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OVAG Neujahrs-Varieté 2015
www.ovag-gruppe.de - 110 Showfotos

Bad Nauheim, 8. Januar 2015: Alleine das Bild beim Finale ist eindrucksvoll. Die tiefe Bühne steht voller Artisten. Rund 40 Akteure sind es, die in den vorausgehenden mehr als dreieinhalb Stunden (Pause inklusive) ein Varietéprogramm der Spitzenklasse geboten haben. Große mongolische Truppe und Pferd inklusive. Wie vom Neujahrs-Varieté gewohnt, stimmt auch die Qualität. Nimmt man die Auszeichnungen beim Internationalen Circusfestival in Monte Carlo als Gradmesser, so gibt es 2015 einen Goldenen und jeweils zwei Silberne sowie Bronzene Clowns zu bestaunen.

Oder immerhin deren Gewinner. Wie das geht? Zum einen ist der Zeitpunkt günstig gewählt. Start der diesjährigen Spielzeit war der 7. Januar. Damit also kurz nach dem Ende der meisten Weihnachtscircusse. So konnte man einige der Artisten wenige Tage zuvor noch beim Weltweihnachtscircus in Stuttgart, bei Flic Flac in Dortmund oder bei Salto Natale in Zürich erleben. Zum Anderen steht mit der ovag Energie AG ein Veranstalter parat, dem es in erster Linie darum geht, sich bei seinen Kunden für die Treue zu bedanken. Das Varieté muss sich also nicht zwingend selbst tragen, was sich nicht zuletzt in moderaten Ticketpreisen ausdrückt. Und so kommen auch in diesem Jahr über 27.000 Abnehmer des Energieversorgers in den Genuss von hochkarätigster Artistik in wunderbarem Ambiente. Für letzteres sorgt das Dolce Theater Bad Nauheim, ein Jugendstil-Bau mit 730 Sitzplätzen. Hinzu kommen zwei Shows in Wartenberg.


Felix Gaudo, Truppe Khagdaa

Bereits in der zweiten Vorstellung läuft das Programm reibungslos ab. Es ist davon auszugehen, dass es bei der Premiere nicht anders war. Großen Anteil daran hat - neben der Regie, den Technikern für Licht und Ton sowie der Bühnencrew - Felix Gaudo. Der Conferencier aus Berlin kündigt alle Artisten so versiert an, als liefe die Show bereits seit Wochen. Zu jedem Auftritt hat er eine witzige, treffende Einleitung. Nie stellt er sich selbst in den Vordergrund. Außer wenn er eines seiner beiden Solos hat. Dann spielt er als Puppe im eigenen Mini-Theater eine hinreißende Playbackshow und schafft es, trotz beschädigter Violine ein kleines Musikstück zum Besten zu geben. Immerhin nehmen die weiteren Mitwirkenden Gaudo die erste Vorstellung ihrer Personen ab. Das tun sie nämlich mittels Videobotschaft in ihrer Muttersprache auf einer großen Leinwand selbst. Und dann wird aus dem filmischen Erlebnis ein reales, greifbares. Liveunterhaltung im besten Sinne eben. Die Truppe Khagdaa aus der Mongolei zeigt Seilspringen in den verschiedensten Varianten. Dabei beweisen sie, dass es offenbar keine größeren Schwierigkeiten bereitet, mit mehreren Personen übereinander zu springen. Ein eindrucksvolles Bild also gleich zu Beginn. Noch imposanter gerät ihr zweiter Auftritt in folkloristischen Kostümen. Geschickt wird hier mit dem Kontrast zwischen den eleganten Damen und den kräftigen Männern gespielt. Es gibt Handvoltigen und Kraftakrobatik zu sehen. Bei letzterer fliegen die Eisenkugeln oder es werden Damen zusammen mit Gewichten getragen. Gleich acht Personen sind im größten Bild vereint. Getragen wird diese Pyramide letztendlich von zwei starken Artisten.


