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Paris, 10. Januar 2009: Auf den Gastspielplätzen während der
Saison ist Pinder ein sehr großer Circus. Besucht man das
Unternehmen in Paris, kann man der Werbeaussage „Geant Europeen“
– der Gigant Europas – nur bedingungslos und uneingeschränkt
zustimmen. Größe der Zeltanlagen, Menge an Fahrzeugen und Anzahl
der Raubtiere – hier wartet der Circus mit Dimensionen auf, die
andernorts in Europa nicht erreicht werden. Das jährliche
Gastspiel zur Weihnachtszeit in Paris dauert rund zwei Monate,
in dieser Saison vom 8. November bis zum 11. Januar, und sieht
etliche Tage mit drei und gar vier Vorstellungen vor. |
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In jedem Jahr
wird der Eingangsbereich des Circus anders gestaltet. Neben dem
neuen Gitterrohrbogen mit Leuchtschrift sind zwei
überdimensionale aufblasbare Figuren, Weihnachtsmann und
Elefant, platziert. Kasse, ein weiterer Frontwagen und ein alter
Direktions-Wohnwagenzug der Ära Spiessert vervollständigen das
Ensemble. Ein ebenfalls neues Entreezelt beherbergt den alten,
berühmten Bernard-LKW mit der Elektrozentrale. Vier
Verkaufswagen fanden im langgestrecken Foyerzelt unter anderem
ihren Platz. Das Sechsmasten-Chapiteau lässt sich nur mit dem
Begriff „gigantisch“ treffend beschreiben. Es bietet rund
fünftausend Besuchern in vier Logen- und einundzwanzig
Gradinreihen – teils mit Schalensitzen bestückt – Platz. Seine
Höhe ist immens, hier einen Vergleich zu einem anderen
Chapiteaus zu ziehen, ist fast nicht möglich. Aufwändig der
gesamte Aufbau – alle Zugänge unter dem Gradin und das gesamte
Foyer sind komplett mit roten Stoffbahnen und Teppichboden
ausgekleidet. Die sehr zahlreichen Fahrzeuge und die Tierschau
füllen den riesigen Platz. Zwei weitere große Pinder-Chapiteaus
ergänzen das Ensemble. In ihnen werden die Gäste der zahlreichen
Weihnachtsgalas bewirtet. Aber nicht nur das Äußere des Circus
begeistert und wird dem Slogan gerecht, auch das Programm zeigt
sich eines „europäischen Giganten“ würdig. Die Qualität der
allermeisten Darbietungen ist herausragend und deren Anzahl,
damit einhergehend die Programmdauer, weit über dem Standard
dessen, was heute üblich ist.
Als klassisches Nummernprogramm in
sehr ansprechender Präsentation geboten, lässt dieses Programm
kaum einen Wunsch offen. Mehr als zweihundertfünfzig
Scheinwerfer und Scanner illuminieren die Show perfekt, jedoch
ohne dass die Beleuchtung zum Selbstzweck mutiert. Im Verlauf
von rund drei Stunden wird ein leistungsstarkes facettenreiches
Programm ohne Längen und Pausen präsentiert. Ein einziger Wunsch
bleibt offen – diese erstklassige Vorstellung wäre wirklich
perfekt, würde sie von einem guter Livemusik begleitet. Die
geschickte Mischung der Genres, das Vorhandensein aller
Großtiere, die noch vor wenigen Jahren in einem Großcircus
selbstverständlich waren, machen dieses leistungsstarke Programm
zu einem Erlebnis. Wobei die Präsentation – die Qualität von
Licht und Ton, Komfort und sonstiger Ausstattung – absolut auf
der Höhe der Zeit angesiedelt ist. Das Gesamterlebnis „Pinder in
Paris“ zeigt, was wirklichen echten Großcircus ausmacht. Es
zeigt, dass echter guter Großcircus noch nicht vollkommen
ausgestorben ist und kann den jungen Besuchern, die die 50er und
60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts nicht erlebt haben,
recht anschaulich vermitteln, was „Großcircus“ einst ausgemacht
hat.
