„Wir
wollen kein nettes Potpourri von allem, sondern starke Bilder schaffen,
die einen Eindruck hinterlassen, mehr Happening bieten als herkömmliche
Präsentation“, sagte Sun vor 17 Jahren im Interview mit Chapiteau.de.
Seitdem hat er das Friedrichsbau-Varieté geprägt wie kein Zweiter und
durchkomponierte Shows kreiert, die jeweils ein bestimmtes Thema
konsequent umsetzen. Mit der aktuellen Produktion „The Ballroom“ ist
Ralph Sun – gemeinsam mit Geschäftsführer Timo Steinhauer – wieder
einmal ein besonderes Wagnis eingegangen. Noch weiter entfernen von
klassischen Nummernprogrammen, wie es sie im Friedrichsbau vor der Ära
Sun gab, kann man sich kaum noch. „The Ballroom“ ist mutig, ist einfach
krass. Eine Produktion, die geeignet ist, Stammgäste zu verstören und
sich mit der Hoffnung der Theatermacher verbindet, neue und jüngere
Zuschauerschichten zu gewinnen.
Vegas Showgirls - diesmal
auch mit einem Mann
„The Ballroom“ will Bezug
nehmen zu den Cabarets, Varietés, Salons und Tanzsälen der 1920er Jahre,
in denen Toleranz und Offenheit größer waren als damals üblich. Und
stellt die Frage, wie ein solcher Ort aussehen könnte, wenn er heute –
100 Jahre später – erst erfunden würde. Ralph Sun beantwortet dies mit
einem Bühnenbild aus zwei gewaltigen, schräg zueinander stehenden,
grauen Wänden, über die der Theaternebel quillt. Die monolithische
Kulisse bevölkert Sun mit einer Auswahl wenig bekannter Artistinnen und
Artisten, mit denen er arbeiten kann wie ein Regisseur am Theater. Und
ergänzt diese durch ein fünfköpfiges Ballett der Vegas Showgirls unter
der Choreographie von Camilla Keutel und Debbie Paul, in dem erstmals
auch ein Mann mitwirkt. Getanzt wird fraglos hochwertig. Sämtliche Acts,
ob nun akrobatischer oder tänzerischer Natur, werden mit hämmernden
Elektrobeats unterlegt. So wähnt man sich in einem angesagten Club, in
dem die Nachtschwärmer tanzen gehen.
Fanny di Favola, Cassandra
May Raineri, Duo Baer
Die
Stuttgarter Burlesque-Künstlerin Fanny di Favola spinnt den roten Faden
durchs Programm. Diesmal zieht sie sich nicht kunstvoll aus, sondern hat
als Gastgeberin eine Sprechrolle mit ausführlichen, poetischen Texten,
die sie in ansprechender Weise vorträgt. Nach einer ersten Tanzszene mit
dem gesamten Ensemble, das hier die Gäste eines Clubs gibt, spricht sie
davon, dass die elektronische Musik die Kultur verändert habe. Ihr Klang
trage die Sehnsucht nach globalem Frieden in sich. Alle stünden auf dem
gleichen Dancefloor. Auch wenn die Tanzstile unterschiedlich seien,
verbinde sie der gemeinsame Takt. „Liebe rettet die Welt“, lautet ihr
Credo. Dass sie dabei am Premierenabend in der Auftaktszene noch vom
Blatt abliest, wird sich im Laufe der Spielzeit hoffentlich schnell
erledigen. Bei der Ankündigung der ersten akrobatischen Nummer fragt
sie, was geschieht, wenn wir die Schicksalsfäden selbst in die Hand
