In
letzterem angekommen, bestätigen uns die Verantwortlichen, dass
bereits zu Beginn der Herbst-Spielzeit ein Großteil der
Tickets verkauft ist. Dabei ist natürlich zu bedenken, dass im
Saal aufgrund Corona-bedingter Anpassungen derzeit nicht die
maximal mögliche Kapazität angeboten werden kann. Zudem sind
weniger Vorstellungen als noch vor der Pandemie angesetzt.

Neelah
Nachdem
man den Varieté-Herbst 2022 erlebt hat will man wetten, dass
auch die Restkarten noch weggehen. Die Produktion ist einfach
von Anfang bis Ende grandios. Ungeheuer dicht und
atmosphärisch. Dazu brillant besetzt. Mit komplett neuen
Künstlern, wie es sich in Höchst von selbst versteht. Das
gerne in einem Nebensatz abgehandelte Lob an Licht und Ton sei
hier einmal an den Anfang gestellt. Das Lichtdesign ist
wunderbar gelungen, nicht zu verspielt, sondern äußerst
stimmungs- und geschmackvoll. Für die Livemusik sorgt die Band
Neelah. Die Formation ist inzwischen bestens im Neuen Theater
angekommen, spielt zu Beginn der Programmteile und zudem
erfreulich oft als Begleitung der Darbietungen. Die wunderbare
Musik des Quartetts wird dank der Tonregie optimal übertragen.
Die Artisten wurden wiederum von Frank Rupprecht ausgewählt.
Ebenso hat er die Show in Szene gesetzt. Karl-Heinz Helmschrot
wurde für den Feinschliff hinzugezogen.
  
Danilo Marder, Veera
Kaijanen, Halves Project
Den
artistischen Auftakt macht Danilo Marder. Seine
Handstandakrobatik in einer weiten weißen Hose hat der
dreimalige deutsche Meister der Sportakrobatik in eine
durchgehende Choreographie gegossen. Zunächst sehen wir nur
seine Arme, der restliche Körper steht hinter einem schwarzen
Tuch, das über den beiden sehr hohen Handstäben liegt. Auf
zwei Händen oder auf einer, an der Stange oder auf den Klötzen
am oberen Ende, Danilo Marder macht immer eine glänzende
Figur. Es entstehen traumhafte Bilder, die so leicht wirken,
hinter denen aber eine enorme Körperbeherrschung steckt. Ein
Wirbelwind ist Veera Kaijanen. Die blonde Finnin im pinken
Kleid lässt virtuos Hula-Hoop-Reifen um nahezu jeden ihrer
Körperteile kreisen. Das auch upside-down, sprich im
Handstand. Dabei versprüht sie ordentlich Energie und
Lebensfreude, die vom Publikum begeistert aufgenommen wird.
Wie viele Menschen mögen das wohl sein? Diese Frage wird erst
am Ende der Nummer von Halves Project beantwortet. Bis dahin
dürfen wir staunen, wie da halbe Körperteile miteinander im
Schwarzlicht agieren. Dank weißer Outfits, die jeweils einen
Teil des jeweiligen Akteurs bedecken, erleben wir geniale
Szenen. Da läuft nebeneinander her, was eigentlich eine
Einheit bilden sollte. Da spielt die rechte mit der linken
Körperhälfte Basketball. Als dann die Scheinwerfer wieder
angehen, wird das Rätsel gelöst. Hier haben uns eine Frau und
zwei Männer glänzend unterhalten.
  
Michael & Yulia, Tom
Lacoste, Duo Togni
Michael &
Yulia haben sich der Partnerakrobatik verschrieben. Ihre
Körper sehen nicht nur blendend aus, sondern sind bestens
ausgebildet. Kraft- und schwungvoll verwöhnt uns das Paar mit
starken Tricks, die wunderbar in Szene gesetzt werden. Michael
trägt Yulia nicht nur auf Händen, sondern ebenfalls auf den
Füßen. Eine sinnliche Kür, die träumen lässt. Nicht so
harmonisch geht es bei den Diabolojonglagen von Tom Lacoste
zu. Das ist natürlich gewollt, denn sein Auftritt ist clownesk
angelegt. Was schon der Titel „Suite für eine Tür und einen
Seufzer“ erahnen lässt. Da geht schonmal ein Requisit kaputt,
da gibt es mechanische Geräusche. Zwischen all dem jongliert
Tom Lacoste virtuos seine Diabolos. Dafür gab es beim Festival
Cirque de Demain in Paris 2020 „Silber“. Für die Disziplin
Ikarische Spiele sehr hochgewachsen sind die Togni Brothers.
Michael und Dario stammen aus der bekannten italienischen
Circusfamilie, geben sich hier aber als irische Jungs mit
Hosenträgern und Schiebermützen. Es ist schon eindrucksvoll,
aus nächster Nähe mitzuerleben, wie hier ein stattlicher Mann
in immer wieder neuen Varianten durch die Luft fliegt. Immer
sicher vom Bruder mit den Füßen nach oben katapultiert und
anschließend ebenso sicher wieder aufgefangen. Unzählige
Überschläge
bilden das furiose Finale.
  
