Nun wirkt es
bei seinem Start wie ein aktueller Kommentar zur Lage der Welt, in der
eine nie dagewesene Krise die nächste jagt – mit ungewissem Ausgang.
„Utopia – Artistische Visionen“ bleibt dabei optimistisch und
lebensbejahend, hält ein gutes Ende für möglich. In seiner Ansprache zur
Premierenvorstellung erklärt Direktor Timo Steinhauer in diesem Sinne, dass Licht findet, wer Licht
sucht. Es gebe einen Weg zu Utopia.
Oksana Sobolieva
Während Sängerin
Oksana Sobolieva, im gleißenden Scheinwerferkegel als große Diva ins
rechte Licht gesetzt, mit ihrer hervorragenden Stimme einen ruhigen Song
interpretiert, zieht das Ensemble durch den Besuchereingang in den Saal
ein. „Zeit, bitte bleib stehen“, lautet der nächste Titel.
Monique
Schröder, Martin Frenette, Ofelia Grey
Im ersten
artistischen Auftritt des Abends präsentiert Monique Schröder Salti und
Überschläge auf und mit einem Gymnastikball, lässt bodenakrobatische und
auch antipodistische Elemente in ihre Arbeit einfließen. Merlin Johnson
formuliert daraufhin die Vorstellung von Utopia als den Gedanken an
einen perfekten Ort. Und erläutert, dass das Bühnenbild mit 180
Notizzetteln gespickt ist, auf denen Menschen ihre Vision von Utopia
niedergeschrieben haben – von einem unabhängigen, selbstbestimmten und
freien Leben. Ganz eigene Akzente setzt jedenfalls Ofelia Grey mit ihrer
außergewöhnlichen Hula-Hoop-Nummer. Dabei bewegt sie in ihrer
tänzerischen Choreographie nur einen einzigen Reifen, dies aber die
ganze Darbietung hindurch, ohne das Requisit einmal abzusetzen. Auf
poetische Momente – Merlin Johnson zaubert einen kleinen Kuchen mit
brennender Kerze und eine Taube aus einem Taschentuch hervor – folgt
eine wilde Party des ganzen Ensembles zum Song “It's my life”, gesungen
von Oksana Sobolieva. Dann wieder leise Töne. Martin Frenette
präsentiert am Doppelschwungseil eine ruhige Arbeit zu Klaviermusik. Bei
seinen Verstrickungen ins Seil, einem Spagat und dem abschließenden
Gleiten in den Genickhang lässt er auch seine Ausbildung als Tänzer
erkennen und beweist Beweglichkeit.
Konstantin
Korostylenko, Merlin Johnson, Jaana Felicitas
In einem
eindrucksvollen Monolog bezeichnet Merlin Johnson den Weg des Künstlers
als „gelebte Utopie“. Er sei verheiratet und habe mit seiner Frau zwei
Kinder und zwei Kraftfahrzeuge, darunter ein Wohnmobil. Einerseits sei
er ein Varieté-Star, andererseits bedeute dieses Leben auch „Anmut unter
Druck“, da man immer wieder nicht wisse, ob und wo man in einigen
Monaten Arbeit haben wird. Mit Jaana Felicitas steht eine Künstlerin zur
Verfügung, die 2022 einen aktuellen Titel als deutsche Meisterin der
Zauberkunst vorzuweisen hat. Ihre zunächst recht kleinteilige Arbeit ist
aber im hinteren Bereich des Saales leider schwer zu verfolgen. Dabei
lässt sie auf magische Weise Eiszapfen aus einer Ginflasche erscheinen.
In einem weiteren Song besingt Merlin Johnson seinen „Einklang mit dem
Kosmos“. Nochmal ruhige Klaviertöne erklingen bei den Jonglagen von
Konstantin Korostylenko. In seiner getanzten Choreographie setzt er auf
eine außergewöhnliche Jonglagetechnik, die eine besonders hohe Zahl von
Utensilien erlaubt. Dabei schickt er bis zu zehn Bälle jeweils zu
mehreren gebündelt in die Luft und fängt diese nach kurzen Touren wieder
auf. Nach der Pause gehört die Bühne nochmal der Zauberin Jaana
Felicitas. An einem weißen Stuhl lässt sie – ohne irgendetwas hinter
einem Tuch oder ähnlichem zu verdecken – eine Strebe der Lehne
verschwinden und eine neue erscheinen. Und dann bringt sie den Stuhl zum
Schweben, lässt ihn raumgreifend und mit vielen Drehungen und Wendungen
über der Bühne fliegen.
