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Berliner Artistenschule - Kontraste
www.absolventenshow.de ; 94 Showfotos

Bonn, 10. August 2020: Kaum stehen die neun jungen Künstler auf der Bühne, verneigen sie sich auch schon für den gemeinsamen Schlussapplaus. Eine Stimme aus dem Off erklärt: „Beinahe wäre dies die diesjährige Absolventenshow gewesen.“ Zum Glück ist es anders gekommen. An diesem Abend, an dem dank eines durchgängig starken Jahrgangs noch packende 90 Minuten folgen. Und in diesem Jahr, in dem die Pandemie so manche Tradition ins Wanken bringt. Der Abschlussjahrgang der Artistenschule Berlin aber spielt.

Wenn auch längst nicht so wie geplant: Von den ursprünglich anvisierten 45 Auftritten sind lediglich 15 übrig geblieben, als das Ensemble um Organisator Maik M. Paulsen seine ohnehin nur rund einen Monat dauernde Reise Anfang August startet. Die traditionelle Gala im Wintergarten Berlin ist wie viele andere Termine abgesagt, aber in einigen Varietés wie dem Friedrichsbau und den Häusern der GOP-Gruppe kann gespielt werden. Hinzu kommen weitere Spielstätten aus der Kulturszene. Die Absolventenshow gehört schließlich seit 2005 fest in den Veranstaltungskalender. Um überhaupt spielen zu können, ist ein eigenes, tourneetaugliches Hygienekonzept entwickelt worden. Das wird im Einklang mit den örtlichen Regularien umgesetzt. Beim Besuch im GOP Bonn wird die diesjährige Produktion „Kontraste“ deshalb als 90-minütiges Programm ohne Pause gespielt. Karl-Heinz Helmschrot, der nach 2016 und 2019 zum dritten Mal als Regisseur für die Absolventenshow verantwortlich ist, passt die Inszenierung entsprechend an.


Luzie Marschke, Jasper Deininger mit Ensemble, Adrian Grzymkowski 

In der tanzen zu Beginn – nach dem vermeintlichen Schlusskompliment – die Artisten zunächst um eine Pole-Stange und bauen an ihr menschliche Pyramiden. Mit starken Verrenkungen und Figuren an jenem Pole legt Luzie Marschke ein erfreulich hohes Niveau für den restlichen Jahrgang vor. Dabei ist dies ihre Zweit-Disziplin, denn laut Programmheft hat sie mit einer Darbietung am Luftring absolviert. Vom Ensemble umtanzt, windet sich Jasper Mauritius Deininger an den Strapaten nach oben. Seine Kräfte zehrenden Wickel und die Posen an einer Hand sind von technischer Qualität und ausdrücklich sehenswert. Unverkennbar hat er sich am asketischen Stil moderner Artistenschulen orientiert. Das gilt, wenn auch nicht so deutlich, auch für Adrian Grzymkowski. Seine Einleitung gerät simpler, denn als Jongleur bekommt er seine Utensilien, nämlich Bälle, schlicht zugeworfen. Mit vielen interessanten Wurfmustern beweist sich Grzymkowski als technisch äußerst versiert; aber sein späterer zweiter Auftritt mit der Kontaktjonglage einer Glaskugel erscheint entbehrlich.


Duo Kraoul, Marie Schaarschmidt, Tim Höfel 

Ebenfalls zwei Mal im Ablauf vertreten ist das Duo Kraoul. Dabei beweisen Karim El Nakib und Raoul Rogula, wie unterschiedlich man Partnerakrobatik gestalten kann – ohne es bei den Tricks zu Wiederholungen kommen zu lassen. Ihre erste Darbietung ist vor allem tänzerisch geprägt und auf puristische Ästhetik angelegt. Besonders gelungen ist die Einleitung zur Nummer von Marie Schaarschmidt. Dabei steht diese inmitten von Stoffbahnen, welche von den restlichen Absolventen in immer anderen Varianten um sie gewickelt werden. So arrangieren die Artisten aus den Tüchern beispielswiese einen Fächer. Schaarschmidt selbst zeigt schließlich an einer Tuchschlaufe Figuren wie den Genickhang, aber auch Abfaller gehören zum Ablauf. Tim Höfel umkurvt auf dem BMX nicht nur die anderen Artisten geschickt, sondern beherrscht sein an Artistenschulen eher selten ausgebildetes Vehikel in vielfältigster Manier. Mitunter lenkt er seine Touren über die Bühne nur übers Hinterrad. Auch dank fetziger Musik sorgt Hövel so für gute Laune im Publikum.


Lenya Lev, Duo Kraoul, Jannis Kölling 

Zwei frei auf der Bühne positionierbare Türen bilden die Kulisse von „Kontraste“. Der künstlerische Leiter der Artistenschule, Ronald Wendorf, greift dies mit Worten an seine Absolventen auf: „Hinter jeder Tür wartet eine neue Chance.“ Eine, die ihre sicher nutzen wird, ist Lenya Lev. Ihr sinnlich-poetischer Auftritt ist aus persönlicher Sicht die beste Komposition des Programms. Es ist tatsächlich ein inniger Tanz am Trapez. Tricks wie Fersen- und Zehenhang zeigt Lev eher beiläufig, vielmehr windet sie sich in immer neuen reizvollen Variationen um ihr Requisit. Zuletzt steigt sie von ihrem Tanztrapez auf die Oberkanten der beiden Türen ab und balanciert auf ihnen ähnlich einem Drahtseil. Es ist das Bild, das besonders im Kopf bleibt. Schön mit der Wahl der Kostüme in Schotten-Optik demonstriert das Duo Kraoul den komplett unterschiedlichen Charakter seiner zweiten Darbietung, der neben Kaskaden aber auch etwa einen Schulterstand beinhaltet. Mit dem humorigen Auftritt gewinnt das Doppel viele Sympathiewerte bei den Zuschauern. Der Schlussakzent gehört Jannis Arséne Kölling, der von seinen Mitabsolventen hineingetragen wird und zunächst kopfüber zwischen den beiden Stangen seines sich zudem drehenden Requisits, Spinning Sticks genannt, verharrt. Daran hat er eine interessante Kombination aus Handstand-Equilibristik und Mast-Akrobatik geschaffen, bei der er im Wechsel Einarmer und Flaggen präsentiert. Das gelingt ihm nun deutlich überzeugender als im Frühjahr auf der großen Bühne des Cirque de Demain. Verwirrt lässt einen hingegen der Epilog zum Elektro-Song „Putzen“ zurück, bei dem die Absolventen ihre Requisiten putzen. Das ist allerdings verkraftbar.

Schließlich überzeugt die Absolventenshow in diesem Jahr mit einer angenehm unaufgeregten Regie, welche die durchweg starken akrobatischen Leistungen und damit die Absolventen selbst in den Fokus stellt und sie nicht in einem Übermaß an Inszenierung untergehen lässt. Umso erfreulicher, dass es im Januar 2021 weitere Termine geben soll.

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Text und Fotos: Benedikt Ricken