Andreas Wessels
Ist
Andreas Wessels ein jonglierender Conferencier oder ein
Jongleur, der nebenbei durchs Programm führt? Die Frage stellt
sich, weil er beides genial beherrscht. Und sie erübrigt
sich auch gleich wieder, weil es letztendlich ganz egal ist,
welche Disziplin im Vordergrund steht. Er fügt beide zu einem
genialen Ganzen zusammen. Mit einem Spektrum „vom wilden
Draufgänger bis zum lässigen Gentleman“ beschreibt der Programm-Flyer seinen Stil perfekt. Er ist nicht der
superfreundliche „Mister Nice Guy“, aber bleibt auf seine
eigene Art immer sympathisch. Im schwarzen Anzug mit schmaler
schwarzer Krawatte auf weißem Hemd begrüßt er das Publikum und
bringt es mit einer Koordinationsübung in Schwung. Danach
wirbelt er den Mikrofonständer durch die Luft, zunächst ohne,
dann mit Devil Sticks. Die nächste Szene ist mein persönlicher
Favorit. Andreas Wessels nimmt uns mit in eine Bar. Aaron
Poellet von Neelah spielt auf der Bühne Klavier, während sich
Wessels einen Drink zubereitet. Dabei kommen die Zutaten
höchst virtuos ins Glas. Die Flasche fliegt durch die Luft,
den Eiswürfel fängt er mit dem Glas, das auf seiner Stirn
ruht, die nach oben geworfene Cocktailkirsche lässt er auf
einem Spieß fallen, der in seinem Mund steckt. Eine Zigarette
fängt er nicht nur selbst mit dem Mund, sondern wirft sie auch
einem Zuschauer treffsicher zwischen die Lippen. Filigrane
Jonglagen, die faszinieren und eine echte Rarität darstellen.

Epilog mit dem Ensemble
Dass es
auch eine Nummer größer geht, beweist Andreas Wessels beim
nächsten Auftritt. Da lässt er einem umgehängten Fass
Rauchkringel entsteigen. Sein favorisiertes Requisit sind die
Bälle. Mit diesen zelebriert er vor der Pause grandiose
Jonglagen. So grandios, dass sich ein hinter der Bühne
befindlicher Vorhang öffnet und das dahinter stehende Ensemble
applaudiert. Daraus werden rhythmische Klatschspiele, denen
sich auch die Musiker von Neelah anschließen. So kreativ endet
der erste Teil. Zu Beginn des zweiten lässt Wessels an Kabeln
aufgehängte Leuchtröhren in den verschiedensten Choreographien
fliegen. Dazu ertönt „Another Love“. Mithilfe von
Tischtennisbällen und einem Glockenspiel macht Andreas Wessels
dann selbst Musik. Gesteuert werden die Bälle mit dem Mund.
Noch eine Spur unterhaltsamer wird es, wenn Andreas Wessels
die Lieder nur mit den Tischtennisbällen darstellt. Das
Publikum liegt beim Erraten der Titel fast immer richtig. Beim
letzten Auftritt des Berliners steht ein Zuschauer im
Rampenlicht. Er balanciert unzählige Bälle auf seinem Körper.
Das Experiment gelingt dank der Mithilfe des Profis. Dem
eigentlichen Finale schließt sich wieder ein herrlicher Epilog
an. Die Mitglieder von Neelah stimmen auf der Bühne einen
letzten Song an. Die Artisten kommen nach und nach hinzu,
zeigen letzte Kostproben ihres Könnens und reihen sich in das
Schlussbild ein. Eines von so vielen Bildern an diesem Abend,
das in Erinnerung bleibt. |