Mit den „Artistokraten“
unter der Regie von Detlef Winterberg und Nicole Kehrberger hat der
Künstlerische Leiter des Friedrichsbaus, Ralph Sun, ausnahmsweise eine
komplette, fertige Show nach Stuttgart geholt, die hier den Dimensionen
des Hauses angepasst wurde. Die Berliner Künstlertruppe rund um Martin
van Bracht, Mitbegründer des Nouveau Cirque-Projektes „Circus Gosh“,
gibt dem Affen richtig Zucker. Erzählt wird die Geschichte eines
reichlich schrägen barocken Hofstaates, in dem van Bracht – unter
anderem – den Fürsten gibt. Die achtköpfige Truppe ist ein eingespieltes
Team aus vornehmlich reiferen Künstlern mit reichlich Bühnenerfahrung.
Das Ensemble ist ansonsten häufiger bei Straßentheater-Projekten oder
einzelnen Galas zu sehen; die zweimonatige Ensuite-Produktion im
Friedrichsbau ist eher eine Ausnahme. Je nach Anlass biete die Compagnie
Auftritte vom Solistenensatz bis zum 18-köpfigen Gesamtensemble.
Martin van
Bracht, Felix Ahlert
Bereits vor der
Beginn der Show mischt sich Martin van Bracht als schrille Hausdame
„Tante Martha“ mit roter Perücke unters Publikum. Überschwänglich
begrüßt Martha die Bekannten, die sie hier entdeckt, darunter
„Königinmutter“ und ihren „Kegelclub“. Und die Hausdame versorgt die
Gäste aus voll bepackten Tüten mit allem, was man für einen
vergnüglichen Abend brauchen kann, von Schampus (im Schnapsgläschen
serviert) über Tröten bis hin zu Knabbergebäck. „Möchte noch jemand
Salzletten?“, ruft sie euphorisch und wirft die Großpackungen
Salzstangen überall dorthin, wo sich Arme recken. Schnell wird Martin
van Bracht zu Showbeginn von der Hausdame zum Kurfürsten Wilhelm dem
Großen. Nicht ganz standesgemäß radelt er per blumengeschmücktem Fahrrad
in den Saal und nimmt das Publikum mit auf die Reise in die Zeit des
Barock. Alle Akteure tragen weiße Kostüme im Stil dieser Epoche. Bald
lernen wir Thronfolger Leopold III. alias Felix Ahlert kennen, Absolvent
der Berliner Artistenschule und jüngstes Mitglied der Artistokraten in
Stuttgart.
Kurfürst und Thronfolger zeigen gemeinsam eine gekonnte Wurf- und
Hebeakrobatik. Nachdem der Kurfürst seiner weißen Perücke beraubt ist,
kann der Thronfolger bäuchlings liegend auf seinem Kopf kreiseln. Später
im Programm folgen einige Hand-auf-Hand-Tricks. Bracht ist einer, für
den der Begriff „Rampensau“ fast noch untertrieben ist. „Ein Anarchist“,
sei er, findet die Sprecherin des Friedrichsbaus, einer der offenkundig
vollkommen frei lebe und handle. Mit äußerster Verve stürzt er sich
förmlich auf das Publikum und in seine Rolle. Nur in ein Röckchen aus
gelben Federpuscheln und mit einem Blütenkranz als Hut bekleidet, die
Brustwarzen mit Sonnenblumen-Blüten beklebt, holt er einen Zuschauer auf
die Bühne, der sich mit ihm zu einer Handstandwaage formen muss. Wenn
Bracht später als „Prinzessin aus Amerika“ erscheint, im Umhänge-Schiff
auf die Bühne rudernd, dann ist der Gipfel des Aberwitzigen fast
erreicht. Bracht, alias die Prinzessin im knappen Pailletten-Fummel,
fährt Einrad und nimmt dabei eine Zuschauerin auf die Schultern. „Pink
Lady“ nennt er die Dame im rosa Kostüm, die offenkundig Gefallen an
ihrem Mittun findet.
