Dieser
führte den Franzosen von der Paulskirche zum Dom. Oder die
Auszeichnung mit der Ehrenplakette der Stadt Frankfurt (2000)
sowie mit der Goethe-Plakette des Landes Hessen (2007). Oder die
ausführlich zelebrierten Premieren mit allem, was Rang und Namen
hat in der Gesellschaft der Rhein-Main-Region. Doch im Kern
seines Wesens war und ist der Tigerpalast einfach da. Als nicht
mehr wegzudenkender Bestandteil der – je nach Sichtweise –
Kultur- oder Unterhaltungsszene Frankfurts. Zuverlässig öffnen
sich die Türen und entführen in eine Welt, die so ganz anders
ist als das Umfeld, in dem das Theater steht.

Tigerpalast in der Heiligkreuzgasse in Frankfurt am Main
In der
Heiligkreuzgasse befinden sich neben dem Varieté unter anderem
Gerichtsgebäude und ein ehemaliges Polizeigefängnis. Die
parallel verlaufende Zeil ist an ihrem östlichen Ende ein nicht
eben einladender Ort. Dass dort ein Polizeirevier angesiedelt
ist, hat sicher seine Gründe. Das alles spielt keine Rolle mehr,
wenn man seinen Mantel an der Garderobe abgegeben hat und an
seinen Sitzplatz im Saal mit dieser einzigartigen Atmosphäre
geleitet wurde. Schnell steht das bestellte Getränk auf dem
runden Tisch mit der markanten Lampe. Die vierköpfige Band
spielt erste Stücke und bald öffnet sich der bunte Vorhang, um
die Bühne für Stars des internationalen Varietés freizugeben.
Hier kann man sie aus nächster Nähe erleben, ohne große
Inszenierung, ohne Schnörkel. Die jeweilige Persönlichkeit und
ihre Kunst sind es, die überzeugen müssen. Und natürlich tun sie
das auch.

Finale
der Jubiläumsrevue
Dafür,
dass das so ist, sorgt insbesondere Margareta Dillinger. Sie ist
Direktorin und künstlerische Leiterin. Sie hält die
Artistenfamilie des Tigerpalast zusammen und hält Ausschau nach
neuen Mitgliedern. Ihr Pendant ist Johnny Klinke, ebenfalls
Direktor und ein Frankfurter Urgestein. Gemeinsam mit dem viel
zu früh verstorbenen Matthias Beltz haben sie das Varieté
Theater gegründet und führen es bis heute erfolgreich. Als
geschäftsführender Gesellschafter fungiert Robert Mangold. Der
gelernte Hotelier und Gastronom kümmert sich insbesondere um die
mit Sternen dekorierte Gastronomie im Haus des Varietés sowie im
Palmengarten. Dieses Trio steuert den Tigerpalast bis heute
durch ruhige und stürmische Zeiten. Insbesondere die
Corona-Krise wurde zu einer existenziellen Bedrohung. Die
Pandemie liegt hinter uns, ihre (wirtschaftlichen) Auswirkungen
werden noch lange nachwirken. Von diesen Herausforderungen soll
das Publikum möglichst wenig mitbekommen. Es soll für ein paar
Stunden den Alltag und seine Sorgen vergessen. Tauchen wir also
ein in die Jubiläumsrevue 2023/24.
 
Ewunia,
Simone Al Ani
Wie
gehabt, gibt es während der Spielzeit Veränderungen in der
Besetzung, über die auf der Homepage informiert wird. Die
besuchte Vorstellung ist eine Mischung aus neuen Gesichtern und
Artisten, die von vorherigen Besuchen wohl vertraut sind. Ihr
Debüt auf dieser Bühne darf Ewunia feiern. Die in Frankreich
lebende Künstlerin mit polnischen Wurzeln ist Schauspielerin,
Autorin und Chanson-Sängerin. Mit dem Song „Willkommen“ aus dem
Film „Cabaret“ eröffnet sie das Programm. Mit weiteren Stücken,
etwa von Edith Piaf oder aus ihrer polnischen Heimat, begleitet
sie uns durch den Abend. Ewunia bezaubert nicht nur mit ihrer
wunderbaren Stimme und wechselnden Kleidern, sondern ebenfalls
mit ihrer sympathischen Art. Während ihrer Lieder geht sie gerne
auf Tuchfühlung mit dem Publikum im Saal. Die Künstlerkollegen
kündigt sie mit einem Mix aus Englisch und Deutsch an. Den
Auftakt macht Simone Al Ani. Der Italiener fordert sofort die
Konzentration der Zuschauer. Ganz in schwarz gekleidet, lässt er
zwei Ringe auf magische Weise scheinbar ihre eigenen Wege
nehmen. Noch faszinierender sind seine Manipulationen mit
Glaskugeln, die er gegen Ende der Show zeigt. Auch diese haben
scheinbar ein Eigenleben. Sie verschwinden auf wundersame Weise,
rollen über den Unterarm von Simone Al Ani oder entwickeln solch
einen starken Drang Richtung Bühnendecke, dass er sie mit beiden
Händen nach unten drücken muss.
  
