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Lille, 8. November 2008: Zugegeben, reine Nummernprogramme können
ermüdend sein. Und zwar in erster Linie dann, wenn zu einer
ideenlosen Präsentation, die oftmals mit schlechtem Licht, Bandmusik
und tristem Ambiente einhergeht, auch noch ein schwaches Ensemble
kommt. Wenn all das aber nicht der Fall ist, also Licht, Musik und Lineup stimmig sind, kann ein Nummerprogramm richtig unterhaltsam
sein. In den meisten Fällen sogar unterhaltsamer als jede noch so
bemühte Inszenierungsorgie. Eindrucksvoller Beleg für diese These:
Die 22. Auflage der „Grande Fete Lilloise“. |
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Die
Veranstaltung ging in diesem Jahr vom 18. Oktober bis zum 16.
November im nordfranzösischen Lille in einem vom dänischen Cirkus
Arena geborgten Chapiteau über die Bühne. Ähnlich, wie zum Beispiel
beim Stuttgarter Weltweihnachtscircus (WWC), sucht man im aktuellen,
zweieinhalbstündigen Programm der Fete Lilloise vergeblich nach
Füllnummern, jeder Programmpunkt ist ein wirkliches Highlight. Im
Vergleich mit dem WWC hat Lille aber einen entscheidenden Vorteil:
Veranstalter Thierry Feery setzt auf richtigen, klassischen Circus,
so wie man sich ihn vorstellt. Das zeigt sich zum einen darin, dass
fast alle Artisten zu Livemusik der fantastischen Kapelle arbeiten.
Und zum anderen natürlich in der Auswahl der engagierten Nummern.
Oder anders ausgedrückt: In Lille gab 2008 niemand den „sterbenden
Schwan“ zu schrecklich schwermütiger Bandmusik, niemand tobte im
martialischen Militarylook über die Bühne und niemand versuchte mit
einer introvertierten Handstandnummer die Probleme der Welt
darzustellen. Im Mittelpunkt standen stattdessen ausschließlich
Artisten, die neben ihrer Leistung auch durch einen hervorragenden,
stets dem Publikum zugewandten Verkauf überzeugten. Kurz: Lille bot
knackige Circusunterhaltung, wie man sie gerne öfter sehen würde. |
Alexandrov, Kourbanov, Willer Nicolodi
Den
schwungvollen Auftakt machte die Truppe Didyck auf der
russischen Schaukel. Ihre spektakulären Sprünge von Schaukel zu
Schaukel zeigte sie heuer ganz im folkloristischen Stil – ganz
im Gegensatz zur futuristischen Aufmachung mit der sie 2005 bei
Arlette Gruss zu sehen waren. Den gleichen, folkloristischen
Stil pflegt Yuri Alexandrov, der seine Bären nicht nur Hula Hoop
tanzen, sondern auch Seilspringen lässt. Ebenfalls traditionell,
in diesem Fall nach chinesischer Art, arbeiten die fünf
charmanten Artisten aus der inneren Mongolei, die auf hohen
Einrädern eine Schalenpagode zeigen. Klassisch, klassisch lustig
ist auch der Auftritt von Bauchredner Willer Nicolodi zu nennen.
Für modernere, aber keinesfalls ansprechendere Momente im ersten
Programmteil sorgten der Großillusionist Jidins, der mehr durch
durchgestyltes Auftreten als durch spannende Tricks besticht,
und die Motorradikarier Kurbanov, die mit ihrem meines Erachtens
übertrieben rockigen Auftreten jedes Zelt zum Rasen bringen.
Tom
Dieck jr., Finale, Picasso jr.
Der zweite
Teil wiederum wurde eröffnet durch Tom Dieck jr., dessen Löwen
sich als temporeiche Springer, ausdauernde Hochsitzer und
verspielte Scheinangreifer präsentieren. Ebenfalls in hohem
Tempo zeigte Rene Casselly die dritte Tiernummer, die vier
Pferde und vier afrikanische Elefanten vereint. Keine Zeit zum
Durchatmen bleibt auch bei den beiden übrigen
Artistikdarbietungen: Dem furiosen, von Roncalli bekannten
Jongleur Picasso jr. – hier passt der Begriff Tempo-Jongleur
endlich mal – und der zu Swing-Musik lebensfroh vorgetragenen
Schleuderbrettnummer der Assadoulin als gefeierte Schlussnummer.
Einen hätte ich nun beinahe vergessen. Und auch das spricht für
die stärke des Programms, handelt es sich bei dem Vergessenen
doch um Star-Clown Fumagalli, der als August durchs Programm
führt, und mit dem unverwüstlichen Blödelklassiker „Bienchen,
Bienchen gib mir Honig“ das Publikum wie gewohnt in Lach-Ekstase
versetzt.
Das Finale gerät in meinen Augen dann etwas zu kitschig:
Ein aufblasbares, knallbuntes Karussell in Lebensgröße wird
unter die Kuppel gezogen, während unter ihm die Artisten
aufmarschieren. Dennoch gilt, wie bereits eingangs
geschrieben: „Grande Fete Lilloise“ bietet Circus, wie man
ihn gern öfter sehen würde. Für Circusfreunde kann sich
die Reise nach Lille im übrigen gleich doppelt lohnen:
Gastiert doch traditionell zur selben Zeit der Cirque
Alexandre Bouglione mit einem verstärkten Saison-Programm
im nur 100 Kilometer entfernten Brüssel und begeistert mit
einem etwas schwächeren, dafür aber ungemein stilvollen
Programm sein Publikum. |
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Text: Sven Rindfleisch;
Fotos: François Dehurtevent
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