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Friedrichsbau - "The Ballroom"
www.friedrichsbau.de - 136 Showfotos

Stuttgart, 15. November 2024: Etablierte Varietékünstler wie das Quickchange-Duo Petrosyan, die Sorellas am Trapez oder Weltklasse-Jongleur Claudius Specht, dazu mal Star-Komiker Peter Shub, mal die Mentalmagiere Sonambul, mal die Musicalsängerin Yamil Borges als roter Faden in einem lose zusammenhängenden Programm: So klassisch präsentierten sich die Shows im Friedrichsbau-Varieté Stuttgart, als wir dort ab dem Jahr 2006 die ersten Produktionen besuchten. Kurz darauf übernahm Ralph Sun die künstlerische Leitung des Hauses, an dem er zuvor Regieassistent war.

„Wir wollen kein nettes Potpourri von allem, sondern starke Bilder schaffen, die einen Eindruck hinterlassen, mehr Happening bieten als herkömmliche Präsentation“, sagte Sun vor 17 Jahren im Interview mit Chapiteau.de. Seitdem hat er das Friedrichsbau-Varieté geprägt wie kein Zweiter und durchkomponierte Shows kreiert, die jeweils ein bestimmtes Thema konsequent umsetzen. Mit der aktuellen Produktion „The Ballroom“ ist Ralph Sun – gemeinsam mit Geschäftsführer Timo Steinhauer – wieder einmal ein besonderes Wagnis eingegangen. Noch weiter entfernen von klassischen Nummernprogrammen, wie es sie im Friedrichsbau vor der Ära Sun gab, kann man sich kaum noch. „The Ballroom“ ist mutig, ist einfach krass. Eine Produktion, die geeignet ist, Stammgäste zu verstören und sich mit der Hoffnung der Theatermacher verbindet, neue und jüngere Zuschauerschichten zu gewinnen.


Vegas Showgirls - diesmal auch mit einem Mann

„The Ballroom“ will Bezug nehmen zu den Cabarets, Varietés, Salons und Tanzsälen der 1920er Jahre, in denen Toleranz und Offenheit größer waren als damals üblich. Und stellt die Frage, wie ein solcher Ort aussehen könnte, wenn er heute – 100 Jahre später – erst erfunden würde. Ralph Sun beantwortet dies mit einem Bühnenbild aus zwei gewaltigen, schräg zueinander stehenden, grauen Wänden, über die der Theaternebel quillt. Die monolithische Kulisse bevölkert Sun mit einer Auswahl wenig bekannter Artistinnen und Artisten, mit denen er arbeiten kann wie ein Regisseur am Theater. Und ergänzt diese durch ein fünfköpfiges Ballett der Vegas Showgirls unter der Choreographie von Camilla Keutel und Debbie Paul, in dem erstmals auch ein Mann mitwirkt. Getanzt wird fraglos hochwertig. Sämtliche Acts, ob nun akrobatischer oder tänzerischer Natur, werden mit hämmernden Elektrobeats unterlegt. So wähnt man sich in einem angesagten Club, in dem die Nachtschwärmer tanzen gehen.