Frederic Edelstein
Wir hatten
Gelegenheit die Soiree an jenem Samstag zu sehen. Das Gestühl
ist fast bis zum letzten Platz besetzt, die Musik legt los, und
die Show beginnt ohne langwierige Präliminarien. Trockeneisnebel
wabert über den Manegenboden, und im gedämpften Licht füllen
zunehmend mehr Löwen/innen in den Zentralkäfig. Ein wunderbares,
heute leider viel zu selten zu sehendes, Bild. Dompteur Frederic
Edelstein kommt in den Käfig, greift ordnend ein, die Tiger
kommen dazu und dann formiert sich die große Pyramide. Im hell
aufflammenden Licht zählt der faszinierte Zuschauer siebzehn
Raubkatzen. Umfangreich ist das Repertoire spektakulärer Tricks,
die geboten werden. Sprünge und Hochsitzer wechseln mit Steigern
und Fächer – alle Tricks, die von einer „großen Gemischten“
erwartet werden dürfen, werden geboten. Frederic Edelstein lässt
die Löwen in einer Reihe abliegen und wirft sich im einem
Hechtsprung mitten unter sie – ein Trick, den der Chronist seit
den Tagen eines Pablo Noel bei Carola Williams nicht mehr sah.
Auch der Sprung einer Löwin über den niederknienden Vorführer
wird gezeigt. Abschließend präsentiert sich der Dompteur mit
einem Löwenmann auf der Spiegelkugel und lässt sich mit
donnerndem Applaus feiern.
Sophie Edelstein
mit Tänzern, Duo Jungle, Liu Xiu
Auch in
Frankreich kennt man die Castingshow „unglaubliches Talent“,
Sophie Edelstein gehörte im vergangenen Jahr der Jury an, und
zwei Sieger durften während der Weihnachtsgalas vor großem
Publikum bei Pinder auftreten. „Poete extravagant“ nennt sich
ein junger Mann der, absolut neu für Pinder, während des
Einlasses mit einem großen Ballon Animationen, ähnlich Versace
mit seinen Würfel, macht. Während des Käfigabbaus unterhält er
die Zuschauer auf originelle Art. An seiner Kopfbedeckung hat er
eine lange Schlange von Luftballons in Pferdeform befestigt.
Diese schweben apart durch die Luft, während er Runde auf Runde
über Treppen und Gänge des Gradins dreht. Duo Jungle nennt sich
die folgende Darbietung an den Strapatentüchern. In
entsprechenden Kostümen und zu den Klängen von „You'll be in my
heart“ zeigt das Artistenpaar weite kraftvolle Flüge. Nach zehn
Monaten Abstinenz ist Sophie Edelstein mit ihrer grandiosen
Magic-Show in die Manege zurückgekehrt. Mit Unterstützung von
sechs Tänzern zeigt sie eine außergewöhnliche Vielzahl
erstklassiger Tricks. Perfekte moderne Zauberrequisiten, gute
Choreographie und flotter Ablauf kennzeichnen diese
professionelle Show. Wie so oft in typischen Nummernprogrammen
sind die Kontraste zwischen den aufeinander folgenden Nummern
groß. Old Regnas, seit vielen Jahren in den Circusmanegen zu
Hause, zeigt seine wohlbekannte Hundekomödie. In der
abgelaufenen Saison musste er einige Male verletzungsbedingt
pausieren und bei genauem Hinschauen sind Probleme mit dem
rechten Knie erkennbar. Nun zeigt das zweite „unglaubliche
Talent“ selbiges. Die junge Chinesin Liu Xiu brilliert als
Schlangenmädchen. Sie zeigt sowohl Kontorsions- als auch
Klischniggtricks und fasziniert mit absolut perfektem Verkauf
und starker Trickfolge. |
Die Truppe
Formen, unter diesem Namen treten die vier russischen
Hand-auf-Hand Artisten auf, arbeitet eine ähnliche Trickfolge
wie zum Beispiel die Truppen Atlantis oder Waterworld. Treten
aber im Gegensatz zu diesen eher introvertiert wirkenden Truppen
als coole Machos auf. Zu Joe Cockers „You can leave your hat on“
werfen sie zunächst ihre weißen Oberhemden ab, um dann ganz
schlicht schwarz gekleidet die Muskeln spielen zu lassen. Als
Pausennummer, dies ist bei Pinder jahrzehntelang gehütete
Tradition, das Flugtrapez. Der Aufbau des Sicherheitsnetzes
verdeutlicht nochmals die Dimensionen des Chapiteaus. Annähernd
fünf Meter über der Manege befindet sich das Netz, und der
Trapezapparat hängt etwa in der Höhe, in der in einem „normalen“
Chapiteau der höchste Punkt der Kuppel zu finden ist. Hier sind
über dem Luftapparat noch einige Meter Platz. Die „Flying
Mendoza“ zeigen eine Anzahl, darunter auch „Dreifacher“ und
Passage, gängiger Tricks des Genres, die allesamt sicher im
ersten Versuch gefangen werden.
