Verstärkt wurde die Neugier dadurch, dass der deutsche Artist Mirko
Köckenberger überraschenderweise zum Original-Cast auf dem fernen
Kontinent gehörte. Nun endlich ist „Velvet“ auch in Deutschland zu
erleben, und damit bot sich die Gelegenheit zu einem Besuch. Die
Macherinnen und Macher des St. Pauli-Theaters holten die Show als
Gastspiel ins Hansa-Varieté beim Hamburger Hauptbahnhof. Drei Künstler
sind noch aus dem ersten Cast dabei: Protagonist Craig Reid mit seiner
Hula-Hoop-Nummer, Sänger Tom Oliver und eben Mirko Köckenberger.
Ursprünglich war „Velvet“ vor allem eine Musikshow, die der
australischen Disco-Sängerin Marcia Hines zu einem erfolgreichen
Comeback verhalf. Ihr Name war es wohl auch, der das Publikum in großer
Zahl anzog. In Hamburg ist es das frühere „Weather Girl“ Ingrid Arthur
(„It’s raining men“), das den Part der Show-Diva übernimmt. In
Australien folgte „Velvet“ einem dort üblichen Format als 70-minütige
Vorstellung ohne Pause; für Hamburg wurde das Programm um zusätzliche
Varieté-Acts ergänzt und auf etwa 85 Minuten ausgebaut, nun mit einer
Pause. Dennoch wird vielleicht enttäuscht werden, wer in erster Linie eine dichte
Abfolge akrobatischer Nummern erleben möchte, die durch eine Art
musikalische Conférence in einen Zusammenhang gestellt werden.
Nostalgisches Flair im Hansa-Varieté
„Velvet“ bleibt dem Grunde nach auch in Deutschland eine Gesangs- und
Tanzshow, die durch Varieté-Elemente ergänzt wird. Wer sich darauf
unbefangen einlässt, erlebt einen begeisternden, mitreißenden Abend –
kurzweilig, sexy und witzig. Die lose Handlung erzählt davon, wie ein
schüchterner junger Mann in der Großstadt in einen Nachtclub gerät -
angelehnt an das berühmte Studio 54 - und
dort sein wahres Ich erkennt und auslebt. Und dies im nostalgischen
Ambiente des Hansa-Theatersaals, das seit 1953 praktisch unverändert ist
und inzwischen unter Denkmalschutz steht. Zum besonderen Flair des
Raumes, in dem die Besucher hinter Tischen in ansteigenden Reihen
sitzen, gehören die Schalter an allen Plätzen, mit denen während der
Show nach Kellnerin oder Kellner gerufen kann. Der Speise- und
Getränke-Service funktioniert im Übrigen tadellos.
Mirko Köckenberger, Ingrid Arthur, Marion Crampe
„Dance, Boogie Wonderland“, schmettert Ingrid Arthur gemeinsam mit den
beiden Backgroundgirls zum Einzug der Artisten auf die Bühne, auf der
durch die Rückwände mit zahlreichen Leuchtelementen ebenso einfach wie
effektvoll Club-Atmosphäre geschaffen wird. Mirko Köckenberger eröffnet das artistische Programm. Er wechselt das Kostüm
des Nachtclub-Pagen gegen ein Disco-Outfit mit glitzernder Jacke – im
Handstand legt er die rote Hose ab, im Schulterstand zieht er
stattdessen eine graue an. Diese kleine Striptease-Einlage des
gutaussehenden Artisten heizt natürlich gleich die Stimmung an, ganz
abgesehen von seinem Können, das er bei Handständen und
Rola-Rola-Balancen auf einem Kofferstapel beweist. Neben Ingrid Arthur
gehört weiterhin auch Sänger Tom Oliver zum Ensemble. Der junge
Australier, stilvoll mit Sakko und Krawatte, interpretiert die Ballade „If
you could read my mind“ und sorgt damit für einen ruhigeren Moment.
Äußerst sinnlich und im sexy Outfit kreist die Französin Marion Crampe
beim Poledance unablässig um ihr Requisit, das Publikum geht begeistert
mit.