Fanny di Favola, Cassandra May Raineri, Duo Baer

Die Stuttgarter Burlesque-Künstlerin Fanny di Favola spinnt den roten Faden durchs Programm. Diesmal zieht sie sich nicht kunstvoll aus, sondern hat als Gastgeberin eine Sprechrolle mit ausführlichen, poetischen Texten, die sie in ansprechender Weise vorträgt. Nach einer ersten Tanzszene mit dem gesamten Ensemble, das hier die Gäste eines Clubs gibt, spricht sie davon, dass die elektronische Musik die Kultur verändert habe. Ihr Klang trage die Sehnsucht nach globalem Frieden in sich. Alle stünden auf dem gleichen Dancefloor. Auch wenn die Tanzstile unterschiedlich seien, verbinde sie der gemeinsame Takt. „Liebe rettet die Welt“, lautet ihr Credo. Dass sie dabei am Premierenabend in der Auftaktszene noch vom Blatt abliest, wird sich im Laufe der Spielzeit hoffentlich schnell erledigen. Bei der Ankündigung der ersten akrobatischen Nummer fragt sie, was geschieht, wenn wir die Schicksalsfäden selbst in die Hand nehmen. Als Sinnbild hierfür steht die Tuchakrobatik der aus Italien stammenden, an der Berliner Artistenschule ausgebildeten Cassandra May Raineri, die unter anderem Abfaller mit Rückkehr in die Ausgangsposition beinhaltet. Auch Posen und Haltefiguren fehlen in der von Afro-Beats begleiteten Nummer nicht. Am Eingang zum Varietétheater hat jeder Besucher einen roten Faden erhalten. In ihrem nächsten Auftritt klärt Fanny di Favola auf, was es damit auf sich hat. Sie geht auf die japanische Mythologie ein, nachdem jeder Mensch mit einem anderen durch einen roten Faden untrennbar verbunden ist – und erzählt von „Kontaktfäden“, die dazu dienen, mit anderen ins Gespräch zu kommen. In der Vorstellung tragen alle Künstler einen solchen Faden an ihrem Kostüm. Was man wirklich würdigen muss, ist die durchgehend stylische, edle Optik der gesamten Show und ihrer Ausstattung. Was zum Beispiel im ersten Tanz des Balletts zum Ausdruck kommt, dargeboten in schwarzen Kostümen; eine Tänzerin trägt Weiß. In Grau dagegen zelebriert das Duo Baer aus Finnland seine Darbietung am „Lollipop“. Gemeint ist ein drehbarer Ring auf einem Metallständer. Während der meisten Zeit hält Totti Baer sich im kreisenden Ring und trägt dabei seine Ehefrau Rhea durch verschiedene Posen.


Lisa Chudalla, Romy Haupt, Aleksandar Savija

Fanny di Favola, das Kostüm nun durch eine Art Reifrock-Gestell ergänzt, spricht davon, wie alle im Rad der Zeit gefangen sind. Die Überleitung zu Lisa Chudallas Auftritt mit dem Cyrrad. Wie besessen kreist sie über die Bühne und ruft damit die bis zu diesem Zeitpunkt stärksten Publikumsreaktionen hervor. Sie war bereits 2023 mit dieser Darbietung und im Frühjahr 2024 mit Schwertschlucken, Luftakrobatik und einer Freak-Nummer im Friedrichsbau zu erleben – solche Wiederholungen in den verschiedenen Produktionen sorgen bei uns zunehmend für Stirnrunzeln. Der nächste Tanz des Balletts mündet in Fanny di Favolas Einlassungen zum Thema Kunst. Kunst kenne keine Regeln, halte wie ein Narr den Spiegel vor, müsse auch wehtun. Sie sei die Stimme, wenn alles schweigt. „Wo Kunstfreiheit fehlt, zerbricht die Gesellschaft“, lautet ihre Warnung. Für eine merkwürdige Redundanz im Programm sorgt die Platzierung von zwei Flying-Pole-Acts direkt nacheinander. Gleichwohl ist es eine schöne Neuerung, dass nun luftakrobatische Nummern über dem Laufsteg gezeigt werden können, der von der Bühne aus in den Publikumsraum führt. Ein neuer Hängepunkt an der Decke macht es möglich. So kreist Romy Haupt, Berlin-Absolventin im Jahr 2023, gefährlich nah an den Köpfen der Besucher vorbei oder schwingt wie ein Pendel die langgezogene Mittelbühne entlang. Ein tolles Bild. Sie beeindruckt ebenso mit Kraft und Beweglichkeit wie Aleksandar Savija, dessen fliegender Mast über der Hauptbühne hängt. Auch ein rasanter Wirbel oder eine Art Seitspagat, der Länge der Polestange nach, gehören zu seinem Repertoire.


Ensemble, Sören Geisler

Die nächste Tanzszene vereint wieder das gesamte Ensemble – Ballett und Artisten – auf der Bühne. Discomoves und meditative Bewegungen vereinen sich mit Mustern, die auf die graue Kulisse projiziert werden. Ein ganz frisches Gesicht auf der Varietébühne ist Sören Geisler, der mit der letzten Absolventenshow auf Tournee war, sich aber noch in Ausbildung an der Berliner Artistenschule befindet. In seiner mitreißenden Nummer kombiniert er Breakdance und Diabolospiele. Erst einen, dann zwei der Doppelkegel lässt er in variantenreichen Abfolgen über das Seil tanzen, lässt sie fliegen und fängt sie wieder. Sowohl seine Handstäbe als auch die Diabolos selbst sind LED-beleuchtet; sein Streetstyle-Outfit mit braunem Shirt und brauner Hose passt perfekt zur Nummer. Im Hintergrund feuert ihn das Ensemble an – eines der typischen Regieelemente von Ralph Sun. Die Show ist eben einerseits neuartig, trägt andererseits aber auch seine unverkennbare Handschrift.


