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Berliner Artistenschule - "No Roots"
www.no-roots.de

Stuttgart, 22. Juli: Elf junge Menschen, elf Mal Hoffnung auf eine Karriere im Varieté, bei Galas, vielleicht auch im Zirkus: Die Absolventen 2008 der Berliner Artistenschule zeigen im Rahmen einer Tournee, was sie gelernt haben. Wir sahen das Programm „No roots“ („Keine Wurzeln“) im Friedrichsbau-Varieté in Stuttgart, wo es an fünf Abenden zu sehen war. Die Berufsfachschule ist die einzige ihrer Art in Deutschland und vergibt den Abschluss als „staatlich geprüfter Artist“. Zum vierten Mal gehen die Absolventen eines Jahrganges auf Tournee. Damit wollen sie sich bekannt machen, entdeckt werden, Erfahrung sammeln.

Die einzelnen Darbietungen werden durch kleine Szenen rund um das Thema „Kommunikation“ zu einem Ganzen verwoben – bereits beim Einlass sitzt einer der Artisten auf der Bühne und gibt einen Mann mit Schreibblockade. Statt etwas Fertiges zu Papier zu bringen, verstreut er unzählige zerknüllte Blätter auf der Bühne.


Felix Kriegleder, Martin Benedict Schepers, Verena Schmidt, Medea Pfaffenholz

Vier Luftdarbietungen werden gezeigt. Martin Benedict Schepers mimt den gehetzten Buchhalter mit Brille, Krawatte und Aktenkoffer, der es am Morgen gerade noch in die U-Bahn schafft. Die Halteschlaufen an seinem Stehplatz entpuppen sich als Requisit seiner Darbietung: kraftvolle Drehungen und Wendungen an Strapaten. Auch Felix Kriegleder hat die Strapaten als Disziplin gewählt und arbeitet daran den größten Teil seiner Darbietung mit verbundenen Augen – eine spannende Angelegenheit, auch wenn es in niedriger Höhe geschieht. Später verkürzt er die Strapaten, in dem er den unteren Teil ausklinkt, und zeigt höher unter der Kuppel noch einige Überschläge. Weniger experimentell präsentieren sich die weiteren Luftakte: Verena Schmidt demonstriert komplizierte Ver- und Entwicklungen am Vertikalseil, von dem sie sich entschlossen in die Tiefe stürzt und sicher vom Seil gehalten wird. Eine überzeugende Leistung. Medea Pfaffenholz bewegt sich dank Ballettausbildung anmutig am Trapez, unter dem eine dicke Matte Sicherheit gibt.


Pavel Komarov, Katja Berkowsky alias Madame Putzick, Benno Jacob

Den größten Publikumserfolg haben die Künstler, die eher humorvoll-traditionell auftreten: Hierzu gehört das Duo Benno und Johannes, das viele Tricks synchron arbeitet und später gemeinsam fünf Diabolos durch die Luft fliegen lässt. Einzeln bewegen die beiden Artisten jeweils maximal drei Diabolos – ein starker Auftritt, von viel Applaus gekrönt. Auch Pavel Komarov mit seinen Salti in eine Kiste und wieder heraus kommt gut an, ebenso Katja Berkowsky als „Madame Putzick“. Die Reinigungskraft, die jongliert, Handstände zeigt und mit dem Herrn aus der ersten Reihe flirtet, sorgt für viele Lacher.


Carlos Lilienthal

Handstände sind das Metier von Carlos Lilienthal und Danilo Marder. Danilo zeigt seine Handstände auf hohen Stangen, die anfänglich noch durch ein schwarzes Tuch verhüllt sind. Carlos arbeitet auf einem künstlichen Stein. Fabio Zimmermann hat eine Jonglagetechnik mit breiten Stäben entwickelt, von denen er bis zu vier gleichzeitig in der Luft hält. Insgesamt blieben in der besuchten Vorstellung bei mehreren Darbietungen Unsicherheiten und kleine Fehler nicht aus, was sicher zum großen Teil auf Lampenfieber zurückzuführen ist. Vieles wird sich mit etwas Auftrittsroutine geben. Gleichzeitig bleiben Zweifel, ob die Choreographien einiger der Künstler, ihre Kostüme und Musikauswahl tatsächlich gehobenen Varieté-Standards genügen.


Fabio Zimmermann


Finale

Die Stärken der Berliner Schule scheinen jedenfalls eher darauf zu liegen, eine solide artistische Grundausbildung zu vermitteln denn bei der Gestaltung der Darbietungen neueste Varieté-Trends aufzugreifen oder selbst welche zu setzen. Aber hier lässt sich bei den einzelnen Nummern gewiss noch nachsteuern – wer ist schon perfekt kurz nach dem Berufsschulabschluss? Dass die Schule, den Zwängen des Marktes geschuldet, seit einigen Jahren vorrangig Solo-Nummern ausbildet, bereits Duos eine Seltenheit sind und Truppen gar nicht hervorbringt, fördert zudem auch eine gewisse Monotonie auf Varietébühnen: Disziplinen wie Vertikalseil, Handstand und Solotrapez dominieren. Wo sind die Ikarier, Schleuderbrettakrobaten, Flugkünstler auf dem Russischen Barren…?

Bleibt festzuhalten, dass die Artisten wirklich lang anhaltenden Applaus bekamen, über die geplanten Zugaben hinaus. Interessant ist, ob sich die Träume der jungen Leute erfüllen, sie bald zu regelmäßigen Gästen auf Varietébühnen im In- und Ausland werden. Die Chancen stehen gewiss nicht schlecht. Auch im Friedrichsbau waren in den vergangenen Eigenproduktionen mehrfach Absolventen der Berliner Artistenschule zu sehen.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Erber