Duo Madira, Jérôme Murat, Thu Hien

Für ordentlich Schwung sorgt Eddy Carello, der Rocker unter den Jongleuren. Mit seinen Devilsticks hält der Schweizer eine E-Gitarre in der Luft. Für „konventionelle“ Jonglagen wählt er neben Ball und Hut ein Becken sowie einen Drumstick als Requisiten. Die Bälle bei seinen Bouncing-Jonglagen landen sicher auf einer Trommel. Am effektvollsten aber ist das Spielen auf einem Schlagzeug mit Hilfe von Bällen. Neben all den gestandenen Showprofis bekommt auch der Nachwuchs seine große Bühne. Auf einem Podest mit kleinen Lämpchen und tollen Lichteffekten im Hintergrund zeigt das Duo Madira Bodenakrobatik. Marie Fausel und Diandra Lilienthal kommen von der Artisten AG der Freien Waldorfschule in Bad Nauheim. Sie machen ihre Sache schon erstaunlich professionell und haben natürlich den Heimvorteil in diesem internationalen Ensemble. Immer wieder faszinierend sind die Künste von Jérôme Murat. Als Statue mit zwei Köpfen – einer auf dem Hals, der andere in verschiedenen Positionen am Körper – lässt er sein Publikum staunen. Denn beide Gesichter erwachen zum Leben. Man ahnt zwar, welches das echte ist. Absolut sicher kann man sich da aber bei den Künsten des Franzosen nie sein. Vietnam ist die Heimat von Thu Hien. Gefördert von ihrem Vater lernte die 23-Jährige an der Circusschule von Hanoi das Balancieren auf dem Schlappseil. Heute ist sie eine große Könnerin auf dem locker hängenden Draht. Der Kopfstand sowie der Spagat auf dem Seil sind nur zwei ihrer Tricks.


Kaleen McKeeman, Shcherbak und Popov, Ernesto Planas

Den vielzitierten „Traum vom Fliegen“ hat sich Kaleen McKeeman erfüllt. Ein wenig zumindest. An zwei Strapaten erobert die Artisten den Raum über der Bühne. Ihre wunderschönen, nichtsdestotrotz kraftraubenden Flüge lassen die Zuschauer im Parkett und in den Logen darüber träumen. Ein Pferd auf einer Varietébühne ist in unseren Tagen ein höchst ungewöhnliches Bild. Die tiefe Bühne im Dolce Theater bietet den notwendigen Platz. Rosi Hochegger hingegen hat in Scout das passende Tier dazu. Denn Scout ist natürlich nicht irgendein Pferd. Der Tigerschecke kann – oder will? - zwar nicht über ein Hindernis springen. Dafür kann Scout sehr genau „sagen“, was er nicht will und herrlich lachen. Zu guter Letzt legt er sich mitten auf der Bühne schlafen. Gab es für Rosi Hochegger in Monte Carlo einen Silbernen Clown, erhielten die beiden nächsten Artisten sogar einen Goldenen. Nikolay Shcherbak und Sergey Popov sind beide Ende 20 und verdammt coole Typen. Zu „Singing in the Rain“ zeigen die muskulösen Ukrainer scheinbar ohne größere Anstrengungen phänomenale Figuren der Handstandakrobatik. Das furiose Finale ihres Auftritts ist erreicht, wenn Sergey Popov seinen Körper auf zwei Armen parallel zum Boden hält und Nikolay Shcherbak auf seinem Nacken einen Einarmer drückt. Illusionisten gibt es viele. Ernesto Planas aber hat sich eine ganz spezielle Disziplin ausgesucht. Der Kubaner lässt nämlich Schirme in den verschiedensten Größen und Farben erscheinen. Der Effekt ist ganz enorm, zumal er seine Kunststücke mit pyrotechnischen Effekten sowie Glitzerregen ergänzt. So verwandelt sich die Bühne vor der Pause in ein Meer von Schirmen.