Ya Mayka,
Gabriel Drouin, Merlin Johnson
Merlin Johnson
macht deutlich, dass Tänzer nur von denen für verrückt gehalten werden,
die die Musik nicht hören. Er stellt noch einmal Beschreibungen von
Utopien vor, die in der Pause gesammelt wurden. Und spricht über den Weg
darüber, zu sich selbst zu kommen. Dies müsse eigentlich zu Hause in
Schwaben gelingen und nicht gerade im Urlaub auf Bali, findet er.
Spricht es und steigert sich in eine Wutrede über die chaotischen
Stuttgarter Verkehrsverhältnisse, bis er gebremst wird. „Omm“ ist der
Ausruf, der ihn wieder auf den meditativen Weg bringt. Ya Mayka
zelebriert bei ihrer Luftakrobatik in einer großen, silberfarbenen
Spirale erstaunliche Bewegungen und Kreisel, die mit starkem Applaus
quittiert werden. Nach Merlin Johnsons Song über die großen Momente des
Lebens fasziniert Gabriel Drouin – ein Mann mit kräftigem Vollbart und
im roten Kleid – bei seinen langen und rasanten Touren im Cyrrad, die von
eindringlicher, schneller Musik begleitet werden. Großer Beifall ist der
Lohn. Auch bei diesem Re-Engagement im Friedrichsbau darf für Merlin
Johnson das Figurentheater nicht fehlen, bei dem seine Füße zu Akteuren
werden, zu Mann und Frau. Als die größte Utopie bezeichnet er die
vollkommene Liebe, egal in welcher Ausprägung. Dabei dürfe man sich
selbst nicht aufgeben.
Ofelia Grey,
"Geburtsszene" mit Ensemble, Marco Noury
Recht kurz fällt
die Jonglage von Ofelia Grey mit drei Stäben aus. Der wohl stärkste
Moment dieser Show gehört Marco Noury. Seine bekannte, kraftstrotzende
Arbeit an den Strapaten wird durch die gesangliche Begleitung von Oksana
Sobolieva weiter aufgewertet, ja durch die grandiose Interpretation der
Hymne „Rise like a Phoenix“ zu einem Gesamtkunstwerk veredelt. Die
Schlussnummer gehört jedoch Inna Zobenko, die in einer Spielszene
zunächst inmitten des Ensembles scheinbar ein Kind gebiert – die Geburt
als ultimatives Symbol der Hoffnung auf eine gute Zukunft. Dann kniet
die Artistin auf einer Drehscheibe und dreht sich in aberwitzigem Tempo
und mit unglaublicher Ausdauer um sich selbst. Die blonden Haare fliegen
nur so. Später richtet sich die gebürtige Ukrainerin sogar noch auf und
steht auf der rotierenden Scheibe. Ihr Gleichgewicht ist mehr als
ausgeprägt, ein Schwindelgefühl scheinbar nicht vorhanden. Im Grunde
sind es nur zwei Tricks, aus denen diese Darbietung besteht, aber
dennoch ist sie grandios. Singend zieht das Ensemble wieder aus dem Saal
aus. Merlin Johnson verabschiedet uns mit nachdenklichen Worten. Es sei
der Menschheit gelungen, Berge zu vermessen und Ozeane zu durchqueren.
Dank moderner Technik könne jeder Mensch mit jedem anderen
kommunizieren, die Sterne schienen erreichbar. Und trotzdem stelle sich
die Frage, ob die Menschheit es ins nächste Jahrhundert schafft. Seine
“Utopia”: eine Welt, in der es für alle reicht und in der alle gemeinsam
leben können. |