere Personen aus unterschiedlichen Haushalten an einem Tisch zu platzieren und dort auch die Maske abzunehmen. Schon vor Beginn der Show spielt das Liveorchester, und im Keller vor den unglaublich luxuriösen Toiletten sorgt ein Pianist für eine gehobene Atmosphäre. Die aktuelle Show „20 20 – Die 20er Jahre Show“ ist nicht zu verwechseln mit dem Programm „Golden Years“, welches vergangenen Oktober Premiere feierte und ebenfalls von den 20er Jahren erzählte. „20 20“ feierte seine Uraufführung im Februar vergangenen Jahres und wurde nach vier Wochen vom ersten Lockdown unterbrochen. Nun hat man das Programm der Regisseure Markus Pabst und Pierre Caesar bis Februar 2022 wieder auf den Spielplan genommen. Es schaut nicht nur zurück auf die goldene Zeit der 1920er, sondern auch voraus auf das, was die 2020er bringen mögen. Während Dekoration und Kostüme eher für die Rückschau stehen, agieren auf der Bühne die Protagonisten des heute und morgen.


Ensemble 

Bevor sich der Vorhang öffnet, begrüßt an diesem Abend Varietédirektor Georg Strecker sein Publikum persönlich und erläutert die aktuellen Hygieneregeln. Regisseur Markus Pabst bildet zusammen mit Entertainer Jack Woodhead den roten Faden durch die Show. Letzterer ist nicht nur humoristisch unterwegs, sondern begleitet die Vorstellung auch musikalisch. Aus einem bunten Tanz des Ensembles löst sich Handstand-Equilibristin Katharina Lebedew. Die gebürtige Kasachin drückt im Burlesque-Stil Handstände und kontorsionistische Figuren auf einem edlen Sessel, während ihr die Ensemblemitglieder nach und nach die Kleidung vom Leib nehmen, wobei am Ende nur noch Brustwarzen und Intimbereich bedeckt sind.


Chris Myland, Duo Sienna, Thula Moon

Akrobatisch geht es weiter mit dem Duo Sienna. Die beiden Berlinerinnen zeigen im ersten Teil ihre modern inszenierte Duo-Poledarbietung. Ihre gemeinsame Luftringnummer wird in der Show nicht gezeigt. Dafür begeistert uns Sina mit ihrer Solodarbietung am Schlaufentuch, unter anderem mit wirkungsvollen Abfallern und einem frei hängenden Spagat. Mit der Hawaiianerin Thula Moon wagt sich ein weiteres weibliches Ensemblemitglied in die Luft. Ohne Longe hält sie sich in diversen Verbiegungen am meist drehenden Ring oder verknotet sich in den Halteseilen. Bravo! Nicht ganz mithalten kann da Chris Myland, der im ersten Teil ein paar übliche Tricks an den Strapaten zeigt. Sonst ist der ausgebildete Tänzer vor allem in den zahlreichen Ensembleszenen vertreten und zeichnet für die Choreographien verantwortlich. Artistisch stark ist nach der Pause Oscar Kaufmann unterwegs. Er ist wie viele Künstler der Show ein ehemaliger Absolvent der Berliner Artistenschule und begeistert uns mit seiner Cyr-Artistik.


Girma Tsehai, David Pereira 

Der in Berlin lebende Äthiopier Girma Tsehai sorgt für Lachen und Staunen gleichermaßen, wenn bei seiner Hutjonglage, die er nackt präsentiert, ein Requisit immer gerade noch so seinen Privatbereich bedeckt. Kraft und Ausdauer beweist er dann am Chinesischen Masten zusammen mit Alessandro di Sazio. Die modern durchgestylte Darbietung ist wirkungsvoll gegen Ende der Show platziert. Ein tolles Bild entsteht, wenn Sina und Vienna noch parallel dazu an zwei Polestangen performen. Schon seine eigene Show hatte im Wintergarten Kontorsionist David Pereira. Nun verbiegt er sich in „20 20“ in den verschiedenen Ensembleszenen, zeigt eine kleine Hula-Hoop-Nummer und hat seinen großen Auftritt als Kontorsionist vor dem Finale. Als ärmlicher Junge kommt Pereira auf die Bühne, ehe er sich auf und in einem Holzwagen verbiegt und sein Requisit dabei perfekt in die Tricks einbindet. Sein Auftritt würde beim Publikum sicherlich noch mehr Wirkung entfachen, wenn nicht schon in den zweieinhalb Stunden davor viele Tricks seines Genres gezeigt würden.