Lisa Chudalla, Nikolay Matev, Vegas Showgirls

Als sich nach der Pause der Vorhang zum zweiten Programmteil öffnet, hängt Lisa Chudalla bereits am Vertikalseil in der Luft. Dessen Ende ist wie ein Schlauch gestaltet, der zu einer Art Gasmaske führt, die die Künstlerin im Gesicht trägt. Sie atmet sozusagen durch das Seil. Diese abseitige Präsentation, ihr großflächig tätowierter Körper – es ist schon klar, warum Ralph Sun gerne auf ihren besonderen Typ setzt. Zwischen Posen und Abfallern wird sie von ihrer Maske befreit. Einmal eine ganz neue Interpretation einer Lasershow-Nummer hat sich der bulgarische Tänzer Nikolay Matev erarbeitet. Er mimt keinen coolen Kämpfer, wie andere Vertreter dieses Faches, sondern präsentiert sich als Dirigent der Lichtstrahlen. Eine Lichtinstallation mit geradezu meditativem Charakter. Der Flyer zur Show verheißt „ein Kaleidoskop aus Fashion, Farben und Beats“ sowie einen „Kosmos progressiver Eleganz“. Eingelöst wird das Versprechen unter anderem beim Tanz des Balletts mit Kostümen im rot-schwarzen Latex-Style. Von „Love and Sex“ handelt der Songtext dazu, entsprechend ist die Choreographie – und die Mitwirkung des männlichen Tänzers Jordan Shome lässt das Ganze auch zeitgemäß „gendergerecht“ wirken.


Romy Haupt, Duo Baer, Aleksandar Savijas

Nach der Dopplung mit zwei Nummern am Flying Pole folgt nun auch noch Romy Haupts Poledance. In kraftvollen Posen rotiert sie um das Requisit. Es ist über der Mittelbühne platziert, über der sie zuvor bei ihrer ersten Nummer schwebte. Nach einem Text, der diesmal aus dem Off gesprochen wird, erleben wir eine bildstarke Performance von Fanny di Favola. Sie erwehrt sich hierbei der langen, dünnen, roten Stäbe, mit denen sie von den Mitgliedern des Balletts malträtiert wird. Das Duo Baer präsentiert bei seinem zweiten Auftritt Elemente der Hand-auf-Hand-Akrobatik. Auf sinnliche Weise wird die Verbundenheit demonstriert. „Sweet Dreams“ ist das Motto des erotischen Tanzes der Vegas Showgirls, bei dem sich die Damen und der Herr auf grauen Sitzmöbeln räkeln. „Wozu brauchen wir Füße, um zu gehen, wenn wir fliegen können?“: Ein weiterer Auszug aus den poetischen Texten von Fanny di Favola, die damit zu Aleksandar Savijas Arbeit am Luftring überleitet. Eine Liaison von tänzerischen Bewegungen am Boden und schnellen Rotationen in der Luft. Mit nachdenklichen Worten von Fanny di Favola wird das Finale eingeleitet. Das Leben sei kein Kampf, den wir gewinnen können, sondern eher ein endloser Tanz, der uns mitreißt.

Die provokante Varietéproduktion im durchgängigen Elektro-Sound unterstreicht Ralph Suns Anspruch, nicht einfach nur Unterhaltung, sondern vielmehr Kunst zu produzieren. Dass man frei leben soll, ist seine Botschaft. Wir fühlen uns eher in ein Off-Theater in Berlin versetzt denn als Besucher eines Unterhaltungsbetriebes für ein breites Klientel im schwäbischen Stuttgart. Das Publikum wird entscheiden, ob diese Show auch wirtschaftlich ein Großerfolg wird oder vorwiegend das Feuilleton begeistert. Jedenfalls täte man sich mit dem Leichten vielleicht leichter, wäre ein schwungvolles Nummernprogramm mit vergnüglicher Comedy und starker Akrobatik sicher weniger riskant. Denn nur im Seichten kann man nicht ertrinken.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Moll