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Friedrichsbau - "Utopia"
www.friedrichsbau.de - 106 Showfotos

Stuttgart, 16. September 2022: In diesem Herbst bricht das Stuttgarter Friedrichsbau-Varieté aus den etablierten Formen seiner Eigenproduktionen aus. Keine Magic-Show wird geboten, auch keine glamouröse Revue. Stattdessen hat Regisseur Ralph Sun endlich wieder einmal eine Show in ganz anderen Farben konzipiert. Poetisch und nachdenklich geht das Ensemble auf eine Reise, auf die Suche nach einem idealen „Utopia“. Zeremonienmeister ist Merlin Johnson, der schon mehrfach das prägende Gesicht in diesem Hause war. Das Programm-Konzept musste Corona-bedingt für lange Zeit aufgeschoben werden.

Nun wirkt es bei seinem Start wie ein aktueller Kommentar zur Lage der Welt, in der eine nie dagewesene Krise die nächste jagt – mit ungewissem Ausgang. „Utopia – Artistische Visionen“ bleibt dabei optimistisch und lebensbejahend, hält ein gutes Ende für möglich. In seiner Ansprache zur Premierenvorstellung erklärt Direktor Timo Steinhauer in diesem Sinne, dass Licht findet, wer Licht sucht. Es gebe einen Weg zu Utopia.


Oksana Sobolieva

Während Sängerin Oksana Sobolieva, im gleißenden Scheinwerferkegel als große Diva ins rechte Licht gesetzt, mit ihrer hervorragenden Stimme einen ruhigen Song interpretiert, zieht das Ensemble durch den Besuchereingang in den Saal ein. „Zeit, bitte bleib stehen“, lautet der nächste Titel.


Monique Schröder, Martin Frenette, Ofelia Grey

Im ersten artistischen Auftritt des Abends präsentiert Monique Schröder Salti und Überschläge auf und mit einem Gymnastikball, lässt bodenakrobatische und auch antipodistische Elemente in ihre Arbeit einfließen. Merlin Johnson formuliert daraufhin die Vorstellung von Utopia als den Gedanken an einen perfekten Ort. Und erläutert, dass das Bühnenbild mit 180 Notizzetteln gespickt ist, auf denen Menschen ihre Vision von Utopia niedergeschrieben haben – von einem unabhängigen, selbstbestimmten und freien Leben. Ganz eigene Akzente setzt jedenfalls Ofelia Grey mit ihrer außergewöhnlichen Hula-Hoop-Nummer. Dabei bewegt sie in ihrer tänzerischen Choreographie nur einen einzigen Reifen, dies aber die ganze Darbietung hindurch, ohne das Requisit einmal abzusetzen. Auf poetische Momente – Merlin Johnson zaubert einen kleinen Kuchen mit brennender Kerze und eine Taube aus einem Taschentuch hervor – folgt eine wilde Party des ganzen Ensembles zum Song “It's my life”, gesungen von Oksana Sobolieva. Dann wieder leise Töne. Martin Frenette präsentiert am Doppelschwungseil eine ruhige Arbeit zu Klaviermusik. Bei seinen Verstrickungen ins Seil, einem Spagat und dem abschließenden Gleiten in den Genickhang lässt er auch seine Ausbildung als Tänzer erkennen und beweist Beweglichkeit.


Konstantin Korostylenko, Merlin Johnson, Jaana Felicitas

In einem eindrucksvollen Monolog bezeichnet Merlin Johnson den Weg des Künstlers als „gelebte Utopie“. Er sei verheiratet und habe mit seiner Frau zwei Kinder und zwei Kraftfahrzeuge, darunter ein Wohnmobil. Einerseits sei er ein Varieté-Star, andererseits bedeute dieses Leben auch „Anmut unter Druck“, da man immer wieder nicht wisse, ob und wo man in einigen Monaten Arbeit haben wird. Mit Jaana Felicitas steht eine Künstlerin zur Verfügung, die 2022 einen aktuellen Titel als deutsche Meisterin der Zauberkunst vorzuweisen hat. Ihre zunächst recht kleinteilige Arbeit ist aber im hinteren Bereich des Saales leider schwer zu verfolgen. Dabei lässt sie auf magische Weise Eiszapfen aus einer Ginflasche erscheinen. In einem weiteren Song besingt Merlin Johnson seinen „Einklang mit dem Kosmos“. Nochmal ruhige Klaviertöne erklingen bei den Jonglagen von Konstantin Korostylenko. In seiner getanzten Choreographie setzt er auf eine außergewöhnliche Jonglagetechnik, die eine besonders hohe Zahl von Utensilien erlaubt. Dabei schickt er bis zu zehn Bälle jeweils zu mehreren gebündelt in die Luft und fängt diese nach kurzen Touren wieder auf. Nach der Pause gehört die Bühne nochmal der Zauberin Jaana Felicitas. An einem weißen Stuhl lässt sie – ohne irgendetwas hinter einem Tuch oder ähnlichem zu verdecken – eine Strebe der Lehne verschwinden und eine neue erscheinen. Und dann bringt sie den Stuhl zum Schweben, lässt ihn raumgreifend und mit vielen Drehungen und Wendungen über der Bühne fliegen.