Yamil Borges, Banburry Cross, Dennis Mac Dao

Ganz anders, ungewöhnlich und einmalig in der Show ist Banbury Cross. Die Britin hat sich dem Genre Burlesquetanz verschrieben. Ihren Solo-Auftritt beginnt sie in einem reichlich verzierten Revuekleid. Volle Energie entfacht sie bei ihrer erotischen Tanzperformance, an deren Ende sie sich komplett „oben ohne“ mit Champagner übergießt. Ein wirklich außergewöhnlicher Auftritt, der sich perfekt in die 20er-Jahre-Revue fügt. Ebenfalls in die Show passen die Collin Brothers aus Berlin. Helmut Collin, der „Dumme August“, beherrscht seine Rolle so gut, dass sich schon bei seinem Erscheinen ein Grinsen auf den Gesichtern der Besucher breit macht. Herzhaft lachen wir über die komische Illusionsnummer der Berliner sowie über Helmuts Solo-Auftritte beim Duschen, als Quick-Change-Künstler und auf High-Heels. Neben Jack Woodhead begleitet auch Sängerin Yamil Borges einige Momente mit Livegesang. In ihrem Soloauftritt zieht sie alle Blicke auf sich, wenn Kostüm und Make-Up einer Körperhälfte weiblich und der anderen männlich gehalten sind. Hinzu kommt noch Tänzer Dennis Mac Dao, der die Szenen tänzerisch mit Leben füllt.


Band, Markus Pabst und Jack Woodhead

Den unverwechselbaren Charme der Show machen die schon erwähnten Entertainer Markus Pabst und Jack Woodhead aus. Einige ihrer Auftritte waren teilweise schon ähnlich in anderen Pabst-Shows zu erleben, so zum Beispiel das neue Zuordnen von Interpreten zu bekannten Zitaten oder das Klatschen auf Pabsts nackten Oberkörper. Auch das Rückwärtslesen eines Textes, der daraufhin eine ganz andere Botschaft vermittelt, ist ein öfters eingesetztes Stilmittel von Pabst. Ganz neu sind hingegen die von ihm inszenierten artistischen Schaubilder. Da gibt es zum Beispiel die wunderbare Szene, in der mehrere Artisten in einem Waterbowl herumplanschen und artistische Kostproben zeigen. Generell leben die Darbietungen oft von der tänzerischen oder musikalischen Umrahmung der anderen Künstler. Dabei sind Kostüme, Musik und Co verrucht und extravagant angehaucht, um vor dem prächtigen goldenen Artisteneingang das Flair der „Goldenen Jahre“ zu versprühen.

„20 20“ ist ein wunderbares Gesamtkunstwerk. Man huldigt den „Goldenen 20er Jahren“ und spannt zugleich den Bogen ins hier und jetzt. So zeigt Pabst am Ende der Vorstellung die Parallelen der damaligen und heutigen Zeit auf und lässt optimistisch in die neuen 20er blicken. Einzig die Auswahl der Genres im Programm könnte etwas abwechslungsreicher sein. Zudem sind die meisten artistischen Leistungen auf einem ähnlichen Niveau, hier würde der Show sicherlich noch ein Ausrufezeichen guttun. Aber das ist Kritik auf hohem Niveau, ein Besuch von „20 20“ ist 2021 oder auch 2022 wärmstens empfohlen.

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Text: Lino Friese; Fotos: Wintergarten/Carolin Saage