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Cirque Pinder - Paris 2009
www.cirquepinder.com

Paris, 4. Dezember 2009: Ein ganz großes Circusprogramm verdient auch einen ganz großen Rahmen. Bei unserem Besuch eines  Kurzgastspiels im Sommer wurde das starke Pinder-Programm gerade nicht in diesem großen Rahmen präsentiert, wurde der Gesamteindruck doch sehr von der schmucklosen Atmosphäre im Zelt und den starken Qualitätsschwankungen bei der musikalischen Untermalung getrübt. Ganz anders in Paris. Hier steht das Unternehmen gut zwei Monate lang. Hier präsentiert sich Pinder in Glanz und Gloria, hier korrespondieren Inhalt und Verpackung. Hier bietet Pinder ein wirklich großes Circus-Erlebnis.

Schon der Anblick der Pelouse de Reuilly, eines gewaltigen Kirmesplatzes im Pariser Osten, bietet in den ersten Dezembertagen einen unvergleichlichen Anblick: links, an der Längsseite des Platzes, steht Pinder – hinten quer der riesenhafte Agenturcircus Phénix – rechts in der Mitte Arlette Gruss. Ein „Circus-Festival“, das wohl weltweit seinesgleichen sucht.


Gigantisches "Circus-Festival": links Pinder, mittig Phénix, rechts Arlette Gruss

Nur in Paris nutzt Pinder sein gewaltiges Sechs-Mast-Chapiteau mit reichlich 5000 Plätzen, dahinter stehen zwei weitere Viermastzelte, in denen große Gruppen von Betriebsfest-Buchungen verköstigt werden. Die französische Tradition, die Firmenweihnachtsfeier mit dem Besuch einer (Circus-)Veranstaltung zu verbinden, ist der Grund für das überreiche circensische Angebot im weihnachtlichen Paris. Aufwendig gestaltet schon Pinders Eingangsbereich mit den jeweils hell erleuchteten Front- und Kassenwagen, großem Gitterbogen mit Leuchtschrift, riesigen Figuren von Weihnachtsmann, Elefant und Drache. Im ersten Vorzelt sind historische Pinder-Fahrzeuge ausgestellt, im zweiten finden wir die Restauration in der Art eines Weihnachtsmarktes. Pompös dann der Anblick des Chapiteau-Inneren: mit einem edlen, samtroten Artisteingang, Teppichboden überall, einer gewaltigen Lichtanlage.


Luftnummer, Schleuderbrett, Illusionsshow, Lassonummer

Neu für Paris sind drei Truppennummern aus China: eine große Luftnummer mit drei stehenden Fängern hintereinander und einem vierten Fänger an einer drehbaren Schaukel in der Mitte. Die Fliegerinnen und Flieger zeigen ein breites Repertoire bis hin zum traumhaft sicheren „Dreifachen“. Im Trend liegen die Lassonummern aus China – hier erleben wir abermals eine neue Variante mit vielen Salti im Techno-Rhythmus. Eher unter den Erwartungen bleibt dann jedoch die Schleuderbrettnummer vor dem Finale. Zwar wird das gängige Repertoire bis zum Vier-Mann-Hoch und Flug zum Sessel auf einer Perchestange geboten, doch wirken die Sprünge merkwürdig plump. Perfekt ist Sophie Edelsteins Großillusionsshow mit spektakulärem Tricks und toller Präsentation mit fünf knackig-durchtrainierten Tänzern.


Sacha Houcke, Martis Brothers, Gaby Dew

Aus dem Saisonprogramm des Circus Pinder wurden sämtliche Darbietungen übernommen, die im vergangenen Winter noch nicht in Paris zu sehen waren: die ungewöhnlich kraftvolle und zugleich erotische Luftring-Arbeit von Akaena, die verführerische Romina Michellety mit ihren Hula-Hoop-Reifen und Kontorsionselementen, ihr Partner Francois Bori mit seiner famosen Keulenjonglage und die Musikalclowns Harizanov. Die kubanische Truppe Havanna zeigt hier nur die lebensfrohe, starke Arbeit auf dem russischen Barren, nicht aber das Seilspringen. Als Abräumer erwiesen sich die Hand-auf-Hand-Akrobaten Martis Brothers. Nun gehört diese Darbietung sicher nicht zu den stärksten des Genres, doch mit ihrem Verkauf des Stuhltricks – erst geplantes Scheitern, dann Gelingen – rockten die beiden Italiener in der besuchten Vorstellung in eleganten weißen Kostümen das Zelt, brachten das Publikum zum Toben. Es sind gerade die Tiernummern, welche zum besonderen Glanz dieses Programms beitragen: Durch Tier-Masse (neun Löwinnen, drei Löwen, vier Tiger – 16 Tiere!) und Trick-Klasse (Fächer, Hechtsprung auf abliegende Löwen u.v.m.) zeichnet sich die Raubtiernummer von Frederic Edelstein aus. Phänomenal die trick- und temporeiche Arbeit der beiden Elefantendamen, die von Sacha Houcke in wahrer Meisterschaft fast beiläufig vorgeführt werden. Mit ebensolcher Nonchalance präsentiert Gaby Dew ihre hochklassige Freiheit mit acht braunen und weißen Pferden. Umgestellt hat Sacha Houcke den Exotenzug: An die variantenreiche Laufarbeit von sechs Kamelen, die noch nicht ganz perfekt läuft, schließt sich hier die großartige Karussell-Szene mit Kamelen, Eseln, Zebras, Lamas und Fjordpferden an. - Perfekt ist das Pinder-Spektakel jedoch nicht: Dazu fehlt zum einen das Orchester, zum anderen könnten die Umbaupausen noch gestrafft werden. Ein wenig disziplinlos bis ungeplant wirkt leider das Finale. Schade, denn trotz heftigen Beifalls für Einzeldarbietungen während der Vorstellung bleibt folglich der Schlussapplaus fast aus. Jammerschade.

Pferde, Elefanten, Raubtiere, Exoten. Große Luftnummer, Schleuderbrett, russischer Barren. Die Illusionsshow in großer Aufmachung. Die weitere Genre-Vielfalt mit Jonglage, Hula Hoop, Luftring, Lassonummer, Hand auf Hand. Echte Musikalclowns. Die Zusammenstellung des Programms, selbst die Abfolge der Darbietungen, bietet ein absolut lupenreines, unverfälschtes Musterbeispiel dessen, was wir unter „klassischem Großcircus“ verstehen. Eine solch fast strenge Einhaltung der traditionellen Form ist heute kaum noch zu finden – gleichzeitig sind Licht- und Tonqualität sowie Atmosphäre auf dem Stand von heute.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Erber