Kai Leclerc, Rajesh Mudki, Melanie Chy

Zu Beginn des zweiten Teils steht ein weißer Flügel im Scheinwerferlicht. Katrina Graholska zeigt darauf Figuren der Kontorsion. Doch das ist nur der Auftakt ihrer eigentlichen Nummer. Denn während sie auf den Tasten spielt und dazu singt, bewegt sich der Flügel samt Katrina Graholska nach oben. Das ungewöhnliche Spektakel geht weiter. Dann dreht sich das Instrument um die eigene Achse. Die Artistin spielt ununuterbrochen, auch kopfüber. Hinter diesem musikalischen Spaß steckt Kai Leclerc. Diesen sehen wir kurz darauf mit seinem von Roncalli bekannten Deckenlauf. Auf einer unter dem oberen Bühnenende montierten Bahn spielt er kopfüber Basketball oder schüttet sich ein Glas Wasser ein. Wie der Trick funktioniert? Ganz einfach: Konrad Spezialkleber! So jedenfalls die Vermutung von Felix Gaudo, die Leclerc zurück am Boden augenzwinkernd bestätigt. Rajesh Mudki zeigt seine Kunst an einem Palmenstamm. Mallakhamb nennt sich diese Darbietung, die in seiner indischen Heimat ein traditioneller Sport ist. Mudki hat sie für die Showbühne weiterentwickelt und fasziniert in Bad Nauheim mit akrobatischen Leckerbissen an seinem hölzernen Masten. Ein schweres Motorrad ist der Unterbau für die Handstände von Melanie Chy. Diese präsentiert sie sehr cool im Stil von Lara Croft. Einarmer in den verschiedensten Varianten sind für den perfekt trainierten Körper von Melanie Chy scheinbar überhaupt kein Problem. Für den Hingucker des Abends ist damit, zumindest für den männlichen Teil des Publikums, ebenfalls gesorgt.


Sorellas, Skating Nistorovs, Dobrovitskiys

Die Damen hingegen dürfen sich an den gestählten Oberkörpern von Christoph Gobet und Jean-Rodrigue Funke erfreuen. Als Sorellas verwöhnen sie mit ihrer bekannte Nummer der Extraklasse am Trapez. Tricks und Verkauf sind vom Feinsten. Dabei darf natürlich nicht vergessen werden, dass diese schwungvolle Kür nicht ungefährlich ist. Der Auftritt des Magiers Gaetan Bloom besteht aus einem einzigen Trick, den er mit Unterstützung von zwei Zuschauern und allerlei charmanten Plaudereien auf die passende Länge bringt. Dadurch nimmt er ein wenig das Tempo aus der Show. Mag sein, dass er in seiner französischen Muttersprache noch unterhaltsamer ist. Sicher nicht ohne Grund war er acht Jahre im Pariser Crazy Horse engagiert. Immer wieder schwungvoll ist die Rollschuhartistik der Nistorovs. Sahen wir sie in Dortmund noch als Trio, sind sie jetzt wieder zu viert auf ihrer runden Plattform unterwegs. Auch hier passen Trickstärke, Verkauf und Ausstrahlung der Artisten vortrefflich zusammen. Und ein guter Schuss Nervenkitzel ist ebenfalls dabei, wenn Eugenio seine beiden Schwestern und Ehefrau Alina durch die Luft schleudert. Elvis Presley hätte in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag gefeiert. Bad Nauheim wurde während seines Militärdiensts im benachbarten Friedberg sein „European Home“. Passenderweise wurde als Schlussnummer eine Darbietung gewählt, die sich ganz dem Rock'n'Roll verschrieben hat. Die Dobrovitskiys haben nicht nur ihr Outfit der Hochzeit dieses Musikstils angepasst, sondern arbeiten zu Stücken des Genres. Das tun die fünf Russen zwischen zwei Fangstühlen. Für die beiden Fliegerinnen und den Flieger ergeben sich somit spannende Varianten, um von einem Fänger zum anderen zu kommen. Und die Dobrovitskiys lassen kaum eine aus. So kommen wir in den Genuss einer rockigen Flugshow, die in Monte Carlo mit einem Silbernen Clown ausgezeichnet wurde.

Angesichts so vieler Spitzenleistungen wird wohl jeder Zuschauer seinen eigenen Favoriten haben. Bei der 13. Ausgabe darf dieser auf einem Stimmzettel festgehalten werden. Denn in diesem Jahr wird erstmalig ein Publikumspreis vergeben. Was bleibt also als Fazit unter diesem langen – aber mehr als kurzweiligen - Abend des artistischen Hochgenusses? Auf jeden Fall der Ratschlag, sich das einzigartige Spektakel nicht entgehen zu lassen. Das ist allerdings leichter gesagt als getan, denn die Vorstellungen sind bereits lange vor Beginn der Spielzeit ausverkauft. Also am besten gleich an Tickets für 2016 denken. Dann wird sogar ein paar Tage länger gespielt. Die Besetzung ist ebenfalls bereits bekannt. Petra und Roland Duss sind mit ihren Seelöwen dabei, genauso wie Leosvel und Diosmani mit Akrobatik am Masten. Wir freuen uns drauf!

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Text und Fotos: Stefan Gierisch