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Hansa-Varieté - Velvet
https://velvettheshow.de/

Hamburg, 9. August 2022: Es ist sieben Jahre her, seit wir die ersten Trailer von „Velvet“ sahen. Und die machten Lust auf diese Show, die den Discosound der 1970er und 80er Jahre mit Varietékunst zu verbinden versprach. Doch bisher war leider der Weg zu weit, um die Produktion live zu sehen. Denn geschaffen wurde sie ursprünglich für ein Festival in Adelaide. Später war sie auf einer langen Tour durch Australien und Neuseeland etwa in Sydney, Brisbane und Perth zu sehen. Es folgte ein Gastspiel im schottischen Edinburgh.

Verstärkt wurde die Neugier dadurch, dass der deutsche Artist Mirko Köckenberger überraschenderweise zum Original-Cast auf dem fernen Kontinent gehörte. Nun endlich ist „Velvet“ auch in Deutschland zu erleben, und damit bot sich die Gelegenheit zu einem Besuch. Die Macherinnen und Macher des St. Pauli-Theaters holten die Show als Gastspiel ins Hansa-Varieté beim Hamburger Hauptbahnhof. Drei Künstler sind noch aus dem ersten Cast dabei: Protagonist Craig Reid mit seiner Hula-Hoop-Nummer, Sänger Tom Oliver und eben Mirko Köckenberger. Ursprünglich war „Velvet“ vor allem eine Musikshow, die der australischen Disco-Sängerin Marcia Hines zu einem erfolgreichen Comeback verhalf. Ihr Name war es wohl auch, der das Publikum in großer Zahl anzog. In Hamburg ist es das frühere „Weather Girl“ Ingrid Arthur („It’s raining men“), das den Part der Show-Diva übernimmt. In Australien folgte „Velvet“ einem dort üblichen Format als 70-minütige Vorstellung ohne Pause; für Hamburg wurde das Programm um zusätzliche Varieté-Acts ergänzt und auf etwa 85 Minuten ausgebaut, nun mit einer Pause. Dennoch wird vielleicht enttäuscht werden, wer in erster Linie eine dichte Abfolge akrobatischer Nummern erleben möchte, die durch eine Art musikalische Conférence in einen Zusammenhang gestellt werden.


Nostalgisches Flair im Hansa-Varieté

„Velvet“ bleibt dem Grunde nach auch in Deutschland eine Gesangs- und Tanzshow, die durch Varieté-Elemente ergänzt wird. Wer sich darauf unbefangen einlässt, erlebt einen begeisternden, mitreißenden Abend – kurzweilig, sexy und witzig. Die lose Handlung erzählt davon, wie ein schüchterner junger Mann in der Großstadt in einen Nachtclub gerät - angelehnt an das berühmte Studio 54 - und dort sein wahres Ich erkennt und auslebt. Und dies im nostalgischen Ambiente des Hansa-Theatersaals, das seit 1953 praktisch unverändert ist und inzwischen unter Denkmalschutz steht. Zum besonderen Flair des Raumes, in dem die Besucher hinter Tischen in ansteigenden Reihen sitzen, gehören die Schalter an allen Plätzen, mit denen während der Show nach Kellnerin oder Kellner gerufen kann. Der Speise- und Getränke-Service funktioniert im Übrigen tadellos.


Mirko Köckenberger, Ingrid Arthur, Marion Crampe

„Dance, Boogie Wonderland“, schmettert Ingrid Arthur gemeinsam mit den beiden Backgroundgirls zum Einzug der Artisten auf die Bühne, auf der durch die Rückwände mit zahlreichen Leuchtelementen ebenso einfach wie effektvoll Club-Atmosphäre geschaffen wird. Mirko Köckenberger eröffnet das artistische Programm. Er wechselt das Kostüm des Nachtclub-Pagen gegen ein Disco-Outfit mit glitzernder Jacke – im Handstand legt er die rote Hose ab, im Schulterstand zieht er stattdessen eine graue an. Diese kleine Striptease-Einlage des gutaussehenden Artisten heizt natürlich gleich die Stimmung an, ganz abgesehen von seinem Können, das er bei Handständen und Rola-Rola-Balancen auf einem Kofferstapel beweist. Neben Ingrid Arthur gehört weiterhin auch Sänger Tom Oliver zum Ensemble. Der junge Australier, stilvoll mit Sakko und Krawatte, interpretiert die Ballade „If you could read my mind“ und sorgt damit für einen ruhigeren Moment. Äußerst sinnlich und im sexy Outfit kreist die Französin Marion Crampe beim Poledance unablässig um ihr Requisit, das Publikum geht begeistert mit.