Klaus Franz, Ziska Riva,
Kathryn Mlynek
Als „Erbcousine
aus der Schweiz“ wird „Ziska von und zu Basel“, besser bekannt als
Drahtseil-Artistin Ziska Riva eingeführt. Tanzschritte, Springe,
Pirouetten, Seilspringen und vor allem auch der Lauf auf Spitzen übers
Drahtseil sowie das Wiederaufrichten aus dem Spagat zurück in den Stand
gehören zu ihrem elegant dargebotenen Repertoire. Vor sechs Jahren war
sie bereits in der Show „Sonambul“ im Friedrichsbau zu sehen. Damals
arbeitete sie auf der Bühne, heuer mitten im Saal. Auf ein Orchester
wird in dieser Produktion verzichtet; doch ganz ohne Livemusik kommen
auch die Artistokraten nicht aus: Gleich einer Music Box führt Klaus
Franz an der Gitarre durch ein wildes Medley von „Drei Chinesen mit dem
Kontrabass“ über „Blue Suede Shoes“ bis zu „Marmor, Stein und Eisen
bricht“. Gleich anschließend kämpft er gegen seine Gitarre, die
scheinbar unverrückbar an einem festen Platz in der Luft schwebt. Später
nimmt er mit seiner “musikalischen Schatulle“ verschiedene Töne auf und
legt sie anschließend übereinander zu einem A-Capella-Chor mit sich
selbst. Dazu gibt es Breakdance-Einlagen. Kathryn Mlynek, bekannt als
Mitglied des Trapezduos „Kriskats“ (Silber beim Cirque de Demain“) gibt
im Hofstaat des Fürsten Schwester Katharina. Sie lässt hier die
Hula-Hoop-Reifen kreisen.
Felix Ahlert, Gilles Le Leuch, Caroline Schroeck
Caroline Schroeck
war Tänzerin im Ballett des Circus Krone, ihr heutiger Mann Gilles Le
Leuch Kraftfahrer beim größten Circus Europas. So lernten beide sich
kennen und starteten vor vielen Jahren eine gemeinsame Artistenkarriere.
Schroeck präsentiert zwei verschiedene, hervorragende Luftnummern,
zunächst am Trapez, später am doppelten Vertikalseil. Beide Nummern
setzen auf einen Wechsel zwischen ruhigen und äußerst dynamischen Parts.
Am Trapez präsentiert die Artistin ihre Posen zunächst in ein weißes
Tuch gehüllt. Nachdem sie sich aus diesem befreit hat, folgen u.a.
diverse Abfaller, Fershang und Umschwünge. In die Tiefen des Meeres
entführt ihre Vertikalseil-Nummer, die von Meeresrauschen, dem Signal
eines Nebelhorns und sphärischen Unterwasser-Klängen begleitet wird. Ihr
Mann Gilles Le Leuch lässt unter großem Applaus zwei Diabolos tanzen.
Auf dem begrenzten Raum der Friedrichsbau-Bühne, der auch noch durch das
Bühnenbild eingeschränkt ist, beeindruckt Felix Ahlert mit seiner
kraftvollen Arbeit im Cyrrad.
Ensemble
Immer wieder
werden verschiedene Szenen aus dem „höfischen Leben“ präsentiert. Da
wird Menuett getanzt, die Ahnengalerie präsentiert, Teeparty gefeiert –
nicht ohne Martin van Bracht im schrillen Tortenkostüm – und spielen der
Fürst und sein Thronfolger Schach, wozu sich die anderen Darsteller als
lebende Schachfiguren über die Bühne bewegen. Allgegenwärtig ist auch
der „Rittmeister“ alias Pantomime Marc Muschek. In seinem Pferdekostüm
ist er für die „Fürstliche Hofreitschule“ zuständig und zeigt perfekt
dargebotene Blödel-Figuren wie den „Brandenburger Seitgalopp“. Der Gipfel
des Aberwitzigen sei mit der Einfahrt der Prinzessin aus Amerika erst
fast erreicht gewesen, schrieben wir oben. Doch Martin van Bracht lässt
sich in diesem Programm vom Gipfelsturm nicht abhalten. Und so gibt er
zum Schluss der Show auch noch die Fürstin, die an den Hof zurückkehrt.
Brachts Vorderseite ist hier mit einem knöchellangen weißen Kleid
bedeckt. Nach einer 180-Grad-Wende erkennen wir, dass dieser Mann doch
mindestens zwei Seiten hat: seine Rückseite ist splitterfasernackt! |