nehmen. Als Sinnbild hierfür steht die Tuchakrobatik der aus Italien
stammenden, an der Berliner Artistenschule ausgebildeten Cassandra May
Raineri, die unter anderem Abfaller mit Rückkehr in die Ausgangsposition
beinhaltet. Auch Posen und Haltefiguren fehlen in der von Afro-Beats
begleiteten Nummer nicht. Am Eingang zum Varietétheater hat jeder
Besucher einen roten Faden erhalten. In ihrem nächsten Auftritt klärt
Fanny di Favola auf, was es damit auf sich hat. Sie geht auf die
japanische Mythologie ein, nachdem jeder Mensch mit einem anderen durch
einen roten Faden untrennbar verbunden ist – und erzählt von
„Kontaktfäden“, die dazu dienen, mit anderen ins Gespräch zu kommen. In
der Vorstellung tragen alle Künstler einen solchen Faden an ihrem
Kostüm. Was man wirklich würdigen muss, ist die durchgehend stylische,
edle Optik der gesamten Show und ihrer Ausstattung. Was zum Beispiel im
ersten Tanz des Balletts zum Ausdruck kommt, dargeboten in schwarzen
Kostümen; eine Tänzerin trägt Weiß. In Grau dagegen zelebriert das Duo
Baer aus Finnland seine Darbietung am „Lollipop“. Gemeint ist ein
drehbarer Ring auf einem Metallständer. Während der meisten Zeit hält
Totti Baer sich im kreisenden Ring und trägt dabei seine Ehefrau Rhea
durch verschiedene Posen.
Lisa Chudalla, Romy Haupt,
Aleksandar Savija
Fanny
di Favola, das Kostüm nun durch eine Art Reifrock-Gestell ergänzt,
spricht davon, wie alle im Rad der Zeit gefangen sind. Die Überleitung
zu Lisa Chudallas Auftritt mit dem Cyrrad. Wie besessen kreist sie über
die Bühne und ruft damit die bis zu diesem Zeitpunkt stärksten
Publikumsreaktionen hervor. Sie war bereits 2023 mit dieser Darbietung
und im Frühjahr 2024 mit Schwertschlucken, Luftakrobatik und einer
Freak-Nummer im Friedrichsbau zu erleben – solche Wiederholungen in den
verschiedenen Produktionen sorgen bei uns zunehmend für Stirnrunzeln.
Der nächste Tanz des Balletts mündet in Fanny di Favolas Einlassungen
zum Thema Kunst. Kunst kenne keine Regeln, halte wie ein Narr den
Spiegel vor, müsse auch wehtun. Sie sei die Stimme, wenn alles schweigt.
„Wo Kunstfreiheit fehlt, zerbricht die Gesellschaft“, lautet ihre
Warnung. Für eine merkwürdige Redundanz im Programm sorgt die
Platzierung von zwei Flying-Pole-Acts direkt nacheinander. Gleichwohl
ist es eine schöne Neuerung, dass nun luftakrobatische Nummern über dem
Laufsteg gezeigt werden können, der von der Bühne aus in den
Publikumsraum führt. Ein neuer Hängepunkt an der Decke macht es möglich.
So kreist Romy Haupt, Berlin-Absolventin im Jahr 2023, gefährlich nah an
den Köpfen der Besucher vorbei oder schwingt wie ein Pendel die
langgezogene Mittelbühne entlang. Ein tolles Bild. Sie beeindruckt
ebenso mit Kraft und Beweglichkeit wie Aleksandar Savija, dessen
fliegender Mast über der Hauptbühne hängt. Auch ein rasanter Wirbel oder
eine Art Seitspagat, der Länge der Polestange nach, gehören zu seinem
Repertoire.