Maryna Sakhokiia und Chris Tees, Craig Reid

Im schnellen Wechsel folgt auf ihre Nummer die Rollschuhkür von Maryna Sakhokiia und Chris Tees. Die Akrobatin und der frühere Eiskunstläufer sind miteinander verheiratet und haben sich eine gemeinsame Existenz auf Rollen aufgebaut. Dabei enthält ihre rasante Nummer durchaus auch Tricks, die man aus den oft vergleichbaren Darbietungen des Genres so nicht kennt. An den Hula Hoops versucht sich zunächst Mirko Köckenberger, ehe Craig Reid als "Zuschauer" auf die Bühne kommt und ihm die Requisiten abnimmt. Aus dem scheinbar schüchternen Nachtclub-Besucher wird schnell ein extrovertierter Selbstdarsteller. Reid reißt sich die Alltagskleidung mit Hawaiihemd vom Leib, hervor kommt ein hautenger Badeanzug. Dass er Rundungen und Pölsterchen anstelle eines makellos durchtrainierten Akrobatenkörpers zu bieten hat, macht ihm gar nichts aus. Er lässt virtuos die Reifen kreisen und sich dabei sogar an einer Handschleife in die Höhe ziehen.


Tom Oliver, Topp Doggz mit Tänzerinnen und Ingrid Arthur, Joannie Labelle

Die Gesangsnummer „Fantasy“ von „Earth, Wind and Fire“ mit Ingrid Arthur und Tom Oliver leitet über zu den Topp Doggz mit ihren beeindruckenden Breakdance-Moves. Beim Schlusstrick kreiselt einer der beiden Tänzer sehr ausdauernd im Kopfstand und richtet sich dabei aus einer gebeugten Position in den Stand auf. Umgekehrt wie beim Song zuvor beginnt beim nächsten Gesangsblock Tom Oliver und es kommt Ingrid Arthur später dazu. „Now you got the best of me, come on and take the rest of me“, lautet der bekannte Refrain – die Musik swingt, sie groovt, sie macht einfach Laune. Dazu gibt es akrobatische Hebefiguren von Mirko Köckenberger und Marion Crampe. Nach der Pause, im zweiten Teil der Show, rückt die Musik noch stärker in den Vordergrund. Auf „Don’t leave me this way“, von Tom Oliver interpretiert, folgen die Drumshow von DJane Joannie Labelle mit im Dunkeln leuchtenden Becken – und schließlich erhalten die beiden „Backgrounderinnen“ Holly Sheils und Angelique Cassimatis ihren großen Auftritt mit „Turn the Beat around“. DJane Labelle gesellt sich mit einer elektronischen Trommel dazu. Zum Song „Super Natural“ von Ingrid Arthur und Tom Oliver zeigt das Ensemble eine Art Modenschau mit leuchtenden Hüten. Dann doch wieder Akrobatik: Marion Crampe kreiselt auf sinnliche Weise im Zopfhang und zeigt dabei Figuren wie beispielsweise den Spagat. Bei den nächsten Gesangsnummern macht Tom Oliver seine vollständige Entwicklung zum bunten Paradiesvogel durch und performt im Glitzeroutfit mit Federschmuck am Kragen. Die Stimmung steigt weiter bei der akrobatischen Quickchange-Nummer, die sich Mirko Köckenberger und Craig Reid gemeinsam erarbeitet haben – ein männliches Duo hat in diesem Genre wohl absoluten Seltenheitsfaktor. Vom Outfit à la Stuntman Evel Knievel bis zum Disco-Glitzerdress reichen die Kostüme, dann wechseln beide im Zwei-Mann-Hoch zeitgleich die Bekleidung zum Matrosenanzug. Schließlich erleben wir Reid im Smoking und Köckenberger im Hochzeitskleid. Auf diese überaus witzige Einlage folgt ein melancholischer Moment, wenn Tom Oliver sehnsuchtsvoll und schmerzerfüllt „Staying Alive“ auf der Ukulele interpretiert, nur von Joannie Labelle an den Trommeln begleitet. Zum Abschluss gibt es aber selbstverständlich nochmal eine ordentliche Packung Disco-Gassenhauer – und zunehmend hält es die Besucher kaum noch auf den Sitzen. Sie springen auf, tanzen an ihren Plätzen und applaudieren im Stehen. Die Stimmung im Hansa-Saal kocht. Und aufgrund des großen Erfolges in Hamburg wurde die Spielzeit inzwischen bis zum 16. Oktober verlängert.

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Text: Markus Moll; Fotos: Oliver Fantitsch (6), Markus Moll (3), Mark Turner (1), Wilde (1), Maryna Sakhokiia (1)