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Friedrichsbau-Varieté - Artistokraten
www.friedrichsbau.de - 76 Showfotos

Stuttgart, 18. April 2013: Auf die Großstadt-Show „Metropolitan“ folgte im Friedrichsbau-Varieté nun das schrille Barock-Spektakel „Die Artistokraten“. Man achte auf das erste „t“ im Wort. Der Programmwechsel zeigt, wie ungeheuer vielfältig Varieté sein kann: „Metropolitan“ erzählte in düsteren Farben vom urbanen Leben – ein eher introvertierter musikalischer Streifzug durch die Blues-Musik von Tom Waits, eine eher nachdenkliche Show, sozusagen mit Prädikat „besonders wertvoll“. „Die Artistokraten“, das Programm ganz in weiß, stellt nicht nur farblich einen krassen Kontrast dar.

Mit den „Artistokraten“ unter der Regie von Detlef Winterberg und Nicole Kehrberger hat der Künstlerische Leiter des Friedrichsbaus, Ralph Sun, ausnahmsweise eine komplette, fertige Show nach Stuttgart geholt, die hier den Dimensionen des Hauses angepasst wurde. Die Berliner Künstlertruppe rund um Martin van Bracht, Mitbegründer des Nouveau Cirque-Projektes „Circus Gosh“, gibt dem Affen richtig Zucker. Erzählt wird die Geschichte eines reichlich schrägen barocken Hofstaates, in dem van Bracht – unter anderem – den Fürsten gibt. Die achtköpfige Truppe ist ein eingespieltes Team aus vornehmlich reiferen Künstlern mit reichlich Bühnenerfahrung. Das Ensemble ist ansonsten häufiger bei Straßentheater-Projekten oder einzelnen Galas zu sehen; die zweimonatige Ensuite-Produktion im Friedrichsbau ist eher eine Ausnahme. Je nach Anlass biete die Compagnie Auftritte vom Solistenensatz bis zum 18-köpfigen Gesamtensemble.

 
Martin van Bracht, Felix Ahlert

Bereits vor der Beginn der Show mischt sich Martin van Bracht als schrille Hausdame „Tante Martha“ mit roter Perücke unters Publikum. Überschwänglich begrüßt Martha die Bekannten, die sie hier entdeckt, darunter „Königinmutter“ und ihren „Kegelclub“. Und die Hausdame versorgt die Gäste aus voll bepackten Tüten mit allem, was man für einen vergnüglichen Abend brauchen kann, von Schampus (im Schnapsgläschen serviert) über Tröten bis hin zu Knabbergebäck. „Möchte noch jemand Salzletten?“, ruft sie euphorisch und wirft die Großpackungen Salzstangen überall dorthin, wo sich Arme recken. Schnell wird Martin van Bracht zu Showbeginn von der Hausdame zum Kurfürsten Wilhelm dem Großen. Nicht ganz standesgemäß radelt er per blumengeschmücktem Fahrrad in den Saal und nimmt das Publikum mit auf die Reise in die Zeit des Barock. Alle Akteure tragen weiße Kostüme im Stil dieser Epoche. Bald lernen wir Thronfolger Leopold III. alias Felix Ahlert kennen, Absolvent der Berliner Artistenschule und jüngstes Mitglied der Artistokraten in Stuttgart. Kurfürst und Thronfolger zeigen gemeinsam eine gekonnte Wurf- und Hebeakrobatik. Nachdem der Kurfürst seiner weißen Perücke beraubt ist, kann der Thronfolger bäuchlings liegend auf seinem Kopf kreiseln. Später im Programm folgen einige Hand-auf-Hand-Tricks. Bracht ist einer, für den der Begriff „Rampensau“ fast noch untertrieben ist. „Ein Anarchist“, sei er, findet die Sprecherin des Friedrichsbaus, einer der offenkundig vollkommen frei lebe und handle. Mit äußerster Verve stürzt er sich förmlich auf das Publikum und in seine Rolle. Nur in ein Röckchen aus gelben Federpuscheln und mit einem Blütenkranz als Hut bekleidet, die Brustwarzen mit Sonnenblumen-Blüten beklebt, holt er einen Zuschauer auf die Bühne, der sich mit ihm zu einer Handstandwaage formen muss. Wenn Bracht später als „Prinzessin aus Amerika“ erscheint, im Umhänge-Schiff auf die Bühne rudernd, dann ist der Gipfel des Aberwitzigen fast erreicht. Bracht, alias die Prinzessin im knappen Pailletten-Fummel, fährt Einrad und nimmt dabei eine Zuschauerin auf die Schultern. „Pink Lady“ nennt er die Dame im rosa Kostüm, die offenkundig Gefallen an ihrem Mittun findet.