Ensemble, Sören Geisler
Die
nächste Tanzszene vereint wieder das gesamte Ensemble – Ballett und
Artisten – auf der Bühne. Discomoves und meditative Bewegungen vereinen
sich mit Mustern, die auf die graue Kulisse projiziert werden. Ein ganz
frisches Gesicht auf der Varietébühne ist Sören Geisler, der mit der
letzten Absolventenshow auf Tournee war, sich aber noch in Ausbildung an
der Berliner Artistenschule befindet. In seiner mitreißenden Nummer
kombiniert er Breakdance und Diabolospiele. Erst einen, dann zwei der
Doppelkegel lässt er in variantenreichen Abfolgen über das Seil tanzen,
lässt sie fliegen und fängt sie wieder. Sowohl seine Handstäbe als auch
die Diabolos selbst sind LED-beleuchtet; sein Streetstyle-Outfit mit
braunem Shirt und brauner Hose passt perfekt zur Nummer. Im Hintergrund
feuert ihn das Ensemble an – eines der typischen Regieelemente von Ralph
Sun. Die Show ist eben einerseits neuartig, trägt andererseits aber auch
seine unverkennbare Handschrift.
Lisa Chudalla,
Nikolay Matev, Vegas Showgirls
Als
sich nach der Pause der Vorhang zum zweiten Programmteil öffnet, hängt
Lisa Chudalla bereits am Vertikalseil in der Luft. Dessen Ende ist wie
ein Schlauch gestaltet, der zu einer Art Gasmaske führt, die die
Künstlerin im Gesicht trägt. Sie atmet sozusagen durch das Seil. Diese
abseitige Präsentation, ihr großflächig tätowierter Körper – es ist
schon klar, warum Ralph Sun gerne auf ihren besonderen Typ setzt.
Zwischen Posen und Abfallern wird sie von ihrer Maske befreit. Einmal
eine ganz neue Interpretation einer Lasershow-Nummer hat sich der
bulgarische Tänzer Nikolay Matev erarbeitet. Er mimt keinen coolen
Kämpfer, wie andere Vertreter dieses Faches, sondern präsentiert sich
als Dirigent der Lichtstrahlen. Eine Lichtinstallation mit geradezu
meditativem Charakter. Der Flyer zur Show verheißt „ein Kaleidoskop aus
Fashion, Farben und Beats“ sowie einen „Kosmos progressiver Eleganz“.
Eingelöst wird das Versprechen unter anderem beim Tanz des Balletts mit
Kostümen im rot-schwarzen Latex-Style. Von „Love and Sex“ handelt der
Songtext dazu, entsprechend ist die Choreographie – und die Mitwirkung
des männlichen Tänzers Jordan Shome lässt das Ganze auch zeitgemäß „gendergerecht“
wirken.
Romy Haupt, Duo Baer,
Aleksandar Savijas
Nach
der Dopplung mit zwei Nummern am Flying Pole folgt nun auch noch Romy
Haupts Poledance. In kraftvollen Posen rotiert sie um das Requisit. Es
ist über der Mittelbühne platziert, über der sie zuvor bei ihrer ersten
Nummer schwebte. Nach einem Text, der diesmal aus dem Off gesprochen
wird, erleben wir eine bildstarke Performance von Fanny di Favola. Sie
erwehrt sich hierbei der langen, dünnen, roten Stäbe, mit denen sie von
den Mitgliedern des Balletts malträtiert wird. Das Duo Baer präsentiert
bei seinem zweiten Auftritt Elemente der Hand-auf-Hand-Akrobatik. Auf
sinnliche Weise wird die Verbundenheit demonstriert. „Sweet Dreams“ ist
das Motto des erotischen Tanzes der Vegas Showgirls, bei dem sich die
Damen und der Herr auf grauen Sitzmöbeln räkeln. „Wozu brauchen wir
Füße, um zu gehen, wenn wir fliegen können?“: Ein weiterer Auszug aus
den poetischen Texten von Fanny di Favola, die damit zu Aleksandar
Savijas Arbeit am Luftring überleitet. Eine Liaison von tänzerischen
Bewegungen am Boden und schnellen Rotationen in der Luft. Mit
nachdenklichen Worten von Fanny di Favola wird das Finale eingeleitet.
Das Leben sei kein Kampf, den wir gewinnen können, sondern eher ein
endloser Tanz, der uns mitreißt. |