Maryna Sakhokiia und Chris Tees, Craig Reid
Im schnellen Wechsel folgt auf ihre Nummer die Rollschuhkür von Maryna
Sakhokiia und Chris Tees. Die Akrobatin und der frühere Eiskunstläufer
sind miteinander verheiratet und haben sich eine gemeinsame Existenz auf
Rollen aufgebaut. Dabei enthält ihre rasante Nummer durchaus auch
Tricks, die man aus den oft vergleichbaren Darbietungen des Genres so
nicht kennt. An den Hula Hoops versucht sich zunächst Mirko Köckenberger, ehe Craig
Reid als "Zuschauer" auf die Bühne kommt und ihm die Requisiten abnimmt. Aus dem scheinbar
schüchternen Nachtclub-Besucher wird schnell ein extrovertierter
Selbstdarsteller. Reid reißt sich die Alltagskleidung mit Hawaiihemd vom
Leib, hervor kommt ein hautenger Badeanzug. Dass er Rundungen und
Pölsterchen anstelle eines makellos durchtrainierten Akrobatenkörpers zu
bieten hat, macht ihm gar nichts aus. Er lässt virtuos die Reifen
kreisen und sich dabei sogar an einer Handschleife in die Höhe ziehen.
Tom Oliver, Topp Doggz mit Tänzerinnen und Ingrid
Arthur, Joannie Labelle
Die Gesangsnummer „Fantasy“ von „Earth, Wind and Fire“ mit Ingrid Arthur
und Tom Oliver leitet über zu den Topp Doggz mit ihren beeindruckenden
Breakdance-Moves. Beim Schlusstrick kreiselt einer der beiden Tänzer
sehr ausdauernd im Kopfstand und richtet sich dabei aus einer gebeugten
Position in den Stand auf.
Umgekehrt wie beim Song zuvor beginnt beim nächsten Gesangsblock Tom
Oliver und es kommt Ingrid Arthur später dazu. „Now you got the best of
me, come on and take the rest of me“, lautet der bekannte Refrain – die
Musik swingt, sie groovt, sie macht einfach Laune. Dazu gibt es
akrobatische Hebefiguren von Mirko Köckenberger und Marion Crampe.
Nach der Pause, im zweiten Teil der Show, rückt die Musik noch stärker
in den Vordergrund. Auf „Don’t leave me this way“, von Tom Oliver
interpretiert, folgen die Drumshow von DJane Joannie Labelle mit im
Dunkeln leuchtenden Becken – und schließlich erhalten die beiden „Backgrounderinnen“
Holly Sheils und
Angelique
Cassimatis
ihren großen Auftritt mit „Turn the
Beat around“. DJane Labelle gesellt sich mit einer elektronischen
Trommel dazu.
Zum Song „Super Natural“ von Ingrid Arthur und Tom Oliver zeigt das
Ensemble eine Art Modenschau mit leuchtenden Hüten. Dann doch wieder
Akrobatik: Marion Crampe kreiselt auf sinnliche Weise im Zopfhang und
zeigt dabei Figuren wie beispielsweise den Spagat. Bei den nächsten
Gesangsnummern macht Tom Oliver seine vollständige Entwicklung zum
bunten Paradiesvogel durch und performt im Glitzeroutfit mit Federschmuck am
Kragen. Die Stimmung steigt weiter bei der akrobatischen Quickchange-Nummer, die sich Mirko Köckenberger und Craig Reid gemeinsam
erarbeitet haben – ein männliches Duo hat in diesem Genre wohl absoluten
Seltenheitsfaktor. Vom Outfit à la Stuntman Evel Knievel bis zum Disco-Glitzerdress
reichen die Kostüme, dann wechseln beide im Zwei-Mann-Hoch zeitgleich
die Bekleidung zum Matrosenanzug. Schließlich erleben wir Reid im Smoking
und Köckenberger im Hochzeitskleid. Auf diese überaus witzige Einlage
folgt ein melancholischer Moment, wenn Tom Oliver sehnsuchtsvoll und
schmerzerfüllt „Staying Alive“ auf der Ukulele interpretiert, nur von
Joannie Labelle an den Trommeln
begleitet. Zum Abschluss gibt es aber selbstverständlich nochmal eine
ordentliche Packung Disco-Gassenhauer – und zunehmend hält es die
Besucher kaum noch auf den Sitzen. Sie springen auf, tanzen an ihren
Plätzen und applaudieren im Stehen. Die Stimmung im Hansa-Saal kocht.
Und aufgrund des großen Erfolges in Hamburg wurde die Spielzeit
inzwischen bis zum 16. Oktober verlängert.
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