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Truppe Formen |
Der zweite
Programmteil startet, fast schon revolutionär für ein
Pinder-Programm, mit ein wenig Inszenierung. Mit sternförmigen
Ballons bildet der „Poete extravagante“ einen hohen Bogen am
Manegeneingang, die Bola-Artisten trommeln kurz, leiten so den
Exotenzug, den Sacha Houcke vorführt, ein. Zuerst zeigen sechs
Kamele eine kurze Laufarbeit. Anschließend sind je drei Kamele,
Norwegerpferde und Lamas gemeinsam in der Manege zu sehen.
Abschließend ein großes Karussell. Die Kamele liegen ab, ein
Zebra in der Manegenmitte und drei Esel zwischen den Kamelen
stehen auf ihren Tonneaus. Die Lamas laufen auf der Außenbahn
die Kamele überspringend, während die Pferde auf dem inneren
Ring gegenläufig unterwegs sind. Dieses anspruchsvolle Bild wird
vom sehr ruhig und mit viel Übersicht arbeitenden Dresseur
perfekt und ohne erkennbare Hilfe von weiteren Bereitern
vorgeführt.
Norma und Daniel, Truppe Zhuk
Argentinische
Folklore mit der Bola zeigen uns Norma und Daniel. Ihre
Performance folgt den gewohnten Abläufen des Genres. Am
Quadratreck sehen wir die Artisten der Truppe Zhuk. Starke
Tricks vier starker Männer, die aber – wie fast alle
Reckartisten – ihre Herkunft vom Turnsport nicht ganz verbergen
können. Hatten wir bis hierhin ein hervorragendes Programm mit
teils großartigen Leistungen gesehen, offenbarte sich nun, dass
Pinder bei der Verpflichtung der Clowns bedauerlicherweise
keinen Glücksgriff tat. Die drei Herren von der iberischen
Halbinsel tragen einen großen Namen – Rudy Llata. Der Weißclown
zeichnet sich durch sehr aufwendige, geschmackvolle Kostüme aus,
ganz im Gegensatz zu beiden Augusten. Wirklich sehr speziell
sind ihre Gesichter mit großem, schwarz geschminkten Mund. Nun
möchte der geneigte Leser wissen, welches Entree gegeben wurde?
Nun – eine gute Frage, die Herren sind laut, kreischend, blödeln
ein wenig herum und greifen, sehr zu unserer Erleichterung, bei
Zeiten wieder zu ihren Instrumenten – ihre finale Musikeinlage
ist schwungvoll und überzeugend. Die beiden Elefantendamen des
Circus Pinder hören auf die Kommandos von Sacha Houcke. Er hat
vor einiger Zeit ihr Training übernommen, und inzwischen zeigen
sie wieder das komplette Repertoire einer Elefantendressur.
Alona Jouravel,
Finale, Navas
Eine
faszinierende Arbeit hat die sehr junge Equilibristin Alona Jouravel
einstudiert. Auf, in, an, um ein spezielles, einzigartiges Requisit
zeigt sie ihre Handstände. Zwei Kuben aus Vierkantrohr stecken, mit
Achsstummeln verbunden, ineinander. Der innere Kubus ist drehbar. So
verändert das Requisit ständig seine Form und erlaubt der Artistin
vielfältige Bewegungsabläufe. Ein echtes Highlight sind die Navas auf
dem Todesrad. Super cool und sich ihrer Wirkung auf das Publikum voll
bewusst, arbeiten die beiden Brüder viele der gängigen Tricks.
Inzwischen gehören auch Salti auf der Außenbahn des Rades zu ihrem
Repertoire. Beeindruckend die hohen Sprüngen zum Abschluss außen auf
einem Kessel des schnell rotierenden Geräts, zu denen der Artist
kräftig abspringt. Auch wenn Weihnachten bereits zweieinhalb Wochen
vorbei ist, die aufblasbare Weihnachtsmannfigur muss zum Finale
herhalten, und „Petit Papa Noel“ schallt es aus den Boxen. Das Finale
bei Pinder ist stets kurz und knapp. Sprechstallmeister Frederic
Colnot, er ist während der gesamten Show ein eloquenter Ringmaster,
stellt die Artisten vor. |
Ein wenig Feuerwerk, ein kurzer kollektiver Tanz, und die Show
ist aus. Ein umfangreiches ausuferndes Finale ist nicht von
Nöten. Es muss nicht künstlich „Zeit gemacht“ und dem Besucher
suggeriert werden, man habe eine große Show geboten. Dieses
Programm hat Substanz, bietet guten echten Circus und wird von
einem mehr als zufriedenen Publikum mit reichlich Applaus
honoriert. |
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Text und Fotos: Friedrich Klawiter
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