Klaus Franz, Ziska Riva, Kathryn Mlynek

Als „Erbcousine aus der Schweiz“ wird „Ziska von und zu Basel“, besser bekannt als Drahtseil-Artistin Ziska Riva eingeführt. Tanzschritte, Springe, Pirouetten, Seilspringen und vor allem auch der Lauf auf Spitzen übers Drahtseil sowie das Wiederaufrichten aus dem Spagat zurück in den Stand gehören zu ihrem elegant dargebotenen Repertoire. Vor sechs Jahren war sie bereits in der Show „Sonambul“ im Friedrichsbau zu sehen. Damals arbeitete sie auf der Bühne, heuer mitten im Saal. Auf ein Orchester wird in dieser Produktion verzichtet; doch ganz ohne Livemusik kommen auch die Artistokraten nicht aus: Gleich einer Music Box führt Klaus Franz an der Gitarre durch ein wildes Medley von „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ über „Blue Suede Shoes“ bis zu „Marmor, Stein und Eisen bricht“. Gleich anschließend kämpft er gegen seine Gitarre, die scheinbar unverrückbar an einem festen Platz in der Luft schwebt. Später nimmt er mit seiner “musikalischen Schatulle“ verschiedene Töne auf und legt sie anschließend übereinander zu einem A-Capella-Chor mit sich selbst. Dazu gibt es Breakdance-Einlagen. Kathryn Mlynek, bekannt als Mitglied des Trapezduos „Kriskats“ (Silber beim Cirque de Demain“) gibt im Hofstaat des Fürsten Schwester Katharina. Sie lässt hier die Hula-Hoop-Reifen kreisen.


Felix Ahlert, Gilles Le Leuch, Caroline Schroeck

Caroline Schroeck war Tänzerin im Ballett des Circus Krone, ihr heutiger Mann Gilles Le Leuch Kraftfahrer beim größten Circus Europas. So lernten beide sich kennen und starteten vor vielen Jahren eine gemeinsame Artistenkarriere. Schroeck präsentiert zwei verschiedene, hervorragende Luftnummern, zunächst am Trapez, später am doppelten Vertikalseil. Beide Nummern setzen auf einen Wechsel zwischen ruhigen und äußerst dynamischen Parts. Am Trapez präsentiert die Artistin ihre Posen zunächst in ein weißes Tuch gehüllt. Nachdem sie sich aus diesem befreit hat, folgen u.a. diverse Abfaller, Fershang und Umschwünge. In die Tiefen des Meeres entführt ihre Vertikalseil-Nummer, die von Meeresrauschen, dem Signal eines Nebelhorns und sphärischen Unterwasser-Klängen begleitet wird. Ihr Mann Gilles Le Leuch lässt unter großem Applaus zwei Diabolos tanzen. Auf dem begrenzten Raum der Friedrichsbau-Bühne, der auch noch durch das Bühnenbild eingeschränkt ist, beeindruckt Felix Ahlert mit seiner kraftvollen Arbeit im Cyrrad.


Ensemble

Immer wieder werden verschiedene Szenen aus dem „höfischen Leben“ präsentiert. Da wird Menuett getanzt, die Ahnengalerie präsentiert, Teeparty gefeiert – nicht ohne Martin van Bracht im schrillen Tortenkostüm – und spielen der Fürst und sein Thronfolger Schach, wozu sich die anderen Darsteller als lebende Schachfiguren über die Bühne bewegen. Allgegenwärtig ist auch der „Rittmeister“ alias Pantomime Marc Muschek. In seinem Pferdekostüm ist er für die „Fürstliche Hofreitschule“ zuständig und zeigt perfekt dargebotene Blödel-Figuren wie den „Brandenburger Seitgalopp“. Der Gipfel des Aberwitzigen sei mit der Einfahrt der Prinzessin aus Amerika erst fast erreicht gewesen, schrieben wir oben. Doch Martin van Bracht lässt sich in diesem Programm vom Gipfelsturm nicht abhalten. Und so gibt er zum Schluss der Show auch noch die Fürstin, die an den Hof zurückkehrt. Brachts Vorderseite ist hier mit einem knöchellangen weißen Kleid bedeckt. Nach einer 180-Grad-Wende erkennen wir, dass dieser Mann doch mindestens zwei Seiten hat: seine Rückseite ist splitterfasernackt!

Mit lang anhaltendem Applaus und mehreren Vorhängen werden die Akteure im Finale gefeiert. Dieses Barockvergnügen ist vielleicht nicht das artistisch stärkste Friedrichsbau-Programm der letzten Jahre, aber mit Sicherheit eines der vergnüglichsten, ideenreichsten und unterhaltsamsten.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Erber