Gabriel
Grandpierre, Elena Gambi, Ruslan Fomenko
Mit der
Schwerkraft spielt auch Gabriel Grandpierre. Als Equilibrist und
Kontorsionist beherrscht er streng genommen die Kunst des
Gleichgewichts und des Sich-Verbiegens. Doch irgendwie schafft
es der gerade volljährig gewordene Ungar, die Erdanziehung
auszutricksen. Anders scheinen seine variantenreichen Handstände
zu ruhiger Musik nicht möglich. Ein junger Mann, der seinen Weg
gehen wird. Ein Engagement im Tigerpalast macht sich in seinem
künstlerischen Lebenslauf in jedem Fall sehr gut. Die vierte im
Bunde der neuen Gesichter ist Elena Gambi. Sie hat eine
Ballett-Ausbildung an der Londoner Royal Academy absolviert.
Zudem ist die blonde Spanierin Jongleuse. Beides verbindet sie
in ihrem Auftritt, in dem sie tänzerisch mit Reifen und Bällen
jongliert. Die Choreografie zu dieser Darbietung stammt von
Aurelia Cats, die mit ihrer Kür am Trapez auch schon hier zu
erleben war. Ein Frankfurt-Rückkehrer ist Ruslan Fomenko. Mit
seinen unbekümmerten Jonglagen voller Lebensfreude im bunten
folkloristischen Kostüm steuert er die fröhlichste Nummer des
Abends bei. Einzigartig sind seine Requisiten. Dabei handelt es
sich um jeweils zwei Bälle, die mit einer Schnur verbunden sind.
Etliche davon wirft der Artist aus Kiew gleichzeitig nach oben,
um sie anschließend sicher wieder aufzufangen. Der Raum über der
Bühne reicht dafür gerade so aus.
  
Csaba
Méhes, Alyona Pavlova, Nathalie Enterline
Immer mal
wieder zu Gast im Tigerpalast ist Csaba Méhes. Er versucht sich
als Violonist. Doch mit mehreren Bögen und keiner Geige wird das
schwierig. Also wechselt er ans Klavier, um dort die „Forelle“
von Franz Schubert zu spielen, was letztendlich auch gelingt.
Doch dazwischen gibt es etliche Missgeschicke, die natürlich so
gewollt sind. Denn der Herr im Anzug, mit Brille und streng
zurückgekämmten Haaren ist Pantomime. Csaba Méhes versteht es
genial, Panne an Panne zu reihen und damit für größte Heiterkeit
zu sorgen. Wenn der Hocker zu dicht am Klavier steht, wird
einfach das Instrument ein wenig nach hinten geschoben und schon
passt alles. Mit seinem feinen Spiel erobert sich der
vermeintliche Tollpatsch die Sympathien des Publikums.
Komplettiert wird die aktuelle Show von zwei Frauen, die es jede
auf ihre eigenen Weise verstehen, den Theaterraum ganz für sich
einzunehmen. Da ist zunächst Alyona Pavlova. Für ihre Darbietung
am Luftring müssen ein paar der Gäste ihren Platz wechseln. Denn
sie fliegt mitten durch den Saal. Dabei weht ihr blondes Haar.
Es sind traumhafte Flugsequenzen mit schwierigsten und nicht
ungefährlichen Tricks. Doch bei Alyona Pavlova sieht alles so
leicht aus - ob sie mit dem Genick oder den Fersen am Ring hängt
oder aber Umschwünge zeigt. Immer ist die quirlige Akrobatin in
Bewegung, immer hält sie den Kontakt zu den Zuschauern am Boden.
Es ist ein einziger Rausch. Die traumhafte Choreografie dazu
stammt von ihrem russischen Landsmann Alexander Grimaylo. Die
andere Frau ist Nathalie Enterline. Sie schafft es von der Bühne
aus, die gespannte Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu
ziehen. Bei mir erzeugt sie das, was man in ihrer Heimat New
York „goosebumps“ nennt, also Gänsehaut. Da steht nicht
irgendwer im Scheinwerferlicht, sondern eine wahre Legende der
internationalen Artistenwelt. Den Einstieg macht sie als Charlie
Chaplin. Dann verwandelt sie sich in eine Tänzerin par
excellence. Mit einer unglaublichen Körperbeherrschung und
-spannung wirbelt sie in einer einzigartigen Choreographie über
die Bühne. Twirlingstab und Hut werden dabei für Jonglagen
eingesetzt. Ihr rotes Kostüm passt perfekt, ihre raumgreifende
Präsenz komplettiert den Hochgenuss. Auf diesen Act folgt das
Finale, in dem sich alle Mitwirkenden ausführlich verabschieden.
Auch die den ganzen Abend über fantastisch spielende Band
bekommt einen großen Applaus. Ebenso die Bühnencrew und die
Techniker. |