Ya Mayka, Gabriel Drouin, Merlin Johnson

Merlin Johnson macht deutlich, dass Tänzer nur von denen für verrückt gehalten werden, die die Musik nicht hören. Er stellt noch einmal Beschreibungen von Utopien vor, die in der Pause gesammelt wurden. Und spricht über den Weg darüber, zu sich selbst zu kommen. Dies müsse eigentlich zu Hause in Schwaben gelingen und nicht gerade im Urlaub auf Bali, findet er. Spricht es und steigert sich in eine Wutrede über die chaotischen Stuttgarter Verkehrsverhältnisse, bis er gebremst wird. „Omm“ ist der Ausruf, der ihn wieder auf den meditativen Weg bringt. Ya Mayka zelebriert bei ihrer Luftakrobatik in einer großen, silberfarbenen Spirale erstaunliche Bewegungen und Kreisel, die mit starkem Applaus quittiert werden. Nach Merlin Johnsons Song über die großen Momente des Lebens fasziniert Gabriel Drouin – ein Mann mit kräftigem Vollbart und im roten Kleid – bei seinen langen und rasanten Touren im Cyrrad, die von eindringlicher, schneller Musik begleitet werden. Großer Beifall ist der Lohn. Auch bei diesem Re-Engagement im Friedrichsbau darf für Merlin Johnson das Figurentheater nicht fehlen, bei dem seine Füße zu Akteuren werden, zu Mann und Frau. Als die größte Utopie bezeichnet er die vollkommene Liebe, egal in welcher Ausprägung. Dabei dürfe man sich selbst nicht aufgeben.


Ofelia Grey, "Geburtsszene" mit Ensemble, Marco Noury

Recht kurz fällt die Jonglage von Ofelia Grey mit drei Stäben aus. Der wohl stärkste Moment dieser Show gehört Marco Noury. Seine bekannte, kraftstrotzende Arbeit an den Strapaten wird durch die gesangliche Begleitung von Oksana Sobolieva weiter aufgewertet, ja durch die grandiose Interpretation der Hymne „Rise like a Phoenix“ zu einem Gesamtkunstwerk veredelt. Die Schlussnummer gehört jedoch Inna Zobenko, die in einer Spielszene zunächst inmitten des Ensembles scheinbar ein Kind gebiert – die Geburt als ultimatives Symbol der Hoffnung auf eine gute Zukunft. Dann kniet die Artistin auf einer Drehscheibe und dreht sich in aberwitzigem Tempo und mit unglaublicher Ausdauer um sich selbst. Die blonden Haare fliegen nur so. Später richtet sich die gebürtige Ukrainerin sogar noch auf und steht auf der rotierenden Scheibe. Ihr Gleichgewicht ist mehr als ausgeprägt, ein Schwindelgefühl scheinbar nicht vorhanden. Im Grunde sind es nur zwei Tricks, aus denen diese Darbietung besteht, aber dennoch ist sie grandios. Singend zieht das Ensemble wieder aus dem Saal aus. Merlin Johnson verabschiedet uns mit nachdenklichen Worten. Es sei der Menschheit gelungen, Berge zu vermessen und Ozeane zu durchqueren. Dank moderner Technik könne jeder Mensch mit jedem anderen kommunizieren, die Sterne schienen erreichbar. Und trotzdem stelle sich die Frage, ob die Menschheit es ins nächste Jahrhundert schafft. Seine “Utopia”: eine Welt, in der es für alle reicht und in der alle gemeinsam leben können.

Die Menschen im Saal spüren, dass sie an diesem Premierenabend etwas Besonderes, Außergewöhnliches erlebt haben. Keinen Varietéabend wie jeden anderen, sondern besonders berührende, emotionale, intensive Stunden. „Utopia – Artistische Visionen“ ist Varieté-Kunst mit Anspruch. Standing Ovations von großen Teilen des Publikums – eine Reaktion, zu der sich das Friedrichsbau-Publikum nur sehr selten hinreißen lässt – sprechen eine deutliche Sprache.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Moll