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Friedrichsbau-Varieté - Morgensterne
www.friedrichsbau.de

Stuttgart, 26. August 2010: Im schlimmsten Fall gerät Varieté zu einer Art Nebenbei-Medium, das beim Genuss von Sekt und Häppchen nicht weiter stört. Einen anderen Ehrgeiz hat das Stuttgarter Friedrichsbau-Varieté in den vergangenen Jahren entwickelt. Regisseur Ralph Sun will mit seiner neuen Kreation „Morgensterne“ nun die Grenze zum ernsthaften Theater vergessen machen. Die Kombination von komischer Lyrik, hochwertiger Artistik und Bühnenbildern im Bauhaus-Stil verlangt nach voller Konzentration, stellt auch an die Aufmerksamkeit des Publikums erhöhte Ansprüche.

Als das „beste Varieté der Republik“ bezeichnet sich der Friedrichsbau nun auf Plakaten und Programmheft: Das neue Selbstbewusstsein ist weder unberechtigt, noch kommt es von ungefähr. Seit nunmehr knapp drei Jahren setzt Ralph Sun mit seinem Regiearbeiten Maßstäbe für das moderne Varieté. Seine New-Burlesque-Show „Miss Evi’s Club“ wurde zunächst in adaptierter Form nach Berlin gebracht, nun ist sie mit dem Original-Cast in Apollo in Düsseldorf zu sehen. Auch die Sarrasani-Dinnershow „Trocadero“ im Winter will nun offenbar dem ironischen Striptease frönen – Belege für Suns Einfluss auf das Genre gibt es noch mehr. Mit den "Morgensternen" haben die Friedrichsbau-Verantwortlichen  wieder einmal etwas gewagt: gesungene und gesprochene Christian-Morgenstern-Gedichte und andere Texte der komischen Lyrik, vorgetragen in drei Bühnenbildern im Bauhaus-Stil, bilden den Rahmen der Show. Jawohl, drei völlig verschiedene Bühnenbilder in einer Inszenierung in drei Akten à gut 30 Minuten, mit zwei 15-minütigen Pausen dazwischen – das ist schon ein Experiment. Im ersten Teil der Show ist auf der linken Seite der Bühne ein Turm aus bunten Würfeln gebaut, im zweiten Drittel formen sich vor einem großen Pendel weiße Stangen oder Seile zu Vorhängen in Dreiecks-Formen, im letzten Teil bilden dann verschiedenfarbige Kreise, ein stilisierter Kopf und ein pendelnder Balken den Hintergrund der Show. Lichteffekte, Projektionen oder ein extra abgestimmtes Klangkonzept, umgesetzt vom vierköpfigen Orchester, sind die weiteren Bestandteile des Gesamtwerkes.

 
Palma Kunkel

Durch die Show führt Palma Kunkel, wie sich die Entertainerin Annika Krump nach einer Morgenstern-Figur auf der Bühne nennt. Sie spielt auf der singenden Säge und der „Ätherwellengeige“ – dem einzigen „berührungsfreien“ Musikinstrument –, sie rezitiert und singt Morgenstern und Seelenverwandte. Sie trägt eine satirische Zeitungsanzeige vor, in der Morgenstern jedermann die Anschaffung eines künstlichen Kopfes empfahl. Und führt einen aberwitzigen Dialog mit der Schecke „Helix“, deren Mutter sich nicht zwischen Helga und Felix als Namensgebung entscheiden konnte.


Kaatie Akstinat, Carré Curieux, Duo Nostalgia

So ganz klar ist nicht, ob die Zusammenstellung des artistischen Teils nun Konzept oder Zufall ist: Zwei Luftnummern am Beginn und am Ende der Show rahmen die weiteren Darbietungen ein, welche allesamt der Jonglage zuzuordnen sind. Trotz der eingeschränkten Genre-Vielfalt zeichnen sich alle Nummern durch hohe Qualität aus. Den Auftakt macht das Duo Nostalgia am Doppeltrapez mit seiner sinnlichen Kür voller Schwierigkeitsgrade. Besonders faszinierend ist, diese Darbietung, die 2008 im Grand Chapiteau des Schweizer Nationalcircus Knie zu bewundern war, nun inmitten der Friedrichsbau-Rotunde einmal aus nächster Nähe zu sehen. – Für Nervenkitzel der besonderen Art sorgt eben diese Nähe dann bei der zweiten Luftnummer, wenn das freie Ende des Vertikalseils von Kaatie Akstinat immer wieder dicht an den Köpfen des umsitzenden Publikums vorbeischnalzt und die Gläser auf den Tischen nur knapp verfehlt – Varieté hautnah. Die Artistin zeigt, beginnend mit einem Abfaller und später in tänzerisch-kontorsionistischen Posen ins Seil geschmiegt, eine der überzeugendsten Varianten des Genres. Die erste Jonglierdarbietung des Abends zeigten Luca Aeschlimann und Vladimir Couprie aus der Truppe „Carré Curieux“, Teilnehmer des Cirque de Demain in Paris 2008, mit ihrer feinsinnigen Kombination von Balljonglage und Diabolospiel, die möglicherweise auch ein Rollenspiel Nervenarzt – Patient darstellt.


Nataliya Egorova, Jochen Schell

Mit den Füßen jongliert dagegen Nataliya Egorova, und zwar – passend zum Bühnenbild im zweiten Show-Drittel – „Geometrisches“, sprich Würfel, Quadrat und Doppelkegel, die aus Röhren geformt sind. Am Ende hält sie mit Händen und Füßen alle drei Requisiten in der Luft. Nach knapp drei Jahren ist zudem Avantgarde-Jongleur Jochen Schell zurück im Friedrichsbau – zum einen mit seiner tänzerisch geprägten Ring-Jonglage, zum anderen mit der faszinierenden Darbietung, bei der er seine Kreisel unter anderem auch auf einer in verschiedenste Posen verdrehten Jalousie kreisen lässt. Drittens präsentiert Schell eine Art Tanz, bei der zwölf an Armen, Beinen und Rumpf befestigte Stöcke sich zu immer neuen Bildern formen.

„Morgensterne“ hat faszinierende, mitunter aber auch ein wenig anstrengende Momente – und vielleicht auch lehrreiche Aspekte. Nachdem zuletzt das Leben der Piaf beleuchtet wurde, lädt die aktuelle Show nun zur Befassung mit Morgenstern & Bauhaus ein. Keine Nebenbei-Berieselung eben, sondern Unterhaltung mit Anspruch.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Erber