Zur
Premiere empfängt Geschäftsführer Timo Steinhauer das Publikum im voll
besetzten Saal. Er berichtet, dass der historische Friedrichsbau am 1.
September 1900 seine Türen öffnete, somit würden in diesem Jahr 125
Jahre Varieté in Stuttgart gefeiert. In keiner anderen Metropole in
Deutschland sei die Kunstform in dieser Zeit so konstant vertreten
gewesen wie in der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg.
 
Coco Belle, Miss
Maeve - jeweils inmitten des Ensembles
Und
durch diese 125 Jahre führen uns die Burlesque Chronicles mit ihrem
Zeremonienmeister Merlin Johnson. Der vielseitige Entertainer ist wieder
einmal das prägende Gesicht einer Friedrichsbau-Show, zum 8. Mal ist der
Liebling des Stammpublikums hier vertreten. In seinen ausführlichen,
engagiert vorgetragenen Moderationen erzählt er uns jeweils von der
Zeit, in der wir uns gerade bewegen - so plastisch und konkret, dass wir
gut folgen, uns gut in die jeweilige Epoche hineinversetzen können.
Zunächst geht es also in die Bars am Ende des 18. und Beginn des 19.
Jahrhunderts, in denen der Burlesque bei wilden Feiern seine Ursprünge
hatte. Hier tanzt das gesamte Ensemble, begleitet von Merlin Johnsons
Spiel auf der Ukulele, wild zu einer Polka, rund um einen großen Tisch
mit Stühlen. Man prostet sich zu und feuert Miss Maeve an, die auf dem
Tisch tanzt und sich in der ersten Burlesque-Performance (nicht nur)
ihres transparenten grünen Mantels entledigt. Die junge Frau aus
Stuttgart macht sich gerade in der hier etablierten Burlesque-Szene
bekannt. Eine sehr elegante Erscheinung ist Coco Belle aus
Großbritannien in ihrem hellblauen Kleid im Stil der Jahrhundertwende
mit passendem Hut. Natürlich wird auch diese Robe schnell und kunstvoll
abgelegt.
  
Flurina Bartelmus,
Georgina Szotkó, Merlin Johnson mit Ensemble
Dann
verlagert sich das Geschehen in die Luft, wenn Flurina Bartelmus ihre Figuren am sich
drehenden Luftring zeigt, dies beispielsweise auch kopfüber hängend,
sich nur mit einer Kniekehle und einem Fuß haltend. Mit einer weiteren
starken Frau geht es weiter, quasi der Rolle der “stärksten Frau der
Welt”, denn Georgina Szotkó aus Ungarn jongliert mit zwei schweren
Hanteln, die sie wirft und wieder fängt - dies sowohl in stehender
Position als auch im Spagat am Boden. Ebenso misst sie sich mit
einem der Barbesucher im Armdrücken. Und letztendlich fallen zum Ende
dieser ersten Szene auch die Hüllen bei Merlin Johnson, womit der
Striptease hier nicht aufs weibliche Geschlecht beschränkt wird, die
Show quasi auch für Gleichberechtigung und Gendergerechtigkeit steht.
Eben typisch Friedrichsbau.
  
Merlin Johnson,
Szilvia Faludi, Duo Sforza
Der
erste Zeitsprung führt uns von der Bar um 1900 in einen eleganten Salon
der 1920er und 30er Jahre. Der Wechsel des Bühnenbildes wird flüssig in
den Ablauf integriert. In seiner Anmoderation erzählt uns Merlin Johnson
von der aufkommenden Massenarbeitslosigkeit in dieser Zeit und der
gleichzeitigen Lust am Vergnügen. Das Wintergarten-Varieté in Berlin
habe damals 3000 Plätze gehabt, der historische Stuttgarter
Friedrichsbau 800 - jeweils der hohen Nachfrage des Publikums
entsprechend, auch nach Burlesque-Darbietungen. In seinem “Reverse
Striptease” beginnt er in Unterhose und zieht sich auf künstlerische
Weise wieder an. Die eine Dame im Publikum darf Parfüm an seinen Hals
sprühen, die andere sein Hemd zuknöpfen. Wie er mit leichtem Schwung
einen perfekten Krawattenknoten in kürzester Zeit bindet, wird im
Publikum mit einem deutlichen Raunen quittiert. Nachdem Merlin Johnson
nun parat ist, treffen die Gäste zur Cocktailparty ein. Er begrüßt sie
mit einem Gedicht und spricht von der sich abzeichnenden Kriegsgefahr am
Horizont, von der bröckelnden Demokratie. “Das sind die 20er Jahre -
die, die schon waren”, lautet seine sarkastische Zusammenfassung. Ein
Tanz auf dem Vulkan sei die damalige Zeit gewesen, in der sich
Partystimmung und politischer Umbruch hin zur großen Katastrophe
vermischten. Und wieder gefällt hier das ganz Konkrete, die
nachvollziehbare Einordnung der gezeigten Szenen in den zeitlichen
Rahmen. Die Stimmung ist dennoch eine ganz andere als in der zuvor
gezeigten Szene um
1900, was den Varietéabend so besonders abwechslungsreich macht. Und
natürlich fügt sich die nun folgende Burlesque-Nummer perfekt in diese
Szenerie, denn während sich die deutsche Künstlerin Anja Pavlova ihrer
höchst eleganten Abendrobe entledigt, steigt sie in einen
überdimensionalen Champagnerkelch, übergießt sich zu amerikanischer
Jazzmusik lasziv mit dem prickelnden Getränk und lässt die Tropfen
inmitten der Party sprühen. An der Gitarre besingt Merlin Johnson
Marlene, “die tollste Frau der Welt”, ehe dann Szilvia Faludi ihre
Version der Luftring-Akrobatik zeigt - die Dopplung des weit
verbreiteten Genres nicht nur in einer Show, sondern gar in einer
Programmhälfte ist sicher nicht besonders glücklich. Unabhängig davon
hat die Künstlerin ein beeindruckendes Repertoire zu bieten, zu dem
beispielsweise Umschwünge um das Requisit und ein Genickhangwirbel zum
Abschluss gehören. Zwei Herren hängen den Luftring wieder ab und
entpuppen sich schnell als das spanisch-kubanische Duo Sforza. José
Sanchez und Lian Alvarez stehen bald ohne Kleidung da, die
entscheidenden Stellen ihrer Körper verbergen sie hinter einem Handtuch
bzw. einem blauen Eimer. Auf immer wieder andere Weise verändern diese
Requisiten ihre Position oder werden getauscht, ohne dass irgendwann
mehr zu sehen ist als beabsichtigt. Mit diesem großen Spaß geht es in
die Pause.
 
Louise L’Amour,
Merlin Johnson, Twirlin Girls
Mit dem
Beginn der zweiten Hälfte folgt auch der zweite Zeitsprung, wir finden
uns im Rockabilly der 1950er Jahre wieder. Merlin Johnson lässt sich auf
einer schönen Blumenwiese im Wald nieder, die auf einer Leinwand im
Hintergrund gezeigt wird. Er wartet auf seine Angebetete, und die
erscheint in Gestalt der portugiesischen Burlesque-Tänzerin Louise
L’Amour. Gemeinsam mit ihr singt Merlin Johnson ein Duett - “I love you,
Ti amo, Je t’aime” -, ehe sich die Künstlerin mit ihrer roten
Lockenmähne und dem tätowierten Körper im rockigen Stil aus ihrer
Kleidung schält. Eine Rockergang in Schwarz baut das Podium für die
nachfolgende Rollschuhnummer der beiden Twirlin Girls auf. Jawohl,
Girls, denn hier gibt es eine Unterfrau, eine echte Rarität in dem weit
verbreiteten und beliebten Genre. Dennoch wird, begleitet von
Rock’n’Roll-Musik, das volle Trickrepertoire einer guten Darbietung
dieser Disziplin gezeigt, bis hin zum Genickhangwirbel. Das Publikum
reagiert euphorisch. Aus der Zeit des Rockabilly verabschiedet uns Miss
Maeve, die passend zur Zeit in Lederjacke und schwarzer Hose auftritt.
Und da sie eine Burlesque-Künstlerin ist, behält sie beides nicht lange
an.
  
Sebastian Stamm und
Flurina Bartelmus, Louise L’Amour, Georgina Szotkó
Zeitsprung Nummer drei bringt uns in Epoche vier, zum Neo-Burlesque der
Gegenwart. In einer ausführlichen Moderation fasst Merlin Johnson die
Jahrzehnte zusammen. Er spricht von aufmüpfiger Jugend in den 50ern und
60ern, von damaligen
Idolen wie James Dean und Marlon Brando, vom Traum von grenzenloser
Freiheit mit Fett im Haar beim Kampf gegen den Muff von 1000 Jahren.
Auch Circus und Varieté hätten sich gewandelt. Den klassischen Circus
sieht er in eine Krise gekommen; dafür habe sich der Cirque Nouveau mit
Elementen von Tanz, Theater und moderner Kunst entwickelt. Mitte der
1990er Jahre kam es überall zur Wiedereröffnung der Varietétheater. Die
Artisten wollten nicht mehr nur den bestmöglichen Trick zeigen, sondern
auch ihre eigene Geschichte erzählen. So wie eben die
Burlesque-Künstlerinnen von heute. Es gibt wohl kaum einen anderen, der
dieses Thema so leben, so mitreißend vermitteln könnte wie Merlin
Johnson. Eher im Gegensatz zu seinen Einlassungen steht dagegen die
Darbietung von Sebastian Stamm und Flurina Bartelmus am Chinesischen
Masten, denn diese stellt tatsächlich akrobatische Spitzenleistungen in
den Mittelpunkt. Wir erleben beispielsweise seinen Vorwärtssalto am
Mast; auch erklimmt er das Requisit, während sie auf seinen Schultern
steht. Eindrucksvoll ist Sebastian Stamms einarmiger Handstand auf ihrem
Kopf, ebenso wie der Platzwechsel, bei dem sie an der Stange
hochklettert, während er hinunterrutscht. Das Duo erntet Riesen-Jubel
und macht es mit seiner sehr starken Nummern den nachfolgend Acts
schwer. So wäre die Darbietung vor dem Finale besser aufgehoben gewesen.
Während des Umbaus schildert Merlin Johnson seine Sicht auf den
Neo-Burlesque der 1990er Jahre - getrieben von einem neuen Frauenbild,
feministischer Selbstbehauptung und Körper-Positivität. Einfach
formuliert: “Ob dick oder dünn - jeder hat etwas zu zeigen.” Fürs
Publikum kaum bemerkbar wird während seiner Rede erneut die Bühne
umgebaut, sehen wir jetzt eine schräge Rampe im Hintergrund. Nun folgen
wieder burlesque Szenen: zunächst glamourös mit Louise L’amour, die sich
aus einem kostbaren Kostüm mit einer großen Stola zwischen beiden Händen
pellt, die langen roten Haare nun zu einem Dutt mit Silberkrone geformt.
Mit den Geschlechterrollen spielt Merlin Johnson, der ein
halbtransparentes, hellblaues Flamenco-Kleid auszieht.
Keinen weiteren Höhepunkt setzen kann Georgina Szotkó mit ihrer Arbeit
am Vertikalseil, die verschiedene Verwicklungen und Verstrickungen sowie
Abwickler und Abfaller enthält.
  
Coco Belle, Duo Sforza, Anja Pavlova
Leider nimmt Regisseur Ralph Sun nun das
Tempo heraus, lässt die Show zum Finale hin lang bis hin zu langatmig
werden. Nachdem Merlin Johnson sich mit der Rolle der Zuschauer im Burlesque befasst hat - notwendiger Teil des Ganzen oder doch nur
Voyeure? - darf Coco Belle nochmal einen sehr ausführlichen
Schönheitstanz zelebrieren, bei dem sie zu Beginn noch einen Traum von
einem roten Kleid
trägt. Dies mal mit verbundenen Augen selbst verletztlich wirkend,
mal mit einer Gerte dominant auftretend, aber immer von Geheimnis
umwittert. Viel Zeit wird auch dem Duo Sforza gegeben, das starke
Elemente der Partnerakrobatik mit Comedy kombiniert und hierbei im
zweiten Teil der Nummer auch noch auf eine musikalische Begleitung
verzichtet. Wohl um nochmal mit einem schönen Bild zu enden, darf Anja
Pavlova den Abschluss der Show übernehmen. In ihrem energetischen,
burlesquen Fächertanz bezieht sie die gesamte Spielfläche ein,
einschließlich des Laufstegs hinein ins Publikum. |