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Friedrichsbau - "Burlesque Chronicles"
www.friedrichsbau.de - 181 Showfotos

Stuttgart, 14. März 2025: Schon wieder Burlesque? Die Ankündigung einer weiteren Show rund um den kunstvollen Striptease mit Augenzwinkern hatte uns zunächst skeptisch gemacht. Umso mehr wurden wir von der neuen Produktion im Friedrichsbau-Varieté positiv überrascht - für uns sind die “Burlesque Chronicles” eines der gelungensten Programme der vergangenen Jahre in dem Theater am Stuttgarter Pragsattel. Regisseur Ralph Sun entführt das Publikum auf eine Reise durch die Geschichte der Burlesque. In vier verschiedenen Epochen machen wir dabei Station.

Zur Premiere empfängt Geschäftsführer Timo Steinhauer das Publikum im voll besetzten Saal. Er berichtet, dass der historische Friedrichsbau am 1. September 1900 seine Türen öffnete, somit würden in diesem Jahr 125 Jahre Varieté in Stuttgart gefeiert. In keiner anderen Metropole in Deutschland sei die Kunstform in dieser Zeit so konstant vertreten gewesen wie in der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg.


Coco Belle, Miss Maeve - jeweils inmitten des Ensembles

Und durch diese 125 Jahre führen uns die Burlesque Chronicles mit ihrem Zeremonienmeister Merlin Johnson. Der vielseitige Entertainer ist wieder einmal das prägende Gesicht einer Friedrichsbau-Show, zum 8. Mal ist der Liebling des Stammpublikums hier vertreten. In seinen ausführlichen, engagiert vorgetragenen Moderationen erzählt er uns jeweils von der Zeit, in der wir uns gerade bewegen - so plastisch und konkret, dass wir gut folgen, uns gut in die jeweilige Epoche hineinversetzen können. Zunächst geht es also in die Bars am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts, in denen der Burlesque bei wilden Feiern seine Ursprünge hatte. Hier tanzt das gesamte Ensemble, begleitet von Merlin Johnsons Spiel auf der Ukulele, wild zu einer Polka, rund um einen großen Tisch mit Stühlen. Man prostet sich zu und feuert Miss Maeve an, die auf dem Tisch tanzt und sich in der ersten Burlesque-Performance (nicht nur) ihres transparenten grünen Mantels entledigt. Die junge Frau aus Stuttgart macht sich gerade in der hier etablierten Burlesque-Szene bekannt. Eine sehr elegante Erscheinung ist Coco Belle aus Großbritannien in ihrem hellblauen Kleid im Stil der Jahrhundertwende mit passendem Hut. Natürlich wird auch diese Robe schnell und kunstvoll abgelegt.


Flurina Bartelmus, Georgina Szotkó, Merlin Johnson mit Ensemble

Dann verlagert sich das Geschehen in die Luft, wenn Flurina Bartelmus ihre Figuren am sich drehenden Luftring zeigt, dies beispielsweise auch kopfüber hängend, sich nur mit einer Kniekehle und einem Fuß haltend. Mit einer weiteren starken Frau geht es weiter, quasi der Rolle der “stärksten Frau der Welt”, denn Georgina Szotkó aus Ungarn jongliert mit zwei schweren Hanteln, die sie wirft und wieder fängt - dies sowohl in stehender Position als auch im Spagat am Boden. Ebenso  misst sie sich mit einem der Barbesucher im Armdrücken. Und letztendlich fallen zum Ende dieser ersten Szene auch die Hüllen bei Merlin Johnson, womit der Striptease hier nicht aufs weibliche Geschlecht beschränkt wird, die Show quasi auch für Gleichberechtigung und Gendergerechtigkeit steht. Eben typisch Friedrichsbau.


Merlin Johnson, Szilvia Faludi, Duo Sforza

Der erste Zeitsprung führt uns von der Bar um 1900 in einen eleganten Salon der 1920er und 30er Jahre. Der Wechsel des Bühnenbildes wird flüssig in den Ablauf integriert. In seiner Anmoderation erzählt uns Merlin Johnson von der aufkommenden Massenarbeitslosigkeit in dieser Zeit und der gleichzeitigen Lust am Vergnügen. Das Wintergarten-Varieté in Berlin habe damals 3000 Plätze gehabt, der historische Stuttgarter Friedrichsbau 800 - jeweils der hohen Nachfrage des Publikums entsprechend, auch nach Burlesque-Darbietungen. In seinem “Reverse Striptease” beginnt er in Unterhose und zieht sich auf künstlerische Weise wieder an. Die eine Dame im Publikum darf Parfüm an seinen Hals sprühen, die andere sein Hemd zuknöpfen. Wie er mit leichtem Schwung einen perfekten Krawattenknoten in kürzester Zeit bindet, wird im Publikum mit einem deutlichen Raunen quittiert. Nachdem Merlin Johnson nun parat ist, treffen die Gäste zur Cocktailparty ein. Er begrüßt sie mit einem Gedicht und spricht von der sich abzeichnenden Kriegsgefahr am Horizont, von der bröckelnden Demokratie. “Das sind die 20er Jahre - die, die schon waren”, lautet seine sarkastische Zusammenfassung. Ein Tanz auf dem Vulkan sei die damalige Zeit gewesen, in der sich Partystimmung und politischer Umbruch hin zur großen Katastrophe vermischten. Und wieder gefällt hier das ganz Konkrete, die nachvollziehbare Einordnung der gezeigten Szenen in den zeitlichen Rahmen. Die Stimmung ist dennoch eine ganz andere als in der zuvor gezeigten Szene um 1900, was den Varietéabend so besonders abwechslungsreich macht. Und natürlich fügt sich die nun folgende Burlesque-Nummer perfekt in diese Szenerie, denn während sich die deutsche Künstlerin Anja Pavlova ihrer höchst eleganten Abendrobe entledigt, steigt sie in einen überdimensionalen Champagnerkelch, übergießt sich zu amerikanischer Jazzmusik lasziv mit dem prickelnden Getränk und lässt die Tropfen inmitten der Party sprühen. An der Gitarre besingt Merlin Johnson Marlene, “die tollste Frau der Welt”, ehe dann Szilvia Faludi ihre Version der Luftring-Akrobatik zeigt - die Dopplung des weit verbreiteten Genres nicht nur in einer Show, sondern gar in einer Programmhälfte ist sicher nicht besonders glücklich. Unabhängig davon hat die Künstlerin ein beeindruckendes Repertoire zu bieten, zu dem beispielsweise Umschwünge um das Requisit und ein Genickhangwirbel zum Abschluss gehören. Zwei Herren hängen den Luftring wieder ab und entpuppen sich schnell als das spanisch-kubanische Duo Sforza. José Sanchez und Lian Alvarez stehen bald ohne Kleidung da, die entscheidenden Stellen ihrer Körper verbergen sie hinter einem Handtuch bzw. einem blauen Eimer. Auf immer wieder andere Weise verändern diese Requisiten ihre Position oder werden getauscht, ohne dass irgendwann mehr zu sehen ist als beabsichtigt. Mit diesem großen Spaß geht es in die Pause.


Louise L’Amour, Merlin Johnson, Twirlin Girls

Mit dem Beginn der zweiten Hälfte folgt auch der zweite Zeitsprung, wir finden uns im Rockabilly der 1950er Jahre wieder. Merlin Johnson lässt sich auf einer schönen Blumenwiese im Wald nieder, die auf einer Leinwand im Hintergrund gezeigt wird. Er wartet auf seine Angebetete, und die erscheint in Gestalt der portugiesischen Burlesque-Tänzerin Louise L’Amour. Gemeinsam mit ihr singt Merlin Johnson ein Duett - “I love you, Ti amo, Je t’aime” -, ehe sich die Künstlerin mit ihrer roten Lockenmähne und dem tätowierten Körper im rockigen Stil aus ihrer Kleidung schält. Eine Rockergang in Schwarz baut das Podium für die nachfolgende Rollschuhnummer der beiden Twirlin Girls auf. Jawohl, Girls, denn hier gibt es eine Unterfrau, eine echte Rarität in dem weit verbreiteten und beliebten Genre. Dennoch wird, begleitet von Rock’n’Roll-Musik, das volle Trickrepertoire einer guten Darbietung dieser Disziplin gezeigt, bis hin zum Genickhangwirbel. Das Publikum reagiert euphorisch. Aus der Zeit des Rockabilly verabschiedet uns Miss Maeve, die passend zur Zeit in Lederjacke und schwarzer Hose auftritt. Und da sie eine Burlesque-Künstlerin ist, behält sie beides nicht lange an.


Sebastian Stamm und Flurina Bartelmus, Louise L’Amour, Georgina Szotkó

Zeitsprung Nummer drei bringt uns in Epoche vier, zum Neo-Burlesque der Gegenwart. In einer ausführlichen Moderation fasst Merlin Johnson die Jahrzehnte zusammen. Er spricht von aufmüpfiger Jugend in den 50ern und 60ern, von damaligen Idolen wie James Dean und Marlon Brando, vom Traum von grenzenloser Freiheit mit Fett im Haar beim Kampf gegen den Muff von 1000 Jahren. Auch Circus und Varieté hätten sich gewandelt. Den klassischen Circus sieht er in eine Krise gekommen; dafür habe sich der Cirque Nouveau mit Elementen von Tanz, Theater und moderner Kunst entwickelt. Mitte der 1990er Jahre kam es überall zur Wiedereröffnung der Varietétheater. Die Artisten wollten nicht mehr nur den bestmöglichen Trick zeigen, sondern auch ihre eigene Geschichte erzählen. So wie eben die Burlesque-Künstlerinnen von heute. Es gibt wohl kaum einen anderen, der dieses Thema so leben, so mitreißend vermitteln könnte wie Merlin Johnson. Eher im Gegensatz zu seinen Einlassungen steht dagegen die Darbietung von Sebastian Stamm und Flurina Bartelmus am Chinesischen Masten, denn diese stellt tatsächlich akrobatische Spitzenleistungen in den Mittelpunkt. Wir erleben beispielsweise seinen Vorwärtssalto am Mast; auch erklimmt er das Requisit, während sie auf seinen Schultern steht. Eindrucksvoll ist Sebastian Stamms einarmiger Handstand auf ihrem Kopf, ebenso wie der Platzwechsel, bei dem sie an der Stange hochklettert, während er hinunterrutscht. Das Duo erntet Riesen-Jubel und macht es mit seiner sehr starken Nummern den nachfolgend Acts schwer. So wäre die Darbietung vor dem Finale besser aufgehoben gewesen. Während des Umbaus schildert Merlin Johnson seine Sicht auf den Neo-Burlesque der 1990er Jahre - getrieben von einem neuen Frauenbild, feministischer Selbstbehauptung und Körper-Positivität. Einfach formuliert: “Ob dick oder dünn - jeder hat etwas zu zeigen.” Fürs Publikum kaum bemerkbar wird während seiner Rede erneut die Bühne umgebaut, sehen wir jetzt eine schräge Rampe im Hintergrund. Nun folgen wieder burlesque Szenen: zunächst glamourös mit Louise L’amour, die sich aus einem kostbaren Kostüm mit einer großen Stola zwischen beiden Händen pellt, die langen roten Haare nun zu einem Dutt mit Silberkrone geformt. Mit den Geschlechterrollen spielt Merlin Johnson, der ein halbtransparentes, hellblaues Flamenco-Kleid auszieht. Keinen weiteren Höhepunkt setzen kann Georgina Szotkó mit ihrer Arbeit am Vertikalseil, die verschiedene Verwicklungen und Verstrickungen sowie Abwickler und Abfaller enthält.


Coco Belle, Duo Sforza, Anja Pavlova

Leider nimmt Regisseur Ralph Sun nun das Tempo heraus, lässt die Show zum Finale hin lang bis hin zu langatmig werden. Nachdem Merlin Johnson sich mit der Rolle der Zuschauer im Burlesque befasst hat - notwendiger Teil des Ganzen oder doch nur Voyeure? - darf Coco Belle nochmal einen sehr ausführlichen Schönheitstanz zelebrieren, bei dem sie zu Beginn noch einen Traum von einem roten Kleid trägt. Dies mal mit verbundenen Augen selbst verletztlich wirkend, mal mit einer Gerte dominant auftretend, aber immer von Geheimnis umwittert. Viel Zeit wird auch dem Duo Sforza gegeben, das starke Elemente der Partnerakrobatik mit Comedy kombiniert und hierbei im zweiten Teil der Nummer auch noch auf eine musikalische Begleitung verzichtet. Wohl um nochmal mit einem schönen Bild zu enden, darf Anja Pavlova den Abschluss der Show übernehmen. In ihrem energetischen, burlesquen Fächertanz bezieht sie die gesamte Spielfläche ein, einschließlich des Laufstegs hinein ins Publikum.

Mit einem Merlin Johnson in Hochform und ihm auf den Leib geschneiderter Rolle, mit mindestens einem, wenn nicht zwei akrobatischen Highlights sowie einer interessanten, nachvollziehbar gestalteten Story sowie viel Abwechslung in den vier Szenen mit jeweils neuer Grundstimmung und verändertem Bühnenbild überzeugt diese Produktion in der Gesamtschau. Dies gilt trotz einiger diskutabler Entscheidungen des künstlerischen Leiters Ralph Sun, dem schöne Bilder leider oft mehr bedeuten als akrobatische Leistung und Tempo - die aber doch so wichtige Erfolgsfaktoren für Unterhaltungsproduktionen sind.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Moll