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Neues Theater - Varieté-Herbst 2022
www.neues-theater.de - 111 Showfotos

Frankfurt-Höchst, 4. November 2022: „Ab 20 Uhr können sie gerne einen Tisch haben, aber davor ist alles voll. Im Neuen Theater ist wieder Varieté“. Der Anruf in der Wunderbar am Morgen der Vorstellung ist leider nicht von Erfolg gekrönt. Nur noch zwei Plätze an der Bar kann uns das Restaurant unweit des Theaters anbieten. Die zweimal jährlich für einen Monat gezeigten Varieté-Produktionen sind einfach ein Garant für hohe Gästezahlen – in der Wunderbar wie im Neuen Theater.

In letzterem angekommen, bestätigen uns die Verantwortlichen, dass bereits zu Beginn der Herbst-Spielzeit ein Großteil der Tickets verkauft ist. Dabei ist natürlich zu bedenken, dass im Saal aufgrund Corona-bedingter Anpassungen derzeit nicht die maximal mögliche Kapazität angeboten werden kann. Zudem sind weniger Vorstellungen als noch vor der Pandemie angesetzt.


Neelah

Nachdem man den Varieté-Herbst 2022 erlebt hat will man wetten, dass auch die Restkarten noch weggehen. Die Produktion ist einfach von Anfang bis Ende grandios. Ungeheuer dicht und atmosphärisch. Dazu brillant besetzt. Mit komplett neuen Künstlern, wie es sich in Höchst von selbst versteht. Das gerne in einem Nebensatz abgehandelte Lob an Licht und Ton sei hier einmal an den Anfang gestellt. Das Lichtdesign ist wunderbar gelungen, nicht zu verspielt, sondern äußerst stimmungs- und geschmackvoll. Für die Livemusik sorgt die Band Neelah. Die Formation ist inzwischen bestens im Neuen Theater angekommen, spielt zu Beginn der Programmteile und zudem erfreulich oft als Begleitung der Darbietungen. Die wunderbare Musik des Quartetts wird dank der Tonregie optimal übertragen. Die Artisten wurden wiederum von Frank Rupprecht ausgewählt. Ebenso hat er die Show in Szene gesetzt. Karl-Heinz Helmschrot wurde für den Feinschliff hinzugezogen.


Danilo Marder, Veera Kaijanen, Halves Project 

Den artistischen Auftakt macht Danilo Marder. Seine Handstandakrobatik in einer weiten weißen Hose hat der dreimalige deutsche Meister der Sportakrobatik in eine durchgehende Choreographie gegossen. Zunächst sehen wir nur seine Arme, der restliche Körper steht hinter einem schwarzen Tuch, das über den beiden sehr hohen Handstäben liegt. Auf zwei Händen oder auf einer, an der Stange oder auf den Klötzen am oberen Ende, Danilo Marder macht immer eine glänzende Figur. Es entstehen traumhafte Bilder, die so leicht wirken, hinter denen aber eine enorme Körperbeherrschung steckt. Ein Wirbelwind ist Veera Kaijanen. Die blonde Finnin im pinken Kleid lässt virtuos Hula-Hoop-Reifen um nahezu jeden ihrer Körperteile kreisen. Das auch upside-down, sprich im Handstand. Dabei versprüht sie ordentlich Energie und Lebensfreude, die vom Publikum begeistert aufgenommen wird. Wie viele Menschen mögen das wohl sein? Diese Frage wird erst am Ende der Nummer von Halves Project beantwortet. Bis dahin dürfen wir staunen, wie da halbe Körperteile miteinander im Schwarzlicht agieren. Dank weißer Outfits, die jeweils einen Teil des jeweiligen Akteurs bedecken, erleben wir geniale Szenen. Da läuft nebeneinander her, was eigentlich eine Einheit bilden sollte. Da spielt die rechte mit der linken Körperhälfte Basketball. Als dann die Scheinwerfer wieder angehen, wird das Rätsel gelöst. Hier haben uns eine Frau und zwei Männer glänzend unterhalten.


Michael & Yulia, Tom Lacoste, Duo Togni 

Michael & Yulia haben sich der Partnerakrobatik verschrieben. Ihre Körper sehen nicht nur blendend aus, sondern sind bestens ausgebildet. Kraft- und schwungvoll verwöhnt uns das Paar mit starken Tricks, die wunderbar in Szene gesetzt werden. Michael trägt Yulia nicht nur auf Händen, sondern ebenfalls auf den Füßen. Eine sinnliche Kür, die träumen lässt. Nicht so harmonisch geht es bei den Diabolojonglagen von Tom Lacoste zu. Das ist natürlich gewollt, denn sein Auftritt ist clownesk angelegt. Was schon der Titel „Suite für eine Tür und einen Seufzer“ erahnen lässt. Da geht schonmal ein Requisit kaputt, da gibt es mechanische Geräusche. Zwischen all dem jongliert Tom Lacoste virtuos seine Diabolos. Dafür gab es beim Festival Cirque de Demain in Paris 2020 „Silber“. Für die Disziplin Ikarische Spiele sehr hochgewachsen sind die Togni Brothers. Michael und Dario stammen aus der bekannten italienischen Circusfamilie, geben sich hier aber als irische Jungs mit Hosenträgern und Schiebermützen. Es ist schon eindrucksvoll, aus nächster Nähe mitzuerleben, wie hier ein stattlicher Mann in immer wieder neuen Varianten durch die Luft fliegt. Immer sicher vom Bruder mit den Füßen nach oben katapultiert und anschließend ebenso sicher wieder aufgefangen. Unzählige Überschläge bilden das furiose Finale.


Andreas Wessels 

Ist Andreas Wessels ein jonglierender Conferencier oder ein Jongleur, der nebenbei durchs Programm führt? Die Frage stellt sich, weil er beides genial beherrscht. Und sie erübrigt sich auch gleich wieder, weil es letztendlich ganz egal ist, welche Disziplin im Vordergrund steht. Er fügt beide zu einem genialen Ganzen zusammen. Mit einem Spektrum „vom wilden Draufgänger bis zum lässigen Gentleman“ beschreibt der Programm-Flyer seinen Stil perfekt. Er ist nicht der superfreundliche „Mister Nice Guy“, aber bleibt auf seine eigene Art immer sympathisch. Im schwarzen Anzug mit schmaler schwarzer Krawatte auf weißem Hemd begrüßt er das Publikum und bringt es mit einer Koordinationsübung in Schwung. Danach wirbelt er den Mikrofonständer durch die Luft, zunächst ohne, dann mit Devil Sticks. Die nächste Szene ist mein persönlicher Favorit. Andreas Wessels nimmt uns mit in eine Bar. Aaron Poellet von Neelah spielt auf der Bühne Klavier, während sich Wessels einen Drink zubereitet. Dabei kommen die Zutaten höchst virtuos ins Glas. Die Flasche fliegt durch die Luft, den Eiswürfel fängt er mit dem Glas, das auf seiner Stirn ruht, die nach oben geworfene Cocktailkirsche lässt er auf einem Spieß fallen, der in seinem Mund steckt. Eine Zigarette fängt er nicht nur selbst mit dem Mund, sondern wirft sie auch einem Zuschauer treffsicher zwischen die Lippen. Filigrane Jonglagen, die faszinieren und eine echte Rarität darstellen. 


Epilog mit dem Ensemble 

Dass es auch eine Nummer größer geht, beweist Andreas Wessels beim nächsten Auftritt. Da lässt er einem umgehängten Fass Rauchkringel entsteigen. Sein favorisiertes Requisit sind die Bälle. Mit diesen zelebriert er vor der Pause grandiose Jonglagen. So grandios, dass sich ein hinter der Bühne befindlicher Vorhang öffnet und das dahinter stehende Ensemble applaudiert. Daraus werden rhythmische Klatschspiele, denen sich auch die Musiker von Neelah anschließen. So kreativ endet der erste Teil. Zu Beginn des zweiten lässt Wessels an Kabeln aufgehängte Leuchtröhren in den verschiedensten Choreographien fliegen. Dazu ertönt „Another Love“. Mithilfe von Tischtennisbällen und einem Glockenspiel macht Andreas Wessels dann selbst Musik. Gesteuert werden die Bälle mit dem Mund. Noch eine Spur unterhaltsamer wird es, wenn Andreas Wessels die Lieder nur mit den Tischtennisbällen darstellt. Das Publikum liegt beim Erraten der Titel fast immer richtig. Beim letzten Auftritt des Berliners steht ein Zuschauer im Rampenlicht. Er balanciert unzählige Bälle auf seinem Körper. Das Experiment gelingt dank der Mithilfe des Profis. Dem eigentlichen Finale schließt sich wieder ein herrlicher Epilog an. Die Mitglieder von Neelah stimmen auf der Bühne einen letzten Song an. Die Artisten kommen nach und nach hinzu, zeigen letzte Kostproben ihres Könnens und reihen sich in das Schlussbild ein. Eines von so vielen Bildern an diesem Abend, das in Erinnerung bleibt.

Wer sein Publikum so verwöhnt, darf sich gewiss sein, dass es wiederkommt. Die Verantwortlichen sind mit Geschick und Herzblut bei der Sache. Das ist auch in diesem November wieder ganz deutlich zu spüren. So bleibt man auch in schwierigen Zeiten erfolgreich, sind ausverkaufte Vorstellungen vor begeisterten Zuschauern der verdiente Lohn. Wir freuen uns auf den März 2023 und reservieren schonmal rechtzeitig den Tisch in der Wunderbar um die Ecke.

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Text und Fotos: